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© picture alliance | Martin Schroeder

Was fortschrittliche Politikkonzepte jetzt einbeziehen müssenDurchhalten ist nicht unmöglich

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Die vergangenen beiden Jahrzehnte waren für die Sozialdemokratie turbulent. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts führte sie noch die meisten Regierungen in der EU und der Beitrittsländer an, gestaltete diese mit oder kontrollierte diese als konstruktive, wachsame Opposition. Innerhalb von nur einer Generation scheint sie ihr Ansehen verloren zu haben. Mitte-Links-Parteien sind nur noch an etwa einem Drittel der europäischen Regierungen beteiligt, haben Mühe, ihre Wähler noch zu überzeugen geschweige denn neue hinzu zu gewinnen. In Einzelfällen scheitern sie gar an der jeweils geltenden Sperrklausel und ziehen gar nicht erst ins Parlament ein.

Die Sozialdemokratie leidet schwer unter der Krise der traditionellen Politik und der daraus resultierenden Phänomene wie eine zunehmende Fragmentierung und Polarisierung. Dass sie das übersteht, ist nicht ausgeschlossen, es erfordert aber eine neue Art des Denkens über politische Räume, Prozesse und Bündnisse. Deshalb ist auch das Nachdenken über progressives Regieren heute so wichtig.

Am Anfang steht die Frage, was hinter dem Legitimationsanspruch der sozialdemokratischen Überzeugung steht, das ihrer Mission auch in der neuen Zeit noch Gültigkeit verleiht. Die Erfahrungen aus der Ära der »Catch-All-Parteien« und der »Kartellparteien« (André Krouwel) mögen den Eindruck erweckt haben, dass es notwendig ist, detaillierte Antworten auf alle komplexen Fragen der zeitgenössischen Herausforderungen anzubieten.

Doch während dies vor einem Jahrzehnt vielleicht noch der richtige Ansatz war, scheint heute etwas auf den ersten Blick viel Einfacheres, auf den zweiten aber etwas viel Schwierigeres gefragt zu sein. Wie Donald Sassoon in seinem monumentalen Werk One Hundred Years of Socialism herausgearbeitet hat, war die Sozialdemokratie immer dann am besten, wenn sie sich an diese einzigartige Schlussfolgerung erinnerte: »Die Welt ist ungerecht ­– sie kann verändert werden, um ein besserer Ort für alle zu sein – und Mitte-Links-Parteien sind diejenigen, die wissen, wie man das macht«.

Und es funktionierte: Als der Partido Socialista in Portugal wieder an die Macht kam, lautete das Versprechen, die Sparpolitik und die Herrschaft der EU-Troika zu beenden und das Land wiederaufzubauen. Zu Beginn des Bundestagswahlkampfes 2021 hatte Olaf Scholz laut Umfragen keine Chance, dann prägte er den Begriff »Respekt«, der zu einem Narrativ entwickelt wurde. Darin wurden ungerechte und unmenschliche Zustände benannt, die Notwendigkeit von Ver­änderungen angesprochen und Solidarität eingefordert, die die SPD zu einem Leitprinzip machen wollte, wenn sie die Regierung anführen würde. Es funktionierte und inspirierte europäische Schwesterparteien (und die SPE insgesamt), weil es auf einem moralischen Imperativ, einem Verantwortungsgefühl und der Idee beruhte, dass eine Partei als Agent des Wandels dienen kann.

Hält das Konzept einer Realitätsprüfung stand?

Kritische Beobachter weisen darauf hin, dass dieses Konzept zwar im Wahlkampf überzeugen, die Erzählung aber einer Realitätsprüfung nicht standhalten könne. Zum einen haben sich die Rahmenbedingungen eines Wahlsiegs verändert. Die sich aus der Radikalisierung ergebenden Proteststimmen gehen zudem an neue Akteure. Selbst wenn die jeweilige Mitte-Links-Partei die meisten Stimmen erhält, bedeutet dies selten einen Erdrutschsieg. In einem solchen Fall muss die Partei oftmals doch in die Opposition gehen, wie die Beispiele der schwedischen SAP und der finnischen SDP zeigen.

Zum zweiten müssen zunehmend Koalitionen gebildet werden, die oftmals zerbrechlich sind. Während sich Sozialdemokraten in der Vergangenheit darüber beklagten, große Koalitionen eingehen zu müssen und dort Juniorpartner zu sein, scheint es heute so zu sein, dass das Hauptproblem darin besteht, dass die Partner, mit denen sie sich zusammenschließen, während des Mandats ausscheren, wie dies etwa in Spanien geschehen ist.

