Menü

Eine neue Heidegger-Biografie von Thomas Rohkrämer Dürftiger Denker in dürftiger Zeit?

Um Bashing geht es Thomas Rohkrämer, der sehr gut mit der Geistesgeschichte Nachkriegsdeutschlands vertraut ist, in der politischen Biografie des Philosophen Martin Heidegger (1889–1976) – zumindest vorrangig – nicht. Er will den Vertreter des deutschen Existentialismus »als Denker in seiner Zeit« präsentieren, weil er »weit verbreitete Vorstellungen seiner Zeitgenossen teilte«. Der Blick von außen – Rohkrämer lehrt in Lancaster europäische Geschichte – könnte die Heidegger-Diskussion zwischen Anhängern und Kritikern auf eine neue Grundlage stellen. »Sicher ein Nazi« – dieses Verdikt stammt von Jürgen Habermas und scheint weiterhin zutreffend zu sein. Rohkrämer nimmt Heidegger beim Wort und verspricht zugleich eine »Mentalitäten-Geschichte«, denn Heidegger hatte eine genaue »Kenntnis von den Bedürfnissen und Sehnsüchten seiner Zeit«, von »Ängsten und Defiziterfahrungen«. Für Rohkrämer bleibt Heidegger zudem ein »Medienprofi ersten Ranges«, der »seine Selbstdarstellung ebenso erfolgreich den jeweiligen Erfordernissen« anzupassen vermochte.

Fatales Verhältnis zur Macht

Rohkrämer beweist, dass Heidegger keineswegs der »einsame Denker« war, der nicht nur Hannah Arendt, Karl Jaspers und seine an seinen Worten hängenden Studenten beeindruckte, sondern nach 1945 seine »Breitenwirksamkeit« entfalten konnte. Weshalb gelang es ihm, die großen Umbrüche des Jahrhunderts und vor allem das Entnazifizierungsverfahren zu überstehen? Vielleicht, weil er seinen Zuhörern die »Besserung der bestehenden Verhältnisse« auf eine retrospektive Weise versprach? Er betonte, nicht vom Tagesgeschehen irritiert zu sein und konnte so als Meister einer Kultivierung von Niederlagen gelten. Dabei hatte er, wie sich 1933 zeigte, ein fatales Verhältnis zur Macht.

Sein Rektorat an der Freiburger Universität war für ihn eine Voraussetzung, die sich konsolidierende Diktatur zu beeindrucken. Zugleich bewies er, was ihm später Karl Löwith nie verzieh, dass er die Folgen einer Konsolidierung der Diktatur nicht an sich herankommen ließ. Im Glauben, den Nationalsozialismus beeinflussen zu können, versagte Heidegger moralisch. Bis 1945 und darüber hinaus blieb er, hier hat Habermas Recht, ein Nazi. Rohkrämer bezeichnet Heidegger als »nationalsozialistischen Aktivisten«, der die Camouflage in meisterschaftliche Höhen zu führen wusste, indem er die »Kehre« nicht beschwor, sondern für sich persönlich zum Entlastungsargument machte, fast zum Synonym für eine moralisch nicht einmal indifferente Reaktion. Dies funktionierte in den Entnazifizierungsverfahren, in deren Folge Heidegger sogar wieder mit seinem Freiburger Lehrstuhl versorgt wurde. Er beschwor seine persönliche Kehre, ohne sich mit der Frage zu belasten, wie es um seine eigene Verantwortung gestellt war, weshalb er den Krieg gerechtfertigt und das Heroische auf eine Weise beschworen hatte, die den Untergang der 6. Armee bei Stalingrad so verklärte, wie es auch Goebbels und Göring taten.

