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Editorial

Die Verunsicherung in der EU nimmt kein Ende und die Mittel der Gemeinschaft, ihnen wirksam zu begegnen, offenbaren Mal um Mal ihre strukturelle Schwäche. Nun droht auch noch aus Italien, einem der großen Gründungsländer des politisch vereinten Europa, ein hässlicher Gegenwind, der sich alsbald schon als Orkan entpuppen könnte. Die eingeschworenen Feinde des ohnehin angeschlagenen Gemeinschaftswerks gewinnen nun wahrhaftig in einem seiner Ursprungs- und Kernländer immer mehr Macht. Und der ganz ungewohnte Konflikt mit der langjährigen Schutzmacht USA gewinnt mit deren unverhofften Wendungen und Tabubrüchen eine bedrückende Perspektive. Europa muss jetzt entschlossen auf sich selbst vertrauen, statt durch Unterwerfung und kurzatmiges »Sich-durchmerkeln« vollends in die Defensive zu geraten. Höchste Zeit, dass die Bundesrepublik, die vom Gelingen der Einigung lebt wie kein zweites Mitgliedsland, die so lange schon ausgestreckte Hand des engagierten EU-Vorreiters im Pariser Élysée-Palast ergreift und die Kraft zum mittlerweile überfälligen großen Schritt für eine neue europäische Handlungsfähigkeit aufbringt. Die Sozialdemokratie muss die Initiative aufnehmen und das von ihr geprägte Europa-Versprechen des Koalitionsvertrags zügig einlösen: offensiv, großzügig und ohne Vorbehalte.

Der Wertewandel, der in ganz Europa ebenso wie in den USA von der im Ansatz weltweiten 68er-Revolte – ein Thema dieser Ausgabe – angestoßen worden ist, hat zur Überwindung national begrenzten Denkens in Europa beigetragen. Auch wenn, wie die Beiträge in Erinnerung rufen, viele der Utopien und erst recht die Illusionen dieser Protestjahre längst verflogen sind, haben sie doch die Energien für einen Wandel geliefert, der hierzulande bürgerschaftliche Mündigkeit und Engagementbereitschaft beflügelt hat. Die Erfahrung, dass leidenschaftliches Engagement bei den großen Fragen, wenn sie an der Zeit sind, eine Menge bewegen kann, bis in den trägen kulturellen Unterbau der Gesellschaft hinein, ist eine der aktuell bleibenden Lehren jener bewegten Jahre.

Die SPD, ohne Zweifel die historische Hauptkraft bei der Schaffung und Verteidigung der Demokratie in Deutschland, ist im Begriff zu deren Sorgenkind zu werden. Sie muss jetzt ohne Verzögerung durch Taten und Ideen deutlich werden lassen, dass sie für die Zukunft dieses Landes unentbehrlich ist. Das Rezept dafür kann natürlich nicht lauten »Regieren und Opponieren«, sondern »Regierung Plus«: die Ergänzung des guten Regierens – vor allem in und für Europa – durch starke Ideen, die über den Tag hinausweisen und mitreißen. Dieser Herausforderung widmen wir wieder in der vorliegenden und den folgenden Ausgaben eine eigene Rubrik.

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