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Gedämpfte Erwartungen an die deutsche Ratspräsidentschaft Ehrliche Maklerin oder dynamische Antreiberin

Die Erwartungen an die Bundesregierung sind hoch, sie soll als ehrliche Maklerin und dynamische Antreiberin die großen Zukunftsthemen der EU endlich angehen: Migration, Klimawandel, Digitalisierung, strategische Autonomie. Die Agenda für die deutsche Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli begann, ist in der Tat ehrgeizig. Doch jetzt droht die Covid-19-Pandemie alles zu überlagern. Viele fürchten, dass diese herausfordernden Themen in den Hintergrund treten und sich alle Anstrengungen der deutschen Ratspräsidentschaft auf die Bewältigung der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Folgen der Pandemie richten werden. Nun muss eine »Corona-Präsidentschaft« (Heiko Maas) nicht unbedingt schlecht sein; sie könnte vielmehr eine Chance bieten, die Zukunftsfähigkeit der EU zu stärken. Diese scheint angesichts von Covid-19 mehr denn je infrage zu stehen.

Nach der Euro-, Migrations- und Brexit-Krise (um nur einige der Krisen zu nennen) scheint Covid-19 die EU erneut in ihrer Existenz herauszufordern. Wieder haben die Mitgliedstaaten reflexartig Zuflucht bei unilateralen Maßnahmen gesucht. Wieder wird die EU dafür verantwortlich gemacht, die Krise nicht verhindert bzw. ihre Folgen für Menschen innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen nicht abgemildert zu haben. Und wieder fordern prominente Stimmen in Wissenschaft und Politik, dass die EU nun endlich den Sprung zu einer politischen und sozialen Union wagen müsse, um das Integrationsprojekt zu retten.

Die Lage ist in der Tat ernst. Mit der Wiedereinführung von Grenzkontrollen haben die Mitgliedstaaten die Freizügigkeit ausgesetzt, die den Kern des Integrationsprojektes ausmacht. Der Ausfuhrstopp auf medizinische Ausrüstung in Nachbarländer und die hitzigen Debatten zwischen den friends of better spending (Deutschland, Österreich, Niederlande) und friends of cohesion (Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Frankreich) über die Einführung von gemeinsamen Anleihen (Corona-Bonds) stehen für den Mangel an europäischer Solidarität. Das gilt auch für die Weigerung der Mitgliedstaaten, die 40.000 Geflüchteten, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in griechischen Aufnahmelagern leben, aufzunehmen. Schließlich schauen EU-Institutionen tatenlos zu, wie die ungarische und polnische Regierung im Namen der Pandemiebekämpfung den Rückbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vorantreiben.

Gleichzeitig haben EU-Institutionen beträchtliche Handlungsfähigkeit bewiesen: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat eine Initiative zur Finanzierung von Kurzarbeitergeld in Höhe von 100 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Weitere 37 Milliarden Euro hat die Kommission aus den EU-Strukturfonds für die Bekämpfung der Pandemie verfügbar gemacht. Die Europäische Investitionsbank (EIB) stellt bis zu 200 Milliarden Euro Bürgschaften für Mittelstandskredite bereit. Die Mitgliedstaaten können beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) Kreditlinien bis zu 2 % ihres Bruttoinlandsprodukts beantragen, um direkte und indirekte Kosten der Pandemie im Gesundheitssektor zu decken. Schließlich hat die Europäische Zentralbank (EZB) ein neues Anleihekaufprogramm aufgelegt, um potenziell unbegrenzt Liquidität in der Eurozone zu gewährleisten. Diese Anleihekäufe hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ausgenommen von seiner Entscheidung gegen die Anleihekäufe der EZB im Rahmen der Bewältigung der Eurokrise.

