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Ein Dramaturg fragt: Geht`s noch, Herr Castorf?

Auf den ersten Blick lässt das Interview, das Frank Castorf dem Spiegel-Redakteur Wolfgang Höbel gegeben hat (28. April 2020) daran zweifeln.

Völlig verstiegen, verwirrt womöglich ist es, was der Ex-Intendant der Berliner Volksbühne und Kult-Regisseur da von sich gibt: Die Nachrichten in Sachen Corona-Krise hält er für eine »Kampagne«. Die »von Politikern und Virologen dekretierten« Maßnahmen für »Hau-Ruck-Aktionismus«, völlig überzogen, angesichts der Sterblichkeitszahlen: Erst »wenn wir« ohne die drakonischen Maßnahmen »in wenigen Wochen 600.000 bis 1,5 Millionen Tote hätten«, würde er »sofort einsehen, dass wir einen Ausnahmezustand haben«. Es gefalle ihm »überhaupt nicht, dass mir jemand sagt: ›Das darfst Du nicht.‹ Und ob ich je wieder darf, hängt von der Gnade von Leuten ab, die für anderes gewählt wurden und deren Inkompetenz allen klar ist. Trotzdem dürfen sie jetzt Machtpolitik ausüben. Ich möchte mir von Frau Merkel nicht mit einem weinerlichen Gesicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss. Das beleidigt meine bürgerliche Erziehung.« Er möchte sich »nicht retten« lassen und beklagt die Abwesenheit von »republikanischem Widerstand« wie es ihn Ende der 60er Jahre in der BRD gegen die Notstandsgesetze gegeben habe; und er stellt »mit Erschrecken fest«, dass er plötzlich sogar Donald Trump mag: »Weil der aus der Reihe tanzt.« Er sei »immerhin der gewählte Repräsentant des amerikanischen Volkes. Aber er wird lächerlich gemacht, zum Idioten erklärt, weil er in der Krise anders handelt als die Deutschen.« Und so weiter und so fort.

Man könnte tatsächlich auf die Idee kommen, dem Theaterkünstler seien – vielleicht wegen der erzwungenen Untätigkeit in seiner angestammten Profession, mit wirklichen Menschen »Welt« zu inszenieren? – die Sicherungen durchgebrannt.

Doch es ist natürlich weder Debilität noch eine sonstige Störung, die die Vorstellung bei einem Psychiater nahelegen würde. Vielmehr ist Castorf klar bei Verstand, das zeigt der zweite Blick auf die Wahl der Worte und die Auswahl der Bilder und Metaphern. Und das macht seine Suada besonders unangenehm und durch seine Prominenz auch gefährlich. Das dumpfe Ressentiment – schon die Begriffe Lockdown und Shutdown machten ihn bösartig, erklärt er –, das er mit verschiedenen rechts wie links durchgeknallten Populisten teilt, wird durch den Anschein von Argumentation scheinbar salonfähig: Schließlich sei der Tod Bestandteil des Lebens, raunt er, und man solle doch nicht meinen, die Lebensverlängerung für ein paar wenige Betroffene könne es wert sein, derartige Zwangsregime aufzurichten. Da wird das Fahrwasser wirklich trübe, in dem sich der beschäftigungslose Regieberserker bewegt.

Vermutlich muss man Castorfs Werk und Wirken im Lichte seines Altersfurors nochmal neu lesen und mir schwant, dass das keine erbauliche Lektüre wird. Seine wiederkehrenden Koketterien mit vor allem dem rechten Spektrum zuzurechnenden totalitären Salonfaschisten wie Céline, Knut Hamsun oder Arnold Bronnen werden hier womöglich kenntlich als totalitäre Volte eines losgelassenen und wild gewordenen »Humanismus«, der schon bei Adorno und Horkheimer als die dunkle Seite der Aufklärung ausgemacht worden ist. Und auch seine meist als ironisch verstandenen Referenzen auf Josef Stalin, dessen großformatiges Porträt in seinem Intendantenzimmer in der Volksbühne hing, könnten sich womöglich als skeptisch positiver Bezug herausstellen.