Die Verklärung seines Versagens kam vielen Zeitgenossen entgegen, die nach 1945 nach Rechtfertigungs- und Entschuldungsgründen suchten. Sie konnten sich an Heideggers Vorträgen berauschen, wenn er ihnen die »Erlösung« von ihrer »inneren Not« suggerierte. Nicht nur vor 1945, sondern vor allem danach, entsprach er den Bedürfnissen seiner Zeit, wie seine bis heute in politischen Sonntagsreden beliebte Floskel »Herkunft bleibe stets Zukunft« zeigt. Heidegger instrumentalisierte diese beschworene Vergangenheit nicht nur selbstbetrügerisch, sondern ermöglichte den Deutschen in den 50er und 60er Jahren sich selbst zu hintergehen, also die von Fritz Bauer geforderte Selbstaufklärung zu verweigern.

Als sich Heidegger, immer bestärkt von seiner geistig im Gestern verharrenden Frau, dann nach 1945 als Opfer fühlte, empfand er zwar Ausgrenzung, konnte sich aber auf Unterstützung entgegenkommender Zeitgenossen durch »Persilscheine« verlassen. Jaspers unterschied in der Schuldfrage verschiedene Arten von Schuld; Heidegger aber bedauerte vor allem sich selbst und war nicht in der Lage, über eigene Fehlentscheidungen und Illusionen selbstkritisch zu reflektieren. So entwickelte er die Philosophie der Kehre; deshalb konnte er die militärische Niederlage am Ende des Zweiten Weltkriegs ohne großes Bedauern als Voraussetzung des Neuen mit Sinn füllen, den Leser und vor allem Zuhörer seiner von vielen tausend Menschen besuchten Vorträge dankbar übernahmen.

Rohkrämer gelingt es, Heidegger bedrückend als Element des deutschen Selbstverständnisses in der Adenauerzeit zu erklären. Der sich als einsamer Denker stilisierende Philosoph kritisierte neuzeitliche Entwicklungen, flüchtete sich in alltägliche Details (das verband ihn mit Ernst Jünger) und kritisierte die Moderne. Zugleich lieferte er sich dem Zeitgeist aus, vielleicht, weil er glaubte, ihn zu formen. Dies zeigt die Bewunderung des Soldatischen und zugleich des Hinterwäldlerischen, nicht zuletzt deutet er die Beschwörung des »Man« als Ausdruck der Sehnsucht, in Massen und Volksgemeinschaft aufzugehen. Heidegger betonte die Notwendigkeit des Selbstdenkens, baute aber keine Brücke zur Widerständigkeit trotz seiner Betonung der Autonomie. Umbrüche in die Unzivilität, die das 20. Jahrhundert oft genug charakterisierten, ließen ihn kalt und machten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, nicht zuletzt Löwith, zu seinen geistigen Antipoden.

Abstoßende Konventionalität

Sein Denken konnten nur Heidegger und seine Anhänger als Aufbruch und Ausdruck deutschen Geistes deuten. Er träumte von der Philosophie als Leitwissenschaft und machte fast dem lebensphilosophischen Denken den Garaus. Adorno, später Habermas, versuchte Philosophie kritisch und damit neu zu begründen. Denn im Grunde war Heideggers Gerede von ebenso erschreckender wie – rückblickend – abstoßender Konventionalität, obgleich er sich als geradezu revolutionärer Sinn- und Sprachphilosoph verstehen wollte. Rohkrämer belegt überzeugend, in welchem Maße Heidegger immer das Produkt seiner jeweiligen Gegenwart war, der er Gelassenheit predigte und die jene gesellschaftliche Trägheit entwickelte, die erst in den späten 60er und 70er Jahren im Zuge einer Ausbruchbewegung endete, die die Konservativen bis heute negativ mobilisiert und mit Grausen von den 68ern sprechen lässt. Er begriff den Wert der Pluralität so wenig wie die Unaufhaltsamkeit des Wandels; er kritisierte Rationalisierung und Modernisierung und bereitete mit seiner Zeit- und Zeitgeistkritik erneut den Boden für konservative und reaktionäre Kreise unserer Gegenwart, die wie er eine »dekadente Beliebigkeit« beklagen und sich letztlich als Rückwärtsgewandte kenntlich machen. Heideggers Prägekraft erlosch, seine Attraktivität bei wertkonservativen Randgruppen schwand, am wenigsten noch bei jenen, die weiter von einer konservativen Revolution träumten.