Das erste Paket an Soforthilfemaßnahmen umfasst ca. eine halbe Billion Euro. Ihm soll ein Wiederaufbauprogramm im Umfang von einer Billion Euro folgen, auf das sich der Europäische Rat Ende April in Grundzügen geeinigt hat. Anstatt gemeinsamer Anleihen (Corona-Bonds) ist die Kommission aufgefordert, einen Finanzierungsvorschlag über den EU-Haushalt vorzulegen. Dieser könnte eine Anhebung der Eigenmittelobergrenze von 1,2 auf 2 % des Bruttosozialprodukts für die nächsten drei Jahre beinhalten, was eine Verdopplung des EU-Haushaltes für diese Zeit bedeuten würde. Die Bundesregierung hat bereits ihre Kompromissbereitschaft signalisiert. Die restlichen der frugal five (Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark) halten sich bisher allerdings bei der Frage nach höheren Mitgliedsbeiträgen zurück. Ein weiterer Streitpunkt bezieht sich auf die Frage, ob die Wiederaufbauhilfen als günstige Kredite oder – um die Staatsverschuldung der von der Pandemie stark betroffenen Staaten nicht weiter in die Höhe zu treiben – als Zuschüsse gewährt werden.

Bei den EU-Wiederaufbauhilfen geht es nicht nur um europäische Solidarität, sondern um die Aufrechterhaltung grenzübergreifender Zulieferketten und um faire Wettbewerbsbedingungen im Binnenmarkt. Beides ist im ureigenen Interesse Deutschlands. Gleichzeitig bieten Verhandlungen über die Finanzierung die Gelegenheit, wichtige Themen der ursprünglichen Agenda für die deutsche Ratspräsidentschaft voranzubringen. Das gilt vor allem für den Klimawandel, die Digitalisierung und auch die Migration. Europäische Solidarität ist keine Einbahnstraße. Mitgliedstaaten, die von den Hilfsmaßnahmen der EU profitieren wollen, müssen bereit sein, an der Verwirklichung von EU-Zielen und -Vorgaben an anderer Stelle mitzuwirken. Dazu gehört die Einhaltung und Weiterentwicklung der Verringerung von Treibhausgasemissionen und des gesamteuropäischen Asyl- und Migrationssystems genauso wie die Achtung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Selbst in die Verhandlungen mit Großbritannien über seine künftigen Beziehungen zur EU könnte eine neue Dynamik kommen. Die Bank of England warnt, dass sich die Arbeitslosigkeit in Großbritannien verdoppeln und die britische Wirtschaft um 14 % schrumpfen könnte. Und da ist der Brexit-Effekt noch gar nicht eingerechnet. Wenn Premierminister Johnson seine starre Haltung aufgibt und eine Verlängerung der Verhandlungsfrist beantragt, könnten sich beide Seiten auf einen Deal einigen, der Großbritannien Zugang zu bestimmten Wiederaufbauhilfen gewähren würde im Gegenzug für die Einhaltung von EU-Umwelt-, Sozial- und Technikstandards.

Bundeskanzlerin Angela Merkel ist die dienstälteste Regierungschefin in der EU und bekannt dafür, pragmatische Lösungen auszuhandeln. Für sie ist das Ziel der deutschen Ratspräsidentschaft mehr Europa. Das bedeutet allerdings nicht unbedingt mehr Macht für Brüssel. Es ist kaum zu erwarten, dass die Kanzlerin die Ratspräsidentschaft zum Anlass nimmt, die seit langem geforderten Reformen nach einer gemeinsamen Wirtschafts- und Fiskalpolitik anzugehen. Das Schweigen aus Berlin ist auch eine Antwort auf die von Emmanuel Macron im März 2019 vorgelegten Reformvorschläge für eine gemeinsame Wirtschafts- und Sozialpolitik. Die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Frankreich und Deutschland, die 1990 die Schaffung einer europäischen Wirtschaftsunion verhinderten, bestehen bis heute fort. Die Konferenz zur Zukunft Europas, von der sich so manche*r einen Reformprozess nach dem Vorbild des Verfassungskonvents von 2002/2003 erhofft, ist erst einmal auf den Herbst verschoben.

