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Ein Christ in der Politik: Herbert Wehner

Als vorbildlicher Patriot und Parlamentarier wurde Herbert Wehner in memoriam geehrt. Auffallend einmütig und hochrangig fiel das Angedenken an diesen Sozialdemokraten aus, der im Januar 1990 mit 83 Jahren verstarb. Die meisten Zeitgenossen jedoch werden Wehner aus der Distanz wohl anders wahrgenommen haben: beleidigend und beleidigt, wie abwesend murmelnd und im nächsten Moment grobschlächtig bellend. Hinter dieser schroffen Widersprüchlichkeit mussten unauslotbare Erlebnisse stecken – das spürte man. Die wenigen, die Herbert Wehner näher kannten, sprachen von seiner aufopfernden, jedes Aufsehen meidenden Hilfsbereitschaft für die »kleinen Leute«, die mit ihren Sorgen zu ihm kamen. Er selbst verschwieg auch seine bahnbrechenden Initiativen zur Aussöhnung mit Israel, Polen und der Sowjetunion. Ans Licht kamen sie erst, als er aus diesen Ländern mit Ehrungen überhäuft wurde. Ein politischer Pharisäer war Herbert Wehner nicht.

»Was mich antrieb, war Protest gegen die Lauheit oder, wie es mir damals schien, auch sogar Heuchelei, gegenüber jenen, die zwar bei entsprechenden Gegebenheiten die Bergpredigt feierten, sich aber nicht entsprechend verhielten.« In einem Interview aus dem Jahre 1969 bekannte sich Herbert Wehner dazu, dass ihn die Worte Jesu in der Bergpredigt herausgerufen hätten in das politische Engagement. Er wurde Kommunist, »um im Sinne der Bergpredigt die gesellschaftlichen Verhältnisse des menschlichen Zusammenlebens ändern zu helfen«. Wehners politische Leitidee blieb die Bergpredigt, deshalb brach er in der Emigration mit dem Kommunismus, so wie er zuvor mit der Kirche gebrochen hatte. Seine seelische Not in diesen Jahren, als ihn der Anspruch der Bergpredigt an Kirche und Partei verzweifeln ließ, dokumentieren die scheinbar distanzierten Sätze einer Ansprache, die Herbert Wehner 1964 in der Hamburger Michaeliskirche hielt: »Ich kenne die Situation des Menschen, der versucht, ohne die Kirche zu leben und meint, er vermöge ja dennoch (oder gar gerade so) mit dem Evangelium zu leben. In Wirklichkeit hält er die Spannung nicht aus. Sie geht über seine Kraft. Entweder zerbricht er an ihr oder sein Glaube und seine Hoffnung zerbrechen.« Allein »Diener Christi« solle die Kirche sein, betonte er dann in seiner Rede. Sehr zurückhaltend formulierte er diesen Auftrag, fast so, als habe er nach seinem Werdegang nicht das Recht, die Kirche an das zu erinnern, was auch die Not der von ihr entfremdeten Menschen wenden könnte.

1946 kam Herbert Wehner aus seinem schwedischen Exil nach Deutschland zurück und trat der SPD bei. Die erste Aufgabe, die er für die Sozialdemokratie übernahm, lässt Rückschlüsse auf seine besondere Motivation für ein zweites politisches Leben zu. Bereits im März 1947 gab er eine Schrift heraus, die unter dem Titel »Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche« drei Aufsätze von Karl Kautsky aus dem Jahre 1902 vereinte. Wehner lag daran, die beiden wichtigsten gesellschaftsgestaltenden Kräfte – Katholizismus und Sozialdemokratie – miteinander zu versöhnen. Das war für ihn kein wahltaktisches Manöver, sondern eine geschichtliche Lehre aus dem Zusammenbruch der Weimarer Republik und ein persönliches Anliegen. Wehner befürchtete, das machte er in seinem Vorwort deutlich, mit der Namenswahl der CDU werde das christliche Bekenntnis zum Monopol einer Partei gemacht, somit die Politik ideologisiert, der parteilich anders engagierte Christ diffamiert und der christliche Glaube entwertet. Er selbst brachte aus der Arbeit im Widerstand und den Jahren des Exils ganz andere Erfahrungen mit. Häufig hat Herbert Wehner später in Interviews, Reden und Schriften der Menschen gedacht, die sich im Sinne des Evangeliums gegen das Unrecht engagierten und mit ihm, dem damaligen Kommunisten, zusammenarbeiteten. Aufschlussreich ist dazu auch ein Aufsatz, den er 1942 – dem Jahr seines Parteiausschlusses – in der kommunistischen Emigranten-Zeitschrift Die Welt unter der Überschrift »Zur Weihnachtsbotschaft des Papstes« veröffentlichte. Man kann sich heute nur darüber wundern, wie es möglich war, in einem eher stalinistischen Blatt die Kirche als richtungsweisende moralische Autorität vorzustellen.

Im Jahr 1980 befragte der »Sozialdemokratische Informationsdienst Kirchenfragen« Herbert Wehner zu Themen aus dem Umfeld Kirchen und SPD. Zum Abschluss stellte der Interviewer fest: »lch habe noch niemals mit einem Sozialdemokraten ein Interview geführt, bei dem die Bibel gleich neben dem Aufnahmegerät auf dem Tisch lag. Hatten Sie dazu noch einen besonderen Punkt, den ich vielleicht vergessen habe?« Daraufhin antwortete Herbert Wehner: »Ich habe gar keine besonderen Punkte. Hier liegen eine ganze Menge Lesezeichen darin. Und das sind Lesezeichen, die ich hineingelegt habe, als ich im Zuchthaus gesessen habe, und als mir einmal der Leiter des Gefängniswesens die Frage gestellt hat, ob ich Wünsche hätte. Und ich hatte Wünsche, nämlich, dass ich die Erlaubnis bekommen würde, einige Bücher, an denen mir besonders liegt oder lag, auch in der Gefängniszelle haben zu können und in ihnen zu lesen. Und da war unter den zehn Büchern auch die Bibel, die der Mann mir vermittelt hat, sonst hätte ich gar keine gehabt nach den dortigen Bestimmungen. Und da habe ich natürlich viel drin gelesen, und die Lesezeichen zeigen, was ich dann auch später immer wieder einmal besonders aufgeschlagen habe, z. B. das 13. Kapitel des l. Korintherbriefes oder den 23. Psalm oder die Bergpredigt.«

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