Floskeln bleiben Floskeln, verändern aber im Kampf um Worte und kulturelle Hegemonie ihren Kontext. Gerade deshalb bleibt Heidegger für den Historiker immer dann interessant, wenn dieser die Entstehung oder Verfestigung einer politischen Kultur in der Adenauerzeit verstehen will. Deshalb ist es müßig, antisemitische und totalitäre, pronationalsozialistische Elemente in Heideggers »Lehre« aufzuspüren. Es gab sie bei ihm wie in der deutschen Gesellschaft, die die Ablehnung des Totalitären bekenntnishaft zelebrierte, aber nur in einer gegen Sozialismus und Demokratie gerichteten Weise füllte.

Zu klären bleibt, weshalb es Heidegger – dieser philosophierende Parteigänger zunächst der konservativen Revolution und dann auch des Nationalsozialismus – nach 1945 so rasch gelang, Glauben zu finden. Seine Plattitüden blieben in gleicher Weise geeignet, Geschichte und Gegenwart zu deuten. Seine »Verachtung« der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften kam manchen Gestrigen entgegen. Offensichtlich fanden sich viele der deutschen Zeitgenossen in seinen Selbsterklärungs- und Entlastungsversuchen wieder. Selbst wenn es Heidegger dann in den 50er und (dann zunehmend weniger) in den 60er Jahren der Bundesrepublik gelang, seine politische Selbstentlastung mit öffentlicher Wertschätzung und seiner Respektierung als bedeutender Philosoph zu verbinden, so scheiterte er letztlich aufgrund der zunehmenden Kritik an seiner politischen Haltung nach 1933 und verlor den Nimbus eines Denkers in »dürftiger Zeit«, weil seine Sprachbildung nicht mehr überzeugte. Bei allem Bashing der Adenauerzeit können wir nicht übersehen, dass Heideggers Ausstrahlung in gleichem Maße zurückging, wie sich eine realistische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit, mit Verfolgung und Diffamierung, mit Völkermord und Rassenkrieg verbreitete, auch, weil die Sozialwissenschaften und die Sozialphilosophie, nicht zuletzt die kritische Sozialgeschichte die Leerstelle füllten, die Heidegger räumen musste.

Rohkrämer gelingt es, den Blick auf ein politisches Klima zu richten, das durch das Beschweigen des Vergangenen geprägt war und mühsam durch eine multifrontale Vergangenheitspolitik aufgebrochen werden konnte. Er stützt sich dabei auf einige wenige Darstellungen, etwa Axel Schildts Kulturgeschichte. Lohnend wäre es, das Netzwerk zu untersuchen, das – von der Siemens-Stiftung bis zu wirtschaftsnahmen Kreisen – einen Resonanzboden bildete, der heute in rechtsextremistischen Zirkeln nachwirkt und immer noch partielle Teile der Öffentlichkeit beeindruckt, wie manche Äußerungen von AfD-Politikern belegen. Wenn »Denken« krampfhaft durch einen Anspruch auf sinnhafte Kontinuitäten geprägt wird, kommen Bewährungsproben im Umbruch und im beschleunigten Wandel. Dem war Heidegger so wenig gewachsen wie manche Politiker der 50er Jahre, die eine »Aktion Gemeinsinn« oder eine »Saubere Leinwand« beschworen. Dies ist kein Ausdruck von »Wertegefühl« oder von Standfestigkeit, sondern des Unvermögens, die eigene Haltung im stetigen Wandel einer sich modernisierenden Gesellschaft zu problematisieren. Heidegger blieb mit sich selbst »identisch«.