Gleichzeitig können sich die Mitgliedstaaten nicht länger auf von der Politik unabhängige EU-Organe wie die EZB, die EIB oder den ESM verlassen, um die Kosten des EU-Krisenmanagements zu schultern. Solche Entscheidungen bedürfen der demokratischen Legitimation. Die bisherige Strategie der Mitgliedstaaten, politisch kontroverse Entscheidungen nicht-majoritären Institutionen zu überlassen und sie damit demokratischen Entscheidungsprozessen zu entziehen, stärkt genau die Kräfte, die eine Rückkehr zum Nationalstaat fordern und deren Widerstand die nationalen Regierungen zu Hause umgehen wollen. Populisten mobilisieren mit ihren fremdenfeindlichen Angriffen und ihrer Hetze gegen die EU und ihre Institutionen nicht nur Wähler*innen. Sie ziehen im Namen von Demokratie und nationaler Souveränität vor Gericht. Ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht hat ihrer Klage stattgegeben. Indem die Richter*innen in Karlsruhe sich anmaßen, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für unwirksam zu erklären, greifen sie den Vorrang des Gemeinschaftsrechts als Grundpfeiler der europäischen Rechtsgemeinschaft an. Das Bundesverfassungsgericht spielt damit den Populisten in Polen, Ungarn und auch im eigenen Land in die Hände, die Eingriffe der EU in die nationale Souveränität aus ganz anderen Gründen unterbinden wollen, nämlich um die Verteilung von Geflüchteten, die Unabhängigkeit der Gerichte, die Medienfreiheit und zukünftig vielleicht auch das Spannen von EU-Rettungsschirmen zu beschränken.

Die deutsche Ratspräsidentschaft wird diese Herausforderungen kaum mit großen Reforminitiativen angehen. Sollten die Staats- und Regierungschefs ihre Interessenkonflikte auch in den kommenden Monaten per Videokonferenz austragen müssen, wird es für die deutsche Ratspräsidentschaft schwierig genug werden, Durchbrüche bei der Finanzierung des Hilfs- und Wiederaufbauprogramms, dem damit verbundenen mehrjährigen Finanzrahmen und den künftigen Beziehungen zu Großbritannien zu erzielen.

Überzogene Erwartungen an die Reformfähigkeit der EU befeuern nicht nur europafeindliche Populisten, die Ängste vor einem technokratischen Supereuropa schüren. Sie führen auch zu Enttäuschungen bei den Unterstützer*innen der Vereinigten Staaten von Europa. Die EU ist kein Staat und wird es auf absehbare Zeit nicht werden. Sie verfügt aber bereits jetzt über ausreichende Souveränität, um auf Krisen und gesellschaftliche Herausforderungen wirksam reagieren zu können. Das Problem ist eher, dass sie sich ihre Souveränität mit den Mitgliedstaaten teilen muss. Das verschafft der EU einerseits demokratische Legitimität. Andererseits kann sie nur handeln, wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Verantwortung wahrnehmen und der EU die notwendigen Finanzmittel bereitstellen bzw. notwendige Entscheidungen im Rat treffen, statt sie der EZB oder der Kommission zu überlassen. Wenn die Mitgliedstaaten dann auch noch der EU die Verantwortung für ihr eigenes Politikversagen zuschieben bzw. sie der Kompetenzanmaßung beschuldigen, brauchen wir uns nicht wundern, dass es in der EU nicht vorangeht.

An der Dynamik, die EU für Politik verantwortlich zu machen, ohne ihr die Verantwortung für diese Politik zu geben, wird die deutsche Ratspräsidentschaft nichts ändern. Sie wird vielmehr den Zeitdruck der Corona-Krise, des endenden EU-Haushalts und der auslaufenden Frist für die Brexit-Verhandlungen nutzen, um kontroverse Entscheidungen herbeizuführen, die dann hoffentlich nicht einfach der Öffentlichkeit als alternativlos präsentiert, sondern als für den Zusammenhalt Europas notwendig und angemessen vertreten werden.

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