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Editorial

Nun steht die SPD wirklich nahe am Abgrund und die Frage einer erneuten sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung stellt sich neu. Für Modellspiele ist die Zeit jetzt abgelaufen, Neuwahlen wären vermutlich russisches Roulette, und der Hoffnung, in einem so eindeutig rechts dominierten Parlament könnte die Partei mit der Duldung einer Minderheitsregierung etwas gewinnen, fehlt das Fundament. Eine Zeit zum Durchatmen könnte die Opposition kaum werden. Die Frage ist also eher, wie können künftig Mitregieren und eigene Profilschärfung glaubhaft verbunden werden? Dazu muss die Partei diesmal ihren alten Kardinalfehler konsequent vermeiden. Es war nämlich keineswegs die Teilnahme an einer großen Koalition an sich, die das Elend der Sozialdemokratie verursacht hat. Es war beim letzten Mal auch nicht der Mangel an sozialdemokratischem Gehalt, der am Ende so fatal ihr Profil verwischte. Den Ausschlag gab vielmehr eine systematische Schwäche, die früher einmal, in der Zeit von Herbert Wehner, für eine notwendige Tugend gehalten und von der Partei streng eingefordert wurde. Das war der Glaube, Sozialdemokraten müssten an der Regierung in allererster Linie beweisen, dass auf sie auch wirklich Verlass ist, wenn sie nun schon mitregieren dürfen – auch unter Verzicht auf ihr eigenes Profil. Sie sah in der Loyalität zum Regierungspartner in Großen Koalitionen immer ihre oberste Pflicht: Nichts anderes vertreten oder verlangen als das, was in der Tagespolitik möglich ist. Kein Wunder, dass sich dann am Ende solcher Zeiten der Selbstverleugnung in den Augen der Wähler die sozialdemokratische Weisheit erschöpft zu haben schien.

Den Ausweg aus dem Dilemma zeigte Willy Brandt in der ersten Großen Koalition. Er warb da mit den beiden Botschaften, die er verkörperte, gesellschaftliche Modernisierung und Friedenspolitik, für ein sozialdemokratisches Projekt weit über den Tag hinaus. Geht so etwas auch ohne einen Brandt? Etwa mit einer Art »Doppelstrategie«, die es versteht, die zuverlässige Realisierung des gemeinsam Vereinbarten mit beständigen Signalen an die Gesellschaft zu verbinden, wo und wie die Partei das noch Unzulängliche daran konsequent überwinden wird, wenn sie ein größeres Mandat gewinnt – etwa bei der Zweiklassenmedizin, der sozialen Ungleichheit und den maroden öffentlichen Gütern. Mit einer solchen »Doppelstrategie« bliebe sie mit ihrer politischen Identität auch in einer Großen Koalition immer unterscheidbar. Auch davon, neben dem vielem, das direkt dazu gehört, handelt das Hauptthema dieser Ausgabe die Vollendung der auch im 100. Jahr nach Einführung des Frauenwahlrechts noch ausstehenden Gleichstellung der Geschlechter.

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