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© picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopres

Die Motoren sozialer Netzwerke Dopamin und Manipulation

Am 8. Januar 2021, dem Tag, als Twitter den Account @realDonaldTrump unwiderruflich suspendierte, setzten die Nutzer dieses sozialen Netzwerks etwa 500 Millionen Tweets ab. Als der Kurznachrichtendienst im März 2006 gegründet wurde, waren es gerade einmal 5.000 am Tag. Wie stark sich die Rolle von Twitter innerhalb der weltweiten Kommunikationsökologie in rund 15 Jahren gewandelt hat, zeigt aber nicht nur dieses Wachstum, sondern auch die Fähigkeit des Technologieunternehmens, die rhetorische Reichweite selbst des amerikanischen Präsidenten per Knopfdruck – vermutlich für viele wohltuend – massiv einzuschränken.

Doch ich möchte in diesem Beitrag nicht auf die ethischen und demokratietheoretischen Implikationen von Zensur und Meinungsfreiheit im Netz eingehen. Eine mindestens ebenso drängende Fragestellung betrifft den Umgang mit sozialen Medien als Teil menschlichen Verhaltens: Wie verschieben soziale Medien mit ihren kapitalistischen Interessen durch datenbasierte Manipulation unsere Fähigkeit zu fühlen, zu urteilen und wahrzunehmen? Wie beuten soziale Technologien menschliche Grundbedürfnisse, etwa Anerkennung und Glück, aus, um unser individuelles Verhalten in eine für Werbekunden (oder Propagandisten) gewünschte Richtung zu lenken? Dies ist keine ausschließlich politische Frage, sondern, wie die Frage nach der gesunden Ernährung, eine nach dem Einfluss auf unsere biologische und psychologische Konstitution.

Unabweisbar ist, dass die nachhaltige Regulierung von Big Data und sozialen Medien im 21. Jahrhundert eine ähnliche Wichtigkeit besitzt wie die soziale Frage am Ende des 19. Jahrhunderts. Von ihrem Ergebnis hängt ab, ob und wie die unfreiwilligen oder unreflektierten Datenarbeiter von heute an einer Ökonomie partizipieren, für die sie nicht programmieren oder Marketingkampagnen organisieren, sondern Posts und Tweets, Snaps und TikToks, Instas, Whatsapp- oder Gmail-Nachrichten verfassen, oder ob die User als ausgebeutete Datenlieferanten zurückbleiben bzw. als gläserne Konsumenten weiter ausgebeutet werden, obwohl sie es sind, die mit ihren Aktivitäten in sozialen Netzwerken die eigentliche Arbeit leisten, die diese Unternehmen so profitabel machen?

Die Innovatoren der Tech-Schmieden im Silicon Valley, oder ihre weltweiten Epigonen wie der VK- und Telegram-Gründer Pavel Durov oder die Chinesen Jack Ma (Alibaba) und Wang Xing (Netzwerk Xiaonei, später Renren), waren sämtlich jung, männlich und kamen aus Dominanzkulturen in ihren Ländern. Die Netflix-Doku The Social Dilemma von Tristan Harris erzählt von einer Handvoll 25–30-jähriger weißer Jungs aus Kalifornien, die auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen, Präferenzen und Vorurteile die Parameter festlegten, auf deren Grundlage heute etwa zwei Milliarden Menschen rund um die Erde digital interagieren können. Wer sind diese jungen Männer, die diese Spielregeln festlegten? Stets bereit, etablierte Verfahrensweisen aufzubrechen, wirken sie wie leidenschaftliche Erfinder, die cool herumspielen und nicht wie profitgierige Entwickler von Dienstleistungen. So sehr der transformative Charakter von Unternehmen wie Facebook, Twitter, Apple, Amazon oder Google auch offenbar sein mag, so verstört uns heute, 20 Jahre nach dem Platzen der ersten Big-Tech-Blase die Gleichgültigkeit bzw. die Genugtuung, mit der sie auf die von ihnen verdrängte soziale und unternehmerische Welt herabblicken bzw. die gelassene Arroganz, mit der sie (oder ihre Anwälte) bei Anhörungen vor unterschiedlichen Ausschüssen und Parlamenten erscheinen. Doch formt sich aus ihren Reihen auch die erste Phalanx der Kritik und der Korrektur.