Zu spät durchschaut

Nicht alle gingen ihm auf den Leim. Karl Löwith wurde einer seiner schärfsten Kritiker, Alexander Schwan einer seiner letzten Kritiker. Dennoch wurde Heidegger zu spät durchschaut. In der Weimarer Republik galt er als »Star«, als einer der anregendsten Denker, der die bisherige Philosophie umzukrempeln versprach. Was das »eigentlich« bedeutete, erfuhren manche seiner Schüler nach 1933, als Heidegger ihnen – etwa Hannah Arendt und Karl Löwith – die Hilfe oder auch nur das Verständnis verweigerte. Er wurde zwar zu einem glühenden Befürworter der »deutschen Revolution«, machte sich aber nicht klar, dass sie in die Zerstörung der humanen Orientierung führte.

Es waren eben nicht nur die 30er und 40er Jahre, die das Urteil über sein Werk prägten, sondern auch die 50er und noch die 60er Jahre, in denen er als »Meisterdenker« anerkannt wurde. Das bedeutete nicht seine Anerkennung als Philosoph, sondern seine Fähigkeit, seine eigene Zeit »auf den Begriff« zu bringen. Es waren in den 50er und 60er Jahren zurückgekehrte Emigranten und auch deshalb in der Bundesrepublik weiterhin umstrittene Philosophen, die wirksam an Heideggers Nimbus kratzten.

Inzwischen wissen wir durch zahlreiche und kaum überschaubare Behördengeschichten, wie sich in der bundesdeutschen Verwaltung, Justiz, Bundeswehr und nicht zuletzt in den Universitäten ungebrochen die Karrieren ehemaliger Nationalsozialisten fortsetzten. Wir verstehen, weshalb der Neubeginn Jahrzehnte brauchte und sich erst mit der Kanzlerschaft von Willy Brandt strukturell auswirkte. Vielversprechend begannen Mitte der 60er Jahre die Universitäten in selbstkritischen Ringvorlesungen ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten. Bald aber brach die zaghafte und keineswegs allgemein befürwortete Selbstaufklärung ab. Denn es ging nicht nur um Personen und Strukturen, sondern auch um ein nachwirkendes Grundgefühl der Relativierung und Selbstexkulpation, das man in den 60ern »geistiges Klima« nannte und das endgültig und unwiderruflich als »Muff unter den Talaren« enttarnt worden war. Die kollektive Verdrängung war mit dem Auschwitz-Prozess 1963–1965 erschüttert und in den drei Verjährungsdebatten auch kommunikativ thematisiert worden. Sie wurde erst mit der Aufhebung der Verjährung von Mord im Jahr 1979 überwunden.

Damit sank der Nimbus weiterer »mentaldefensiver Meisterdenker« der bundesdeutschen Restaurationszeit, etwa des Theologen Helmut Thielicke, des Psychologen Peter Hofstädter, des Freiburger Historikers Gerhard Ritter. Rohkrämer bietet weit mehr als eine politische Biografie. Er deckt die Dumpfheit des »Zeitgeistes der frühen Bundesrepublik« gerade in Heideggers Rechtfertigungs- und Verdrängungserfolgen auf, die sein Werk prägten. Rohkrämer macht bewusst, wie sich seit den 50er Jahren Denk- und Argumentationsalternativen entwickelten. Konnte Hermann Lübbe noch das Beschweigen der Vergangenheit als Voraussetzung des Grundkonsenses der postnationalsozialistischen Bundesrepublik rechtfertigen, konnte Adolf Arndt den Kompromiss von Widerstands- und Stalingradkämpfer beschreiben, so entstand mit diesem aufgelösten Kompromiss eine neue Diskussion über die »zweite Schuld« (Ralph Giordano), wurde die Vergangenheitspolitik als neues Forschungsfeld entdeckt und beackert.

Thomas Rohkrämer: Martin Heidegger. Eine politische Biographie. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2020, 297 S., 39,90 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben