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Editorial

Die Eruptionen der »Black Lives Matter«-Proteste in den Vereinigten Staaten haben einen tiefen Blick in das von eklatanten Widersprüchen zerrissene Innenleben dieser Weltmacht freigegeben. Solche Gelegenheiten und die Hintergrundanalysen dazu in den besseren Medien lassen allmählich ein vollständiges Bild des Landes entstehen, dass jemanden wie Donald Trump zum Präsidenten machen konnte – und ihn erträgt, nachdem sich immer deutlicher zeigt, dass der all das Schreckliche, für das er von Anbeginn zu stehen schien, im Amt allen Ernstes Wirklichkeit werden lässt. Die Prognosen der vielen engagierten USA-Freunde hierzulande, die bewährten Institutionen dieser alten Demokratie würden den Rabauken schon bald auf das ihnen gemäße Format zurechtstutzen, sind ins Leere gelaufen. Der Einfluss hat in einem erschreckenden Maße eher im Gegensinn funktioniert.

Der entscheidende Test dieses destruktiven Wechselverhältnisses, die Präsidentschaftswahl in diesem November, steht jetzt ins Haus. Was wir immer deutlicher sehen ist, dass die USA in zunehmendem Maße in zwei fast unverbundene – und leider fast gleich große – Teile zerfällt: das liberale, demokratische Amerika vor allem der großen Städte und das dumpfe, rückwärtsgewandte, evangelikale Amerika mit seinen politisch reaktionären Milieus im harten Kern. Eine der Scheidelinien zwischen den auseinanderdriftenden Welten ist der Rassismus, der freilich zu den Geburtsfehlern der US-amerikanischen Demokratie gehört, aber in den wachsenden liberalen Milieus allmählich doch überwunden werden konnte. Da diese vor allem in den großen Städten anzutreffen sind, fühlt sich Trump wahltaktisch auf der sicheren Seite, wenn er in seiner atemberaubenden Mischung aus Zynismus und Ignoranz die totbringende Pandemie zur Nebensache erklärt, weil sie offenbar vor allem jene dahinrafft, die ihn sowieso nicht wählen. Kann eine Demokratie tiefer sinken, ehe sie ganz ihren Geist aufgibt?

Dieser Zustand seiner ehemaligen Schutzmacht enthält mehr als eine Lehre für das politische Europa. Es beginnt damit, dass auf diesen Präsidenten in keiner Hinsicht Verlass ist, auch nicht, erst recht nicht, wenn er seinen Willen bekommt. Die Europäische Union ist nun ganz auf sich selbst gestellt – und wird in der Welt als Vermittlerin und Moderatorin dringend gebraucht, vor allem um den »neuen Kalten Krieg« zwischen den USA und China einzudämmen. Dazu muss sie sich als soziale, wirtschaftliche und humane Regionalmacht entschiedener als bisher zusammenraufen und souveräne Macht gewinnen. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft gibt unserem Land die Gelegenheit, einen großen Beitrag dazu zu leisten. Das ist das Schwerpunktthema dieser Ausgabe.

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