Der Fußball spannt bekanntlich eine breite Projektionsfläche auf. Seit Beginn der 90er Jahre ist diese Fläche noch deutlich gewachsen. Nicht zuletzt aufgrund der Etablierung lukrativer neuer Wettbewerbe (Champions League und Premier League) und stark steigender Einnahmen aus dem Verkauf von Fernsehrechten setzte im Profifußball der Männer ein Kommerzialisierungsschub ein, der bis heute anhält. Parallel zur fortschreitenden Kommodifizierung des Spiels nahm der Fußball auch in geopolitischen Zusammenhängen eine immer größere Rolle ein. Die Softpower-Strategien der arabischen Staaten beispielsweise setzen wesentlich auf den Sport, was spätestens durch die Weltmeisterschaft in Katar auch ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit geriet. Diese und weitere Aspekte der Entwicklung des Fußballs in den letzten drei Jahrzehnten werden präzise analysiert in Christoph Biermanns 2024 erschienenem Buch Um jeden Preis. Die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute.
Auch der Kunstbetrieb hat sich seit den 90er Jahren deutlich verändert. Messen und Biennalen vervielfältigten sich und wurden zu populären Inszenierungen, zu Events, über die auch die Yellow Press berichtet. Der Kunstmarkt ist heute, ähnlich der Fußballindustrie, ein weltweites Geschäft mit enormen Umsätzen. Große Galerien agieren global, so wie die großen Vereine. Und die bildende Kunst ist neben dem Sport ein zentraler Faktor in besagten Softpower-Strategien, Stichwort Louvre Abu Dhabi.
Beide, Kunstmarkt wie Fußballindustrie, sind ein weltweites Geschäft mit enormen Umsätzen.
Neben der geopolitischen und ökonomischen Dimension gibt es auch in kultureller Hinsicht Parallelen zwischen Kunst und Fußball. Themen wie Postkolonialismus, Rassismus, Sexismus, Queerness und Ausbeutungsverhältnisse sind zentral für die Kunstszene. Diese Themen spielen zunehmend auch in den Diskussionen über Fußball eine Rolle, selbst wenn sie dort anders verhandelt werden als im Kunstbetrieb. Man denke an die Debatte über die Beleuchtung des Münchener Stadions in Regenbogenfarben bei der 2021 ausgetragenen Europameisterschaft oder an die WM in Katar 2022.
Vor diesem Hintergrund ist Fußball auf vielfache Weise zum Gegenstand in der zeitgenössischen bildenden Kunst geworden, wie ich anhand einiger Beispiele zu zeigen versuche. Die folgende Tour d’Horizon soll zumindest die Breite des Spektrums andeuten.
Schmerzliche Ambivalenzen
Die Kommerzialisierung des Fußballs hat zu einem Publikumsaustausch in den Stadien geführt. Angehörige der Arbeiterschaft – jahrzehntelang der Kern des Publikums – können sich den Eintritt in der englischen Premier League kaum noch leisten; lokale Traditionen werden von global ausgerichteten Marketingstrategien in den Hintergrund gedrängt. Hier setzt das Künstlerinnenduo Julie Henry und Debbie Bragg an. Ihre Installation Going Down stellt die beiden Fanlager während eines Heimspiels des Londoner Clubs Crystal Palace in Video und Fotografie einander gegenüber. Die Arbeit ist eine Hommage an die englische working class, sie fängt anarchische Momente ebenso ein wie die quasi-religiöse Natur des Fußballs und die Magie, die in der Gemeinschaft der Anhänger liegt. Für Dyed in the Wool luden Henry/Bragg Fans verschiedener Vereine ein, eine Strickjacke zu ihrem Club zu entwerfen. Die Künstlerinnen hinterfragen mit diesem partizipativen Projekt nicht nur herkömmliche Männlichkeitsbilder im Fußball, sondern bringen auch den gestalterischen Ausdruck lokaler Identitäten in einen Gegensatz zu den standardisierten Produkten des Merchandisings.
Der senegalesische Künstler Omar Victor Diop stellt in seiner Fotoserie Diaspora Porträts schwarzer afrikanischer Männer in der europäischen Malerei des 15. bis 19. Jahrhunderts nach. In diesen Bildern werden Afrikaner nicht – wie man erwarten könnte – als Diener oder Sklaven, sondern als »noble« Persönlichkeiten dargestellt. In seiner Nachahmung dieser Porträts schlüpft Diop selbst in die Rolle der historischen Personen, setzt sich dabei aber immer mit Gegenständen des Fußballs (Bälle, Schuhe, Torwarthandschuhe) ins Bild. Er verbindet so die kunsthistorische Repräsentation Afrikas mit der aktuellen Repräsentation des Kontinents im Fußball. Diops Serie ist unter anderem auch ein Verweis auf die ambivalente Situation erfolgreicher schwarzer Personen: Afrikanische Spieler werden für ihre Leistungen gefeiert, sind jedoch zugleich regelmäßig Opfer von Diskriminierung.
Afrikanische Spieler: gefeiert für ihre Leistungen, zugleich diskriminiert.
