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Solidarität in Corona-Zeiten Editorial

Dennoch können viele der gebotenen Einschränkungen und Verzichte sogar mit Strafandrohung kaum durchgesetzt werden und die Hoffnung, mit vernünftigen Regeln und moralischen Appellen allein einsichtiges Handeln zuverlässig zu gewährleisten, ist verflogen. Zu viele, wenn auch weiterhin nur rabiate Minderheiten, pochen auf ihre individuellen Freiheitsrechte, als würden diese sie immer zu allem ermächtigen, was sie am liebsten täten.

Von Solidarität ist in der öffentlichen Debatte dagegen kaum die Rede. Was vorherrscht, ist ein egoistisch verkürztes Verständnis von Freiheit, das sich der Einsicht verweigert, dass es ja stets auch um die Abwägung der Folgen des eigenen Handelns für die Freiheitrechte aller anderen Mitglieder der Gesellschaft gehen muss, also um gleiche Freiheit – erst recht, wo Gesundheit und Leben auf dem Spiel stehen. Spätestens bei diesem Abwägen kommt die Solidarität ins Spiel, nämlich als moralische Verpflichtung, menschliche Lebensinteressen der Anderen beim Gebrauch der eigenen Freiheit auch dort im Auge zu behalten, wo das Recht es nicht verlangt.

Müsste nicht schon das von Immanuel Kant formulierte Prüfkriterium reichen: Würde ich genauso vorgehen, wenn alle nach derselben Regel handelten, wie ich selbst in diesem Moment? Es ist schon mehr als erstaunlich, dass sich die öffentliche Debatte ausschließlich um die »Freiheit« dreht und weder Gleichheit noch Solidarität ins Spiel kommen, die ihr doch erst Inhalt und Grenzen geben. Vergessen scheinen auch die in der Atomdebatte einst bei uns so wirkungsstarken Ratschläge des großen Zukunftsphilosophen Hans Jonas, bei unsicheren Prognosen über die Folgen unseres Handelns im Zweifel eher vom größeren Risiko auszugehen. Das sind Fragen, die jetzt zumindest eine öffentliche Debatte verdienen, damit allen bewusst wird, welchen Normen und Werten sie in diesen unsicheren Zeiten wirklich folgen wollen. Denn klar geworden ist immerhin zweierlei: Ohne durch das freiwillige Mitwirken fast aller wird sich diese Pandemie nicht bezwingen lassen, und: Im Falle des Scheiterns kommen dann eben die strikteren Einschränkungen ohne Pardon.

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