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© picture alliance / Winfried Rothermel | Winfried Rothermel

Über die Freiheitsidee der Arbeit muss neu gesprochen werden Ein brüchiges Ideal

Diese Frage hat mindestens zwei Dimensionen: Wie verstehen wir Arbeit und was zeichnet Arbeit tatsächlich aus? Die erste ist die begriffliche, die zweite die empirische Dimension. Angesichts dessen könnte eine erste Antwort auf die Ausgangsfrage lauten, dass das, was wir heute unter Arbeit verstehen und das, was Arbeit in weiten Teilen tatsächlich ausmacht, auseinanderfallen. Um das einzuordnen, lohnt ein Blick in die Geschichte.

Der Begriff der Arbeit muss in offenen demokratischen Arbeitsgesellschaften mit der Idee der Freiheit verbunden werden. Diese Verbindung hängt historisch unmittelbar zusammen mit der Entstehung der modernen Arbeitsgesellschaft. Über Jahrhunderte war Arbeit der Ausdruck von Naturnotwendigkeit und Unfreiheit. Frei konnte da nur sein, wer nicht arbeitete. Diese alte Vorstellung änderte sich aber mit den wissenschaftlichen und bürgerlichen Revolutionen ab dem 16. und 17. Jahrhundert. Ein Prozess setzte ein, durch den der Arbeitsbegriff nach und nach mit der Idee der Freiheit verknüpft wurde. Das moderne Paradigma der Arbeit entstand, demzufolge sie sowohl für das einzelne Individuum als auch für die Gesellschaft als eine Quelle der Freiheit gesehen wurde.

Auf der Seite des Individuums wurden insbesondere zwei Ideale für dieses moderne Paradigma der Arbeit tragend: Das Leistungsideal und das Selbstverwirklichungsideal. Das Leistungsideal gründet auf dem Anspruch, dass nicht etwa die soziale Herkunft, sondern die individuelle Arbeitsleistung die ökonomische und soziale Position des Individuums in der Gesellschaft bestimmen sollte. Ein Anspruch, der sich im Zuge der bürgerlichen Revolution herausbildete, im 18. Jahrhundert den Übergang der feudalen in eine bürgerliche Gesellschaft vorantrieb und bis heute eine der wesentlichen Legitimationsgrundlagen freier Arbeitsgesellschaften darstellt.

Das Selbstverwirklichungsideal beruht auf der Annahme, dass Arbeit eine wesentliche Quelle des Ausdrucks des eigenen Selbst ist. Nach diesem Ideal ist Arbeit nicht »bloß« ein Instrument zum Gelderwerb, um ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen; vielmehr sei darin die Frage nach der eigenen Identität zentral: Hier drückt sich aus, wer man ist oder wer man sein möchte.

Auf der Seite der Gesellschaft wurden insbesondere die folgenden zwei Ideale für das moderne Paradigma der Arbeit tragend: Arbeit als Quelle der Befreiung der Menschen vom Diktat der Naturnotwendigkeit und Arbeit als Quelle des gesellschaftlichen Wohlstands. Beide Ideale wurden durch die wissenschaftlichen und industriellen Revolutionen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts begründet. Ersteres Ideal kann als technisches, letzteres als ökonomisches Ideal der Arbeit bezeichnet werden.

Dem technischen Ideal zufolge ist die Verbindung von Arbeit und Technik oder Arbeit als Mittel, um technische Entwicklungen voranzutreiben, die entscheidende Quelle, um die Menschen von den Naturnotwendigkeiten zu befreien, die sie als körperliche Lebewesen und Teil der natürlichen Umwelt bestimmen. Dieses Ideal gründet auf einer Idee der Freiheit, der zufolge sich die Freiheit des Menschen wesentlich in seiner Unabhängigkeit von und Beherrschung der Natur ausdrückt. Dem ökonomischen Ideal zufolge, ist Arbeit ein ökonomischer Produktionsfaktor und die eigentliche Quelle ökonomischer Wertschöpfung. Diese Ökonomisierung der Arbeit war ausschlaggebend für die Verschiebung des allgemeinen Zwecks der Arbeit von »bloßer« Existenzerhaltung hin zu allgemeiner Wohlstandsvermehrung.

Diese vier Ideale der Arbeit haben die Entstehung der Arbeitsgesellschaft vorangetrieben und ihre normative Legitimationsgrundlage begründet: Die Arbeitsgesellschaft gewährt jedem Individuum über die selbstgewählte Arbeitsleistung die gerechte Teilhabe am Wohlstand der Gesellschaft, der durch die Arbeit erzeugt wird. Wirft man nun einen Blick auf den tatsächlichen Zustand der gegenwärtigen Arbeitswelt, so springt einem schnell vieles ins Auge, das berechtigte Zweifel an der Gültigkeit dieser vier Freiheitsideale der Arbeit hervorruft.

Während in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg das Leistungsideal in den westlichen Industrienationen eine Blütezeit erlebte, ist heute die Aussicht, durch die individuelle Arbeitsleistung einen sozialen und ökonomischen Aufstieg zu erfahren für die meisten Erwerbstätigen in weite Ferne gerückt. Die Aufstiegsmobilität in den Nachkriegsjahrzehnten, die der Soziologe Ulrich Beck 1986 mit dem Begriff des »Fahrstuhleffekts« beschrieb, hat sich heute in eine Abstiegsmobilität umgekehrt, die der Soziologie Oliver Nachtwey in dem Bild der »Rolltreppe nach unten« zusammenfasst.

Die »Aufstiegsgesellschaft« der Nachkriegsjahrzehnte zeichnete sich wie auch die gegenwärtige »Abstiegsgesellschaft« durch ein wachsendes Bruttoinlandsprodukt bei gleichzeitiger sozialer Ungleichheit aus. Während in der »Aufstiegsgesellschaft« allerdings alle etwas von dem wachsenden Kuchen abbekamen und gemeinsam im »Fahrstuhl« nach oben fuhren, profitieren heute in der »Abstiegsgesellschaft« nur einige wenige von dem wachsenden Kuchen und immer mehr fahren auf der »Rolltreppe nach unten«.

Die Gründe für die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, in denen sich diese Entwicklung spiegelt, sind vielfältig: von Steuersenkungen und mangelnden Investitionen in öffentliche Institutionen, über den Abbau der sozialen Sicherungssysteme bis hin zum Ausbau von Subunternehmensstrukturen und der Zunahme an Leiharbeits- und Scheinselbstständigkeitsverhältnissen in der Privatwirtschaft. Natürlich ist es auch heute noch möglich durch die individuelle Arbeitsleistung einen sozialen und ökonomischen Aufstieg zu erfahren. Immer mehr Studien zur gegenwärtigen Lage der Arbeitswelt weisen allerdings darauf hin, dass die Möglichkeit über Erwerbsarbeit aufzusteigen – auch in den westlichen Industrienationen – nicht die Regel, sondern die Ausnahme der Arbeitsrealität der meisten Erwerbstätigen ist.

Dabei fällt Folgendes besonders auf: Gerade in den Arbeitsbranchen, die in der Coronapandemie mit dem Label »systemrelevant« versehen wurden, sind die Arbeitsbedingungen besonders problematisch. Wenn man auf die Frage, was man eigentlich genau unter einer »Leistung« versteht, die plausible Antwort gibt, dass eine Tätigkeit besonders relevant oder wichtig für die Gesellschaft ist, dann wird an dieser Stelle ein Widerspruch der gegenwärtigen Arbeitswelt sichtbar. Dieser Widerspruch hinsichtlich des Leistungsideals spiegelt sich auch in Bezug auf das Selbstverwirklichungsideal wider: In den Arbeitsbranchen, die in der Coronapandemie als die besonders systemrelevanten sichtbar wurden, ist gleichzeitig die Sichtweise, dass die eigene Arbeit ein Ausdruck der persönlichen Identität ist, nicht sehr verbreitet. Hier geht es weniger darum, wer man in der Arbeit ist oder sein möchte und mehr darum, dass man mit seiner Arbeit etwas für andere tut.

In den »weniger« systemrelevanten Arbeitsbranchen, wie der Kreativ-, Kunst- und Kulturbranche, in denen das Selbstverwirklichungsideal eine große Rolle spielt, ist die Sichtweise, dass die Arbeit ein Ausdruck der persönlichen Identität und Leidenschaft ist, häufig ein Grund dafür, dass prekäre Arbeitsbedingungen in Kauf genommen werden. Man verdient vielleicht nicht viel Geld und hat kein sicheres Anstellungsverhältnis, aber man »liebt« immerhin das, was man tut.

Auch hinsichtlich der Gültigkeit des technischen und ökonomischen Ideals der Arbeit lassen sich berechtigte Zweifel anführen: Nie zuvor in der Geschichte war die Abhängigkeit der Menschheit von natürlichen Ressourcen und die enge Verwobenheit der menschlichen Lebens- mit der natürlichen Umwelt so augenscheinlich wie heute. Die problematischen Auswirkungen der sich zuspitzenden Klimakrise können selbst die größten Skeptiker nur noch schwer leugnen und ein Virus legte innerhalb von ein paar Monaten die ganze Welt lahm.

Gleichzeitig ist die Menschheit in einem technischen Zeitalter angelangt, in dem der Einfluss der Technik auf die menschliche Lebens- und Arbeitswelt historische Ausmaße angenommen hat. Leben und arbeiten ohne irgendeine Nutzung von Technik ist heute nicht mehr vorstellbar. Wie revolutionär die technischen Errungenschaften des vergangenen Jahrhunderts waren und wie viel sie den Arbeits- und Lebensalltag des Menschen auch erleichtert und ihm ermöglicht haben, von der Abhängigkeit zu seiner natürlichen Umwelt haben sie ihn noch nicht befreit. Vielmehr hat die menschliche Lebens- und Arbeitsweise den Einfluss der Natur auf den Menschen weiter verstärkt.