Und drittens vertraut laut aktuellem Eurobarometer im Durchschnitt nur noch jeder dritte Bürger seiner Regierung oder dem Parlament. Das ist zwar nichts Neues, aber Tatsache ist, dass die Bürger eher Politikern oder Parteien vertrauen. Damit ist aber nicht gesagt, dass diese extrem, radikal oder populistisch sein müssen ­– im Gegenteil.

Unter Sozialdemokraten wird nun aber argumentiert, dass die relative Macht der Sozialdemokraten insgesamt schwindet ­– viele Beispiele untermauern dies ja auch: Die »ältesten Parteien« wie die Parti Socialiste (PS) in Frankreich gehen bei Wahlen unter, andere müssen sich zu Wahlbündnissen mit anderen zusammenschließen (wie die PvdA in den Niederlanden) oder sie werden überholt (wie die SPD, die in aktuellen Umfragen [Stand 5.11.23] mit 16 Prozent an dritter Stelle liegt – hinter CDU/CSU mit 30 und der AfD mit 22 Prozent). Zudem hat sich der Eindruck verfestigt, dass unabhängig davon, was die Sozialdemokraten in den letzten zwei bis drei Jahren getan haben, keine der Schwesterparteien Wahlen gewonnen hat.

Gegen beide Einstellungen sollte entschieden argumentiert werden. Der defätistische Ansatz, der sich auf selektiv ausgewählte Länderfallstudien stützt, bringt keinen Nutzen. In der Tat ist das Erstarken des Extremismus ein allgemeines Problem, zumal einige dieser Parteien sogar an Regierungen beteiligt sind. Aber dies sollte als eine weitere Motivation gesehen werden. Eigene Unzulänglichkeiten können aber nicht mit Externalitäten erklärt werden.

»Mitte-Links-Regierungen haben ihre Lektion gelernt.«

Man sollte zudem nicht übersehen, dass Mitte-Links-Regierungen auch ihre Lektion gelernt haben und sich ganz anders verhalten als ihre Vorgänger nach den Finanzkrisen. Trotz schwerwiegender, unvorhersehbarer Ereignisse sind sie nicht zum gewohnten Krisenmanagement übergegangen, sondern haben sich eindeutig von einer Reihe fortschrittlicher Werte leiten lassen. Die doppelte Transformationsagenda für digitalen und ökologischen Fortschritt von Sanna Marin in Finnland wurde zum Beispiel weiter verfolgt, und auch der Beitrag des Landes zur internationalen Zusammenarbeit und Hilfe für die Menschen in aller Welt wurde angesichts des COVID-Pandemie nicht nur nicht verringert, sondern sogar erhöht.

Das Versprechen von Pedro Sanchez, die Transparenz und die Demokratie in Spanien zu verbessern sowie für die Rechte der Frauen zu kämpfen, wurde dadurch bekräftigt, dass seine Regierung viele Anstrengungen unternahm, um die Agenda zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen umzusetzen, die während der pandemiebedingten Abriegelung zugenommen hatte. Beide Beispiele zeigen, dass Integrität, Verantwortungsbewusstsein und Beharrlichkeit sich auch in Wahlergebnissen positiv niederschlagen.

Wie kann auf dieser Grundlage fortschrittliches Regieren aber realisiert werden? Zunächst einmal hängen sowohl der Eintritt in die Regierung als auch die Fähigkeit, den politischen Kurs zu halten, von der Konstellation der Beziehungen ab, die festlegen, wer welche Art von Macht innehat. Diese große ideologische Debatte muss erst noch geführt werden. Die 90er Jahre haben die fortschrittliche Bewegung mit der Überzeugung zurückgelassen, dass durch die Globalisierung das Kapital und die Märkte die Oberhand haben, während die Sozialdemokraten lediglich versuchen können, die Bedingungen zu definieren, unter denen diese operieren, und dafür zu sorgen, dass sie ihren gerechten Beitrag leisten, um die Mechanismen der Chancengleichheit zu gewährleisten.

Seither haben sich viele gegen dieses Verständnis gewehrt und darauf hingewiesen, dass es nicht ausreicht, sozialen Fortschritt für alle zu ermöglichen. Aber die Vision wurde bisher noch nicht formuliert, wie Macht geteilt werden kann, das Verhältnis ausbalanciert werden kann und wie diejenigen gestärkt werden können, die sich zurückgelassen fühlen. Das ist aber notwendig und sollte die Leitlinie für alle Bereiche sein – angefangen bei der internationalen Politik und der sozialdemokratischen Strategie zur Schaffung einer multipolaren friedlichen Welt.

