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Drei Landtagswahlen: ein Vorspiel, keine Vorentscheidung für den Bund

Vier Monate sind eine sehr lange Zeit, besonders in einem Wahljahr, wo Stimmungen oft drastisch wechseln und sich ein Drittel der Wähler erst in den allerletzten Tagen vor dem Urnengang festlegt, wo sie ihr Kreuz machen wollen. So lange ist es noch bis zur Bundestagswahl. Wo so kurzfristig entschieden wird wie bei Wahlen hierzulande, spielen bei sehr vielen Wählern letzte Eindrücke oder der abschließende Ruck nach langem Zweifel die Hauptrolle. Wer glaubt, die Momentaufnahmen der Landtagswahlen vom Frühjahr 2017 seien das vorweggenommene Ergebnis der Bundestagswahl vom Herbst, könnte sich gewaltig irren. Das Erschrecken der SPD in den Ländern, vor allem jüngst in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, wo ihr wider Erwarten so viele Wähler, die sie hinter sich wähnte, im letzten Moment eine eiskalte Dusche verpassten, wird der Partei und ihrer Wahlkampfführung vermutlich die Augen weit genug öffnen, um ein paar entscheidende Weichen zügig umzustellen. Im Übrigen kann man aus den jüngsten Landtagswahlen vor allem aber auch die Lehre ziehen, dass es ein Irrtum wäre zu glauben, die meisten Wähler könnten zwischen Landtags- und Bundestagswahlen nicht unterscheiden.

Zur Lage. Die Hauptergebnisse der drei Landtagswahlen dieses Jahres sehen zwar an der Oberfläche aus wie eine Serie von Niederlagen zu Lasten von Martin Schulz, sie hatten aber nur eine einzige Gemeinsamkeit und waren im Kern jeweils ein Fall für sich. Die Gemeinsamkeit war, dass der Kanzlerkandidat der SPD, Martin Schulz, in keiner von ihnen persönlich oder thematisch die Hauptrolle oder auch nur eine deutliche Nebenrolle gespielt hat. Im Gegenteil, er war überall auffällig abwesend – nur in den Massenmedien nicht, die aus den Landtagswahlen ein Tribunal gegen den ausufernden Schulz-Hype der ersten Wochen machen wollten. Diese erstaunliche Zurückhaltung des Kandidaten erwies sich als ein Fehler, zumal sie mit dem Verzicht auf ein Mindestmaß an Konkretisierung seines Gerechtigkeitskonzepts verbunden war, das ja unweigerlich gravierende Bedeutung für das Leben der Menschen in den Bundesländern haben wird. Er hatte sich aber dennoch – teils auf dringliche Bitten der für den SPD-Wahlkampf verantwortlichen Politiker in den betreffenden Ländern – zur Zurückhaltung entschieden. Da er dann nirgends auf der Bühne mitgespielt hat, macht es wenig Sinn, diese Wahlen nun als ein Urteil über den Kanzlerkandidaten und sein Programm hinzustellen. So klar liegen die Dinge selten: Es waren, was Schulz und seine Partei betrifft, tatsächlich Landtagswahlen und keine Probeabstimmungen für die kommende Bundestagswahl.

Bei allen drei Landtagswahlen dieses Jahres gaben markant landesspezifische Ursachen den Ausschlag. Im Fall von Annegret Kramp-Karrenbauer im Saarland dürften die anerkannte Bilanz der großen Koalition, das bescheiden sympathisch, aber zielstrebig wirkende Auftreten der Regierungschefin und der für die SPD stets fatale Effekt, dass jene immer den ganzen Amtsbonus für die doch gemeinsam geleistete Arbeit kassiert, den Ausschlag für den CDU-Wahlsieg gegeben haben. In Schleswig-Holstein hingegen hat der Amtsinhaber in einem grotesken Akt der persönlichen Selbstdemontage dafür gesorgt, dass der mögliche Amtsbonus über Nacht zum vernichtenden Malus wurde. Und in Nordrhein-Westfalen schließlich ist es der Amtsinhaberin auch nach der Einschätzung wohlwollender Beobachter nicht gelungen, die Kritik der Konkurrenten an ihrer schwierigen Regierungsbilanz in so existenziellen Fragen wie der Sicherheitslage (vor allem beim Thema Wohnungseinbrüche), Schule und Verkehr (Stichwort: allgegenwärtige Staus) präzise, geduldig und offensiv zu entkräften. Vielleicht schien da der Sieg zu sicher, beflügelt durch eine lange Phase beruhigender Umfragen. Martin Schulz hat bei alledem keine Rolle gespielt.

Oder doch? In gewisser Weise schon, denn bei den deutschen Landtagswahlen gibt, auch wenn Bundesthemen selbst kein Gewicht haben, etwas günstiger Rückenwind aus der Hauptstadt immer zusätzlichen Auftrieb – und an dem hat es diesmal, weil Martin Schulz kein öffentliches Amt innehat, eben gefehlt. Die unverhoffte Schulz-Euphorie der Anfangswochen war zu aufgeputscht, und sie lebte von der andauernden Sichtbarkeit ihres Helden. Kein Zweifel, sie hätte sich in ihrer ursprünglichen Tonhöhe (noch ohne Programm und handfestes sachliches Unterfutter) ohnehin bald auf Normalmaß abgesenkt. Die persönliche Ausstrahlung des Kandidaten allein, schon bevor er seine frohe Botschaft einer gerechteren Gesellschaft mit handfesten Projekten und begeisternden Zielen fundieren konnte, hätte den Höhenflug auf Dauer nicht getragen. Der Rückgang seiner Umfragewerte nun auf eine Marke, die immerhin noch deutlich über jener liegt, die seine Partei in den Jahren vor ihm erreicht hatte, kann daher nicht verwundern. Mit dem seltsamerweise erst unmittelbar nach der NRW-Wahl jetzt endlich veröffentlichten Entwurf für das Wahlprogramm kann sich, auf besser abgesichertem Boden, das Blatt nun allmählich wieder wenden. Denn dieser Entwurf löst weitgehend ein, was die Auftaktmelodie von der großen Gerechtigkeit für die Republik am Anfang lediglich versprach. Wenn nun, in den vier langen Monaten bis zur Bundestagswahl, die verlässliche Anwesenheit des Kandidaten in der Öffentlichkeit – auf den großen Bühnen und vor Ort – mit der schrittweisen Präsentation handfester Bausteine für die gerechtere Gesellschaft zusammenfällt, erst dann nimmt der eigentliche Wahlkampf Fahrt auf, an dessen Ende dann abgerechnet wird.

Auf die von Massenmedien und Umfrageinstituten in kurzen Abständen wie bei einem Pferderennen dramatisierend verkündeten Zwischenstände sollten weder der Kandidat noch seine Partei viel geben. Die Institute rechnen ihr stets tagesbedingt fragwürdiges Rohmaterial mit Formeln hoch, die aus vergangenen Erfahrungen stammen und angesichts des großen Drittels, das sich bis in die letzten Tage hinein nicht entscheiden kann, oft eher einer Wette ähneln als einer seriösen Prognose. Die Medien spielen dabei gerne mit, da auch sie vom großen Spektakel des unerwarteten Auf und Ab gut profitieren.

Was auch immer an zusätzlicher Profilierung und Veränderung in Einzelfragen aus der nun einsetzenden SPD-Debatte über den vorgelegten Entwurf für ein Wahlprogramm noch hervorgehen mag, er hat das Zeug dazu, das Initialversprechen von Martin Schulz glaubwürdig einzulösen. Das gilt sowohl für die Werthaltigkeit wie für die Machbarkeit der Vorschläge. Sie reichen nach altem sozialdemokratischen Rezept »von der Wiege bis zur Bahre«, oder: von der Familienpolitik, über den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen und Kitas (ohne Gebühren) bis zur Sicherung von Pflege und dem Niveau armutsfester Altersrenten. Korrekturen an einer der Hauptschwachstellen der Agenda 2010 durch das neue Arbeitslosengeld Q und ein integrales Verständnis von Sicherheit gehören zu den Kernstücken. Gerechtigkeit sieht das Programm nicht als zweitrangige Zugabe zum Wohlstand als eigentlichem Wert, sondern als die zentrale Voraussetzung für fast alles andere, das die Gesellschaft voran bringt: Zusammenhalt, Wohlstand, Sicherheit und Innovation. Wenn es Martin Schulz gelingt, diesen Zusammenhang gegen alle politischen Konkurrenten, die das anders sehen, bildhaft und eindrücklich verständlich zu machen, könnten seine Chancen wachsen, je länger der Wahlkampf dauert. Die noch ausstehenden Konkretisierungen in den Bereichen der Bildungs- und Steuerpolitik dürften dabei helfen.

Ein gutes Stück Überzeugungsarbeit muss er dann auch noch auf seinem alten Stammgebiet, der Europapolitik leisten. Wolfgang Schäubles »nekrophile Fixierung auf die schwarze Null« (so Gesine Schwan) als Angelpunkt von dessen ganzer Europolitik ist ja bei Lichte betrachtet keineswegs im Interesse Deutschlands. Im Gegenteil, da sie den Zusammenhalt der Union offenkundig schwächt und sogar gefährdet, von dem auch Deutschlands wirtschaftliches und soziales Wohlergehen entscheidend abhängt, bedroht sie mit der Solidarität in Europa auch die Zukunft des eigenen Landes. Das SPD-Wahlprogramm enthält eine Reihe zukunftsweisender Vorschläge für eine neue Europapolitik: eine EU-Wirtschaftsregierung mit Euro-Finanzminister und eigenem Budget, Bedingungen für eine flexiblere Investitionspolitik und ein »soziales Fortschrittsprotokoll« für die Gleichrangigkeit der sozialen Rechte mit den wirtschaftlichen Grundfreiheiten. Wenn sich auf diese Weise der neue, der »Gerechtigkeits-Schulz«, mit dem alten, dem »Europa-Schulz«, verbündet, stehen die Wahlchancen alles andere als schlecht.

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