Was war das Bahnbrechende der Idee dieser jungen Männer, da doch das Internet längst erfunden war? War es, dass sie einen Weg beschritten, der das Internet der 90er-Jahre von einer virtuellen Sonderwelt zum tragbaren Dreh- und Angelpunkt transformierte, an dem sich fortan menschliches Verhalten ausrichten würde? Oder war es letztlich doch nur eine Innovation der Profitabilität? Die erste fundamentale Veränderung vollzog sich also, als das Internet zunächst immer mehr Aspekte des Lebens zu absorbieren lernte und diese Datenströme dann dauerhaft und schnell auswertbar gespeichert werden konnten.

Was aber sollte dazu motivieren, ständig Videos zu produzieren, um sie online zu teilen? Warum sollte man ständig Bilder oder geteilte Inhalte eines anderen Menschen durch »Likes« bewerten? Die Netzwerke entwickelten nicht nur Features, um ihre Nutzer bei der Stange zu halten, immer mehr Zeit online zu verbringen und immer mehr digitale Inhalte zu konsumieren, wofür sie das Wort engagement, also Nutzer-Bindung, verwendeten; vielmehr bauten sie ihre Netzwerkdienste auf menschlichen Grundbedürfnissen wie Anerkennung und Glück auf, aber sie triggerten Interaktionen in den Netzwerken auch, indem sie Gefühle wie Wut und Neid ausbeuteten. Facebook, Twitter oder Instagram entlohnen ihre Datenlieferanten nicht pekuniär, sie tauschen die Posts, Bilder, Videos oder auch Interaktionen der Nutzer gegen soziale Anerkennung bzw. indem sie soziale Anerkennung per Algorithmus verweigern.

Ökonomie der Aufmerksamkeit oder Aufmerksamkeitskasino?

Was soziale Medien technisch ausmacht, existierte in Elementen schon im »alten« Internet: Man konnte Nachrichten senden, Microblogs betreiben, Aktualisierungen abonnieren, Videos und Musik posten bzw. herunterladen. Die Innovation der sozialen Medien bestand darin, Features zu entwickeln und zu harmonisieren, die eine psychologische und habituelle Bindung der Nutzer an das Netzwerk erzeugte. Im Zusammenspiel von psychologischen Verstärkern konditioniert etwa die Facebook-App die User zu ständigen Rückkehrern. Dies wird graduell zur Abhängigkeit gesteigert. Internetsucht ist also kein unangenehmer Begleitumstand, sondern integraler Bestandteil. Ein personengenauer Zuschnitt des Erfahrungsraums eines sozialen Netzwerks ermöglicht die umfassende Verknüpfung von individuellen Nutzerdaten und ihre Korrelation mit ähnlichen Persönlichkeitsprofilen, die aus Millionen von Nutzeraktivitäten zusammengetragen worden sind: Eine graduelle Verhaltensänderung von Individuen und Gesellschaften geschieht daher nicht aufgrund einer drakonischen Disziplinierung, sondern aufgrund eines Wissensvorsprungs. Dies machte für viele das Smartphone unwiderstehlicher als die realen Menschen im Umfeld, denn das Smartphone ist jenes Objekt, das wir abends zuletzt berühren und am Morgen zuerst aufsuchen, noch bevor wir nach unseren Nächsten tasten.