Darüber hinaus wird die gegenwärtige Arbeits- und Lebenswelt immer stärker von der sogenannten »Plattformökonomie« bestimmt, die ihre ökonomische Wertschöpfung weniger aus menschlicher Arbeitskraft sondern aus Daten generiert. Der Wirtschaftshistoriker Aaron Benanav vertritt sogar die These, dass die herausragende Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft für die ökonomische Wertschöpfung überhaupt nur für eine ganz bestimmte Zeitspanne des Industriekapitalismus zutreffend war. Schon der Übergang der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft habe sie abgeschwächt, sie werde nun im Datenkapitalismus des 21. Jahrhunderts endgültig obsolet.

Egal, ob man mit dieser These übereinstimmt oder nicht, so lässt sich doch feststellen, dass die Plattformökonomie gegenwärtig zum einen dazu führt, dass immer weniger große Global Player die Wirtschaftswelt dominieren und kleinere Unternehmen vom Markt verdrängen. Zum anderen lässt sich feststellen, dass gerade in den Dienstleistungsbranchen, deren Dienste über eine Plattform angeboten werden, die Arbeitsbedingungen besonders prekär sind. Auch wenn diese problematischen Auswirkungen der Plattformökonomie immer mehr in das öffentliche, politische und rechtliche Bewusstsein rücken, so ist deren wirksame Bekämpfung gerade auch deshalb besonders schwierig, weil die politische und rechtliche Einflussnahme nationaler Institutionen auf das globale Netz der Plattformökonomie begrenzt bleibt.

Eine (un)freie Arbeitswelt

Was folgt nun daraus? Die pessimistische Antwort wäre: Arbeit hat weniger mit Freiheit zu tun, als wir das gerne hätten. Diese Antwort macht eine Lösung der gegenwärtigen Probleme der Arbeitswelt allerdings nicht gerade leichter. Wenn man an der Verbindung von Arbeit mit der Idee der Freiheit festhalten möchte – und das müssen Arbeitsgesellschaften tun, wenn sie als freie Gesellschaften bestehen sollen –, ist es daher vielmehr notwendig, unser Verständnis von Freiheit hinsichtlich des tatsächlichen Zustands der gegenwärtigen Arbeitswelt zu hinterfragen.

Dabei kann es nicht darum gehen, die vier Freiheitsideale der Arbeit gänzlich zu verteufeln: Das Ideal, dass nicht die soziale Herkunft, sondern die eigene Arbeit die soziale und ökonomische Position des Individuums in der Gesellschaft bestimmen und man in seiner Arbeit auch selbstbestimmt sein sollte – der Anspruch also, dass jede die Autorin ihres eigenen Lebens ist –, ist eine unbestritten attraktive Idee. Auch die Annahme, dass der technische Fortschritt zur Befreiung von körperlicher Mühsal und Last und auch zur Förderung von Gleichheit beigetragen hat und beiträgt, trifft in vielerlei Hinsicht zu. Und natürlich ist unstrittig, dass menschliche Arbeitskraft die Erzeugung des ökonomischen Wohlstands voranbringt.

Das Problem dieser Ideale besteht vielmehr darin, dass sie jeweils eine einseitige Idee der Freiheit beinhalten, die zugleich auf der Abwertung ihrer notwendigen Bedingungen basiert: Erstens: Leistung drückt sich eben nicht nur als ein individuelles Vermögen aus, sondern auch als Vermögen einer von Individuen geteilten Welt; zweitens: Selbstverwirklichung erfordert nicht nur individuelle Selbstbehauptung, sondern auch die Erschaffung einer Welt, in der so etwas wie Selbstverwirklichung und individuelle Vielfalt einen Platz haben kann; drittens: Die Emanzipation des Menschen bedarf nicht nur der Befreiung von der Natur, sondern auch des Erhalts einer Natur, in der der Mensch frei sein kann; viertens: Gesellschaftlicher Wohlstand erfordert nicht nur ökonomische Wertschöpfung, sondern auch die (Re)Produktion einer sozialen Welt, in der ökonomische Wertschöpfung gerecht verteilt ist.

All das verlangt nicht weniger als einen Paradigmenwechsel, der beinhaltet, dass die gegenwärtigen Arbeitsgesellschaften anerkennen, dass die heutige Arbeitswelt eine Welt ist, die Menschen über örtliche Grenzen und Generationen hinweg verbindet und deren Zustand maßgeblich beeinflusst, ob die Welt eine unfreie oder freie Welt ist. Die Zeitenwende, in der sich die freien demokratischen Arbeitsgesellschaften heute befinden, beinhaltet dann nicht nur die Verteidigung des Bestehenden, sondern auch, dass diese Gesellschaften ihr eigenes Freiheitsverständnis hinterfragen, um als freie Gesellschaften bestehen zu können.

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