Die Perspektive des globalen Südens spielt auch in den Arbeiten des Choreografen und Tänzers Ahilan Ratnamohan eine zentrale Rolle. Der Australier mit tamilischen Wurzeln kam nach Europa, um Fußballprofi zu werden. Dies gelang ihm nicht, aber Fußball wurde zu einem wichtigen Medium in seinen Performances. In dem von Ratnamohan kreierten Tanzstil Klapping wird das Bewegungsrepertoire des Fußballs mit dem des Urban Dance verbunden. Der Choreograf vermittelt diesen Tanz an fußballspielende Tanzlaien, die dann auch Darstellerinnen und Darsteller in seinen Aufführungen werden, aktuell beispielsweis in einem Projekt auf Kampnagel Hamburg. In Belgien arbeitet Ratnamohan mit einer Gruppe afrikanischer Spieler, deren Traum von einer Profikarriere sich nicht erfüllt hat. Daraus entsteht politisches Theater zu Fragen von Sprache, Migration und Fußball: Welche Grenzen werden wie in europäischen Gesellschaften gezogen? Wer spricht für wen? Was hat es mit dem Aufstiegsversprechen des Fußballs auf sich?
Ein-Mann-Performance ohne Ball
Der Schweizer Künstler Massimo Furlan beschäftigt sich in einigen seiner Performances mit dem Zusammenhang von Fußball und kollektivem Gedächtnis. Als Ein-Mann-Performance ohne Ball hat er in Stadien berühmte und politisch aufgeladene Spiele nachgestellt, zum Beispiel das WM-Halbfinale Deutschland gegen Frankreich von 1982 oder die einzige Begegnung der BRD mit der DDR bei der Weltmeisterschaft 1974. Massimo Furlan war in der Ursprungsfassung die einzige Person auf dem Spielfeld und imitierte exakt die Laufwege von Jürgen Sparwasser, der das einzige Tor der Partie von 1974 erzielte. Das Publikum kann das Re-Enactment mit den originalen Radiokommentaren von Ost und West verfolgen. Furlan spielt hier mit dem narrativen Raum, den der Fußball eröffnet. Das sparsam inszenierte und vorhersehbare Geschehen auf dem Spielfeld lässt der Imagination ihren Raum.
Leitend für die Entstehung des Mailänder Amateurvereins Associazione Sportiva Velasca war die Idee des Fußballs als Gesamtkunstwerk. Der Club wurde 2015 von einer Künstlergruppe gegründet, die sowohl dem Fußballgeschäft als auch dem kommerzialisierten Kunstbetrieb etwas entgegensetzen wollte. Die Mitglieder begreifen den Verein als emanzipatorisches Projekt und stellen sich damit durchaus in die Tradition der Arbeitersportbewegung. Ausdruck der Emanzipation bei der A.S. Velasca ist aber die Kunst: Nahezu jeder Aspekt des Spiels wird künstlerisch gestaltet – von der für jedes Heimspiel neu entworfenen Eintrittskarte über Eckfahnen und Schienbeinschoner zu den Choreografien der Fans.
Der Verein arbeitet mit zahlreichen internationalen Künstlerinnen und Künstlern zusammen, darunter bekannte renommierte Künstler wie David Shrigley, der mit dem ihm eigenen Humor eine gelbe Karte mit dem Schriftzug »Do not do what you just did again« beitrug. Shrigley hat übrigens auch das Maskottchen seines Lieblingsvereins, des Zweitligisten Partick Thistle aus Glasgow gestaltet, nachdem er einen kalifornischen Kunstsammler als Sponsor des Clubs gewinnen konnte.
Kunst ins (Fußball-)Leben bringen
Eine weitere institutionelle Verschränkung von Kunst und Fußball findet sich bei der in London erscheinenden Zeitschrift OOF, die sich ausschließlich den Verbindungslinien zwischen bildender Kunst und Fußball widmet. In zwei Ausgaben pro Jahr porträtiert das Magazin Künstlerinnen und Künstler, in deren Werk Fußball eine Rolle spielt. Die Analyse der Kunst geht dabei immer einher mit der Frage nach den Bedeutungsschichten des Sports. Seit 2021 betreibt OOF auch eine Galerie auf dem Gelände des Erstligisten Tottenham Hotspur, in unmittelbarer Nähe des Stadions. Dazu gehören Atelierräume und ein Fußball-und-Kunst-Residenzprogramm für Künstler. Konzeptionelle Kunst wurde auch schon während eines Spiels auf den LED-Werbeflächen präsentiert. Die Galerie bleibt an den Spieltagen geöffnet, was durchaus bemerkenswert ist, denn so erhält das Fußballpublikum beispielsweise die Gelegenheit, sich mit homoerotischen Perspektiven auf das Spiel zu beschäftigen. Der Impuls der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, die Kunst ins Leben zu überführen, er scheint hier noch lebendig.
Zwei der hier skizzierten Thematisierungen des Fußballs in den Künsten sind im Rahmen des Kulturprogramms zur EURO 2024 zu sehen: »Football Echoes« von Ahilan Ratnamohan vom 30. Mai bis zum 1. Juni 2024 auf Kampnagel Hamburg und eine neue Version von Massimo Furlans Re-Enactment von »DDR gegen BRD« kommt am 7. und 8. Juli nach Berlin (»Radical Playgrounds« vor dem Gropius Bau). Ausstellungen im Rahmen des Kulturprogramms sind u.a.:
Andreas Slominski: »Wohnorte gegen Geburtsorte«, Museum Folkwang, Essen, 05.03.– 14.07.24
Marianna Simnett: »Winner«, Hamburger Bahnhof – Nationalgalerie der Gegenwart, Berlin, 17.05. - 03.11.24
Deutsches Fußballmuseum: »In Motion – Art & Football«, Dortmund, 27.05. - 30.09.24
Haus der Kulturen der Welt bietet mit »Ballett der Massen« ein spartenübergreifendes Programm, Berlin, 07.06.–14.07.24
Das gesamte Programm findet sich unter: https://stiftung.fussball-und-kultur2024.eu/de/projekte/
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