Solch radikaler »Humanismus«, der mit der Idee des Menschen als Krone der Evolution schrankenlos wird, mag am Theater interessante Spekulationen zum Vorschein bringen, die zu Streit, Kontroverse anregen und damit womöglich auch Erkenntnis produzieren und gesellschaftlichen Bewusstseinsfortschritt. Doch Castorf äußert sich im Spiegel nicht als Regisseur im Medium der Illusionswelt der Bühne, sondern als Zoon politikon in der Öffentlichkeit – und verlässt damit die Sphäre der Kunst.

Was in der Theaterkunst als »witzige« – im Sinne des romantischen Sprachstandes gemeint, also geistvolle – Provokation gelten kann, wird auf der Ebene des explizit politischen Statements zu faschistoidem Populismus. Castorf verlässt die Position des genialen künstlerischen Weltenschöpfers und tritt ins wirkliche Leben der Gesellschaft als wildgewordener, bösartiger, libertär-hedonistischer Kleinbürger, der sich dem Spiegel als Sprachrohr andient, sich allerdings damit auch dem Niveau der Jungen Freiheit assimiliert.

Einen wesentlichen Charakterzug dieses Kleinbürger-Exzesses hat der Kollege Markus Decker beim Redaktionsnetzwerk Deutschland in seiner Kommentierung identifiziert: Castorf zeige »sich als ein Vertreter jenes neuen Typs von Intellektuellen, die die Welt nicht etwa geistig durchdringen, sondern sich im Gegenteil etwas darauf einbilden, dass sie die Welt weithin nicht zur Kenntnis nehmen«. Mit Trump teilt Castorf jedenfalls die Weigerung, sich der Anstrengungen der Beurteilung der Phänomene der Wirklichkeit zu unterziehen – also den Expertinnen und Experten sowie den ansonsten vorgebrachten Argumenten zuzuhören – und stattdessen das blinde individuelle Meinen als Wirklichkeit und Wahrheit zu postulieren: die Welt als Wille und Vorstellung. Auch dieses ist in der Theaterkunst erlaubt und – spätestens seit der Postmoderne – für die Kunst als radikale Subjektivität richtiggehend erwünscht: weil das Publikum nicht länger als zu erziehendes und zu belehrendes zu denken ist, sondern als aufgeklärtes, das seine eigenen Urteile bildet, begründen kann und sich damit in die gesellschaftlichen Diskurse grundsätzlich auf Augenhöhe einschalten kann. Doch das Theater ist das Theater – und die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit.

Man wird sich das merken und auf das zurückliegende und zukünftige Werk des in der DDR und als Intendant der Volksbühne als subversiver Kultregisseur geadelten Castorf sehr genau schauen müssen. Was da unter den Bedingungen der Untätigkeitsgebote aus dem Denken einer sich selbst wohl für unfehlbar haltenden Ikone an Bodensatz zum Vorschein kommt, ist vielleicht kein Kollateralschaden, sondern eine ungewollte Kollateralerhellung. Wenigstens aber eine Selbstentblößung.

P.S.: Allerdings, wäre da nicht ein wenig journalistische Ethik zu befragen gewesen, verehrte Kolleginnen und Kollegen in Hamburg!? Musste das wirklich sein? Was zum Teufel ist Spiegel-relevant am Gebrabbel eines abgehalfterten Ex-Intendanten zu einem höchst brisanten und gewichtigen Thema? Denn schlimm ist daran doch die offiziöse Weihe, mit der die dumpfe Rebellion als »republikanischer Widerstand« durch die Prominenz Castorfs und ihrer Präsentation versehen wird: Castorf im Spiegel-Gespräch – das ist ja fast schon, als wär’s die Tagesschau. Also mindestens legitim, sowas zu denken, zu meinen und laut zu sagen, wie die Herren Höcke, Kalbitz, aber auch Gauland zu postulieren pflegen. Ermutigung für das »gesunde Volksempfinden«, das sich auch (weiland) montags auf Dresdens Theaterplatz, in Schnellroda und neuerdings auch vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz auszudrücken pflegt.

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