Von staatlicher Seite müssen zudem die Regeln für die dreifache Transformation (digital, ökologisch und sozial) geklärt werden, um zu verhindern, dass sich das Kapital Vorteile verschafft, insbesondere in den Momenten der Verwundbarkeit (wie bei den Problemen mit den Lieferketten) und den Fortschritt aufgrund seiner Gier gefährdet (siehe die Spekulationen auf den Energiemärkten).

Schließlich ist die Antwort auf die Frage, wie die Entmachteten wieder gestärkt werden können, eine notwendige Bedingung, wenn die Sozialdemokraten die gespaltenen Gesellschaften wieder vereinen wollen und ihre Regierungen länger als eine Amtszeit überstehen sollen.

»Es bedarf einer neuen Definition des aktiven Staates.«

Die Sozialdemokraten waren zwischenzeitlich voller Hoffnung, als während der Pandemie ein Gefühl der »Rückkehr zum Staat« aufkam, weil sie glaubten, dass dies ihnen als den traditionellen Verfechtern öffentlicher Güter und Dienstleistungen Auftrieb geben könnte. Mittlerweile aber überschattet die Rhetorik des Nationalstaates die des Wohlfahrtsstaates, indem einige Elemente umgedeutet wurden (was etwa den Wohlfahrtschauvinismus befördern kann). Es ist noch nicht zu spät, das Terrain auch hier wieder zurückzuerobern. Dazu bedarf es aber einer neuen Definition des aktiven Staates, der in der Lage sein muss, die Lebenshaltungskostenkrise zu bekämpfen, und eines Überdenkens von Governance.

Mit Blick auf den letzten Punkt müssen sich Sozialdemokraten für Verwaltungsreformen einsetzen und darüber nachdenken, welche Ebene die angemessenste und effektivste ist. Aus den Reformen der portugiesischen PS (vor allem, wenn es um die künftige Macht der Regionen geht), und aus den Erfahrungen der Labour Party mit der Dezentralisierung kann man diesbezüglich viel lernen.

Jede Überlegung in diesem Bereich muss aber mit Perspektiven für die nationale, europäische und internationale Ebene verbunden werden. Anders als in der Vergangenheit haben nämlich die Bürger eine klare Vorstellung von der Souveränität und der Zukunft der Europäischen Union, und viele von ihnen wünschen sich, dass die EU weiterhin Pionierarbeit leistet, wie sie es etwa bei der Pandemie getan hat, und ihnen hilft, angesichts von Gefahren zusammenzustehen. Diese Logik war auch ausschlaggebend für den jüngsten Wahlsieg der Opposition in Polen.

Schließlich bedarf es eines neuen Maßstabs für erfolgreiches Regieren von Mitte-Links. Die vielfältigen Krisen machen es sehr schwierig, die Bedingungen für die Ausübung eines Regierungsmandats vorherzusagen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass wir in einem Zeitalter der Unvorhersehbarkeit, Unsicherheit und Instabilität leben. Ja, es wird jetzt mehr in die Vorausschau investiert. Sozialdemokraten haben nun die Chance, das Label »traditionell« zugunsten eines Labels »konsequent und vorhersehbar« abzulegen. In der heutigen Zeit kann dies durchaus von Vorteil sein und Vertrauen erwecken. Aber dafür müssen sie bereit sein, ihrem eigenen ideologischen Kompass zu folgen, klarmachen, was sie konsequent befürworten und was sie eindeutig ablehnen und sicherstellen, dass die Veränderungen, die sie erreichen wollen, über ein Mandat hinaus als vorteilhaft für alle bestehen bleiben. Um ein solches Profil zu erlangen, müssen sie auch ihre Organisationen (von der lokalen bis zur internationalen Ebene) wiederbeleben, die Räume für lebhafte Diskussionen und mutige Entscheidungen sein müssen und aus denen die Führungskräfte einer neuen Generation hervorgehen können.

In Zeiten, in denen es so viele Ängste und unvorhersehbare Entwicklungen gibt, sind sich die Bürger bewusst, dass es schwierig ist, Entscheidungen zu treffen und Wahlversprechen einzuhalten. Aber sie wollen darauf vertrauen können, dass sie, egal was passiert, an erster Stelle stehen werden. Und die Sozialdemokraten können diese Kraft sein, indem sie im Einklang mit ihren Werten handeln und den Ehrgeiz haben, den sozialen Fortschritt für alle voranzutreiben, egal wie schwierig das Umfeld ist. So werden sie das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen und erfolgreich sein.

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