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Identitätspolitik Editorial

Es fällt vielen von uns schwer, täglich all die gebotenen Regeln der an- und abschwellenden Coronakrise zu beherzigen. Das Missverhältnis zwischen der Größe der unsichtbaren Gefahr und der scheinbaren Geringfügigkeit der eigenen Regelverletzung bei dieser oder jener Gelegenheit erweist sich als eines der großen Probleme. Mehr als verwunderlich ist es allerdings, wenn sogar Spitzenpolitiker, nicht nur der FDP, die Laisser-faire-Neigung immer aufs Neue mit der Parole anheizen, die geforderten Freiheitsbeschränkungen seien ein unzumutbarer Übergriff des Staates. Diesem libertären Missverständnis liegt keinesfalls der Begriff von Freiheit zugrunde, den das Grundgesetz meint. Denn letzterer verwechselt nicht Freiheit mit Willkür, sondern teilt mit Immanuel Kant die Erkenntnis, dass von Freiheit nur dort die Rede sein kann, wo die gleichen Freiheits-, erst recht Lebensrechte aller anderen beim eigenen Handeln gleichrangig mitbedacht werden. Wenn daran von Zeit zu Zeit öffentlich erinnert würde, dürfte mancher Unmut der angebrachten Nachdenklichkeit weichen.

»Identitätspolitik« ist in jüngster Zeit zu einem großen Thema mit oft unerwarteten Volten und vielen erwartbaren Missverständnissen geworden. Wir wollen in dieser Ausgabe mit einer breiten Palette sehr unterschiedlicher Texte zur Aufklärung beitragen. Das beginnt mit dem Begriff, der zu weit gespannt scheint, um die entscheidenden Unterschiede, sogar Gegensätze zu fassen, mit denen er in der laufenden Debatte von links bis rechts gefüllt wird. Wie üblich ist dieses Dilemma nicht durch Sprachverbote aus der Welt zu schaffen, sondern allein durch beharrliche und überzeugende Differenzierung. Das fängt mit der Klarstellung an, dass die Wahl oder die Selbstbehauptung einer Identität (oder wie zumeist mehrerer Identitäten) nicht gleichzusetzen ist mit Identitätspolitik und ein Freiheitsrecht ist. Wo die Selbstbehauptung persönlicher Identität allerdings zu Identitätspolitik führt, macht es einen Unterschied ums Ganze, ob diese auf den sozialen Vorrang der eigenen Gruppen-Identität vor allen anderen zielt, wie in der rechten Variante, oder auf die Gleichstellung bislang benachteiligter Kollektive, wie bei den meisten linken Spielarten – also exklusiv oder inklusiv, Privilegien sichernd oder überwindend. Weniger eindeutig beginnt die Sache allerdings zu werden, wenn es um die immer kleinteiligere Unterscheidung der besonderen Merkmale der jeweiligen Anspruchskollektive geht und darum,wie ihnen im sozialen Zusammenleben Gerechtigkeit widerfahren kann. Unter anderem davon handeln die Beiträge dieser Ausgabe.

Unsere Rubrik »Wir wählen« enthält zwei inhaltsreiche Artikel zu den Themen, um die es in diesem Wahljahr geht und zur Verfassung der politischen Parteien.

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