Ein weiteres Element, das die Bindung an das soziale Netzwerk sicherstellt, operiert auf Basis der Ausbeutung menschlicher Neugierde. Alle Timelines oder Newsfeeds zeigen den Nutzern, sooft sie den Bildschirm durch Wischen oder Scrollen verändern, einen aufgrund gesammelter und aus anderen Diensten zusammengeführten Daten errechneten und optimierten Inhalt. Die so potenziell ins Endlose fortsetzbare Tätigkeit des Scrollens wird zur Dopamin-Falle, die wie Kokain wirkt, sodass nicht nur scheinbar optimale Inhalte, sondern auch jeweils entsprechende Werbeinhalte eingestreut werden können. Die physische Bewegung des Scrollens und Wischens ist der Ästhetik und Wahrnehmung von Glücksspielautomaten nachempfunden. Kein Zufall also, bemerkt Natasha Dow Schüll in ihrem Buch Addiction by Design, dass die Entwickler von Software für Glücksspielautomaten oder Online-Spielautomaten regelmäßig Twitter oder Facebook verklagten, da sie von ihnen entwickelte Elemente in deren Design aufspürten.

Dass die Sucht Nutzer auch anfälliger für Depressionen und Angststörungen macht, ist, wie Suchtexperten wie Mark Griffiths oder der Internet-Aktivist Tristan Harris anmerken, ebenfalls kaum ein Kollateral-, sondern ein per Design gewünschter Effekt, da depressive und ängstliche Subjekte sich leichter beeinflussen und damit als Konsumenten (oder politische Akteure) kostengünstiger manipulieren lassen.

In den früheren Theorien sozialer Medien, wie etwa Georg Francks Ökonomie der Aufmerksamkeit (1998), die auf Vorträgen von Michael Goldhaber basieren, dominiert noch eine Art darwinistische Naivität, nach der die attraktivsten Inhalte den stärksten Zuspruch und so den höchsten Wert innerhalb dieser Aufmerksamkeitsökonomie erreichen. Dieses Phänomen war übrigens auch schon Medienphilosophen wie George Seldes (1890–1995) bezogen auf traditionelle Medien bekannt. Dieser Umstand trägt dazu bei, dass die Algorithmen der sozialen Netzwerke nicht das Beste, sondern das Schlechteste, vielleicht auch Dümmste im menschlichen Verhalten verstärken, weil es faszinierender ist als das Artige und Gesittete.

Der Begriff »Ökonomie der Aufmerksamkeit« allerdings scheint irreführend, da er Rationalität vorgaukelt, wo per Design Irrationalität programmiert worden ist. Wird doch die Neugierde von Nutzern nicht nur durch möglichst Interessantes aufrechterhalten und gebunden, sondern auch durch das Zufalls- und Überraschungsprinzip, wie es für Glücksspielautomaten typisch ist. Würde der Algorithmus immer den errechneten und optimalen Content für das jeweilige Persönlichkeitsprofil zeigen, so empfänden die Gehirne der Nutzer das als langweilig. Warum?

Jaron Lanier erklärt das mit Rückgriff auf die Evolution des menschlichen Gehirns. Dieses ist auf eine besondere Weise fähig, sich auf neue Umstände einzustellen. Durchschauten die Gehirne der Nutzer diese vorhersehbare Logik halb- oder unbewusst, so verlöre die »kuratierende« Kraft des Algorithmus schnell ihre hypnotisierende Wirkung. Daher werden per Design Zufalls- und Überraschungsmomente in den Algorithmus integriert. Das Gehirn – egal wie stark es versucht, nachzuvollziehen, was mit ihm geschieht – kann sich also nie ganz anpassen. Die Sinnsuche des Gehirns wird überlistet. Beim Scrollen im Feed sucht also das Gehirn nach einem Sinn, nach einer Rationalität der präsentierten Welt, die dort absichtlich unterbunden und entstellt ist. In Zehn Gründe, warum Du Deine Social Media Accounts sofort löschen musst erklärt Lanier auch, dass die ständige Erfahrung der Nutzer von sozialen Medien, permanent und suchtbedingt in einem halb nachvollziehbaren, halb überraschenden Umfeld zu sein, nach und nach eine unterbewusste Paranoia erzeugt und bei Intensivnutzern von sozialen Medien zum Realitäts- und Vertrauensverlust führt.

Die Dokumentation The Social Dilemma (2020, Das Dilemma mit den sozialen Medien) greift in populär verständlicher Weise, ohne dystopisch und technophob wirkende Kassandrarufe die Dringlichkeit des Themas auf. Gelingt es nicht, das Wettrennen um das Stammhirn beizulegen, könnte dies zur Vernichtung aller auf Basis der Aufklärung und demokratischen Verfasstheit ermöglichten Zivilisationen, samt ihrer individualistischen Freiheits- und Selbstbestimmungsvorstellungen führen. Was übrig bliebe, wären oligarchisch regierte Technokratien, die, wie Russland, mit kleptokratischem Staatskapitalismus ein starkes Gefälle zwischen Arm und Reich etablieren. China beispielsweise erlaubt nur staatlich einsehbare und vom Staat kontrollierte soziale Netzwerke.

Seit 2009 bringen zahlreiche psychologische Studien die weltweit erhöhte Suizidgefahr, Depression und Aggressivität eindeutig mit dem Internetkonsum in Verbindung. Netflix veröffentlichte Tristan Harris’ Doku im September 2020 zeitgleich in 38 Sprachen. Diese wurde international höchst einflussreich. Begriffe wie Überwachungskapitalismus (surveillance capitalism) oder snapchat dysmorphia (was meint, dass Menschen Filter einsetzen, um ihre Selfies nach dem Diktat von Schönheitsidealen auszurichten),sind bei Gesellschaftskritikern inzwischen zu feststehenden Formeln geworden.

Während 2015 politische Parteien ihre digitale Agenda meist nur im Netzausbau und technischer Kompetenzsteigerung verorteten, gibt es 2021 keine ernstzunehmende politische Kraft mehr, die die Regulierung des Internets und der digitalen Lebenswelt lediglich als Innovationsbremse begreift. Inzwischen wächst eine Generation heran, die nicht mehr euphemistisch als digital natives bezeichnet wird, sondern die eine ausbeutende und ausbrennende Vereinnahmung durch digitale Machtverhältnisse thematisiert. Allmählich wird klar, dass wir aus dem Informationszeitalter direkt ins Zeitalter der Desinformation übergegangen sind.

Etwas pikiert auf Facebook und Co zu zeigen und sich zu fragen, warum die ganze Welt plötzlich wie verhext ist, scheint dennoch etwas selbstgefällig, wenn nicht gar nihilistisch. Die Gründe für die Polarisierung sind ja in den Funktionsweisen und Geschäftsmodellen deutlich benannt, diese zu verändern, erfordert wirkungsvolle Regulierung – nicht noch mehr »Content Moderatoren«.

Das Geschäftsmodell von Technologiekonzernen in heutiger Ausprägung basiert auf Werbeeinnahmen. Das heißt, so Jaron Lanier, Tristan Harris und viele andere Ökonomen, Informatiker oder Ethiker, dass man bei der Regulierung nicht den Ball an diese Konzerne zurückspielen sollte. Sie hatten ja die Probleme nicht allein verursacht, sondern die Technologien, die heute möglich sind. Daher können sie auch nur Teil der Lösung sein. Die Regulierung müsse direkt auf das Geschäftsmodell abzielen. Anstatt naiv Internetkonzerne zur »Überwachung« und »Moderation« von einzelnen Hate-Posts zu verdonnern, sollte man den Datenstrom besteuern, den die Internetkonzerne erzeugen. Wie Unternehmen bei ihrer Fertigung eine Steuer auf Wasser und Abwasser zahlen, müssten Datenströme nachhaltig besteuert werden, sodass die kollektive (bisher unbezahlte und ausgebeutete) Arbeitskraft der manipulierten Nutzer dem Gemeinwohl in Form von Steuern zufließen kann. Diese Einnahmen können dann wiederum eingesetzt werden, um sekundären Erscheinungen wie Desinformation, Hate-Speech, Magersucht oder die Schwächung des Journalismus und des lokalen Einzelhandels entgegenzuwirken.

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