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© Foto: picture alliance/dpa |XAMAX.

Ein Dramaturg fragt: Warum ist »Babylon Berlin« gescheitert?

Dabei hätte das wirklich was werden können. Ein interessanter Stoff, ein profiliertes künstlerisches Team, ein außergewöhnlich auskömmliches Budget und ein grandioser Cast: Die Konstellation deutete auf ein Projekt hin, das es im deutschen Fernsehen so noch nicht gegeben hat. Die historischen Kriminalromane Volker Kutschers, die im Berlin der späten Zwanzigerjahre spielen und spannende Unterhaltung in die Hinter- und Abgründe des Scheiterns der Weimarer Republik einbetten; mit Tom Tykwer, Achim von Borries und Henk Handloegten drei profilierte Filmemacher, die gemeinsam für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnen und ausdrücklich als Team antreten. 40 Millionen Euro bringen die ungleichen Produktionspartner – die ARD und Sky, sowie X Filme Creative Pool und Beta Film – mithilfe mehrerer Filmförderungen für die beiden ersten Staffeln zusammen. Das ist für eine TV-Produktion in Deutschland ein Spitzenwert: 90 Minuten Tatort kosten im Durchschnitt etwa 1,3 Millionen Euro, eine Episode Babylon Berlin mit 45 Sendeminuten etwa 2,5 Millionen. Wahrlich interessante Konstellationen!

In den Resonanzen auf die ersten drei Staffeln finden sich kaum kritische oder negative Stimmen. Die Produzenten selbst und die Fachdienste überschlagen sich in Erfolgsmeldungen; und der internationale Verkauf ist mit über 140 Ländern, in die die Rechte vergeben sein sollen – wirklich beeindruckend.

Allerdings ist der Blick auf die Quoten der öffentlich-rechtlichen Ausstrahlung in Deutschland dann doch nicht wirklich überzeugend: Obwohl die Eröffnungssendungen jeweils auf den Tatort-Sendeplatz am Sonntagabend um 20.15 Uhr disponiert wurden, lagen die Zahlen selbst für die erste Folge (30. September 2018) mit etwa acht Millionen weit unter den Spitzenwerten eines »Münster«-Tatorts. Und der Schwund im Verlauf ist bemerkenswert: Bis auf unter vier Millionen gingen die Zahlen zurück. Und die dritte Staffel (ab Oktober 2020 in der ARD), die mit etwas über vier Millionen Zuschauern einsetzte, sackte bis auf 2,9 Millionen ab.

Das heißt: Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist das Zuschauerinteresse weit unter das Niveau des durchschnittlichen Zuspruchs einer durchschnittlichen Tatort-Folge gesunken – was marketingstrategisch auch für die ARD doch wohl wenigstens als mittelschwere Enttäuschung zu werten sein müsste?

Dabei scheinen die ersten Folgen die Erwartung einer deutschen Version epischer Serienunterhaltung im Gefolge der angelsächsischen oder skandinavischen TV-Gesellschaftserzählungen durchaus einzulösen. Die Geschichte um die Geheimermittlungen des aus Köln zur Berliner Sittenpolizei abgestellten Kriminalkommissars Gereon Rath, der in Berlin einen kompromittierenden Pornofilm sicherstellen soll, ist verschnitten mit einer Polit-Räuberpistole um einen geheimnisvollen Güterzug, der aus Russland der Reichshauptstadt entgegendampft. (Frei nach Volker Kutschers Krimierzählung Der nasse Fisch, der ersten der mittlerweile acht Episoden um den Mordermittler Gereon Rath, deren Handlungen zwischen 1929 und 1936 angesiedelt sind.) Die Kesselwaggons enthalten Chemikalien, aus denen die »Schwarze Reichswehr« – eine Geheimtruppe reaktionärer, republikfeindlicher Militärs, die es wirklich gegeben hat – Giftgasgranaten herstellen will. Irgendwo noch in Russland wird der Zug gekapert und ein Waggon angehängt, der den vor den Bolschewisten geretteten Goldschatz einer russischen Adelsfamilie enthält, wie sich später herausstellt. Deshalb erwarten in Berlin nicht nur die Schwarze Reichswehr, sondern auch exilierte russische Adelige dessen Ankunft. Wobei sich letztere für die Ausführung ihres Coups einer trotzkistischen Untergrundzelle bedient hatten, die aber das Gold der antistalinistischen Weltrevolution zukommen lassen will…

Diese Handlungsfäden werden erst allmählich und parallel zu den Ermittlungen der Kriminalisten des Berliner Polizeipräsidiums sichtbar. Die Hauptfigur Gereon Rat kommt eher zufällig mit dem Mord an einem Exilrussen in Berührung und stolpert damit in die Vorgänge um den Giftgaszug, die ihn eigentlich gar nichts angehen. Seine offiziellen und seine klandestinen Ermittlungen werden mit historischen Vorgängen wie dem »Blutmai« von 1929 verwoben – die Unterdrückung der Maidemonstrationen der Kommunisten, die sie trotz eines Versammlungsverbotes angezettelt hatten, und die durch die Polizei unter dem Oberbefehl des sozialdemokratischen Berliner Polizeipräsidenten Karl Zörgiebel blutig niedergeschlagen werden. Schon etwas mehr Räuberpistole ist der Einsatz Raths als eine Art Sonderermittler, der mit dem Flugzeug und einem Kollegen als Fotografen in halboffizieller Mission nach Russland geschickt wird, um die Spuren des – historisch überlieferten, nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages illegalen – Aufbaus einer Luftwaffe in Sowjetrussland zu dokumentieren. Aber insgesamt ist diese Verwebung von fiktiven und mehr oder weniger korrekt dargestellten historischen Handlungssträngen und weiteren Nebenhandlungen in der ersten Staffel spannend und meist plausibel erzählt.

Deus ex Machina

Die schauspielerischen Leistungen (neben Volker Bruch als Gereon Rath und Liv Lisa Fries als Charlotte Ritter mit Peter Kurth, Matthias Brandt, Fritzi Haberlandt, Hannah Herzsprung, Ernst Stötzner, Benno Führmann, Lars Eidinger, Meret Becker und vielen anderen bis in die Nebenrollen alles »erste Kräfte«) sind bemerkenswert, zumal wegen der Figurenzeichnung jenseits der vielfach geläufigen Typisierungen des Serienfernsehens als widersprüchliche bis abgründige Charaktere. Zum Beispiel ist Gereon Rath eben nicht als »genialer Kommissar«, sondern als drogensüchtiger, neugieriger »Jungbulle« gezeichnet, der seine intuitiven Ermittlungsansätze auch unter Umgehung von Dienstweg, Recht und Gesetz – bis hin zur vertuschten Tötung eines Verdächtigen – verfolgt.

Doch dieser zunächst positive Gesamteindruck beginnt sich schon mit dem Ende der ersten Staffel zu verflüchtigen: Der erfundene Anschlag auf Gustav Stresemann, den das Drehbuch gemeinsam mit dem französischen Außenminister Aristide Briand in eine Vorstellung (die Uraufführung?) von Bertolt Brechts Dreigroschenoper im Theater am Schiffbauerdamm schickt, ist reiner Kintopp à la Der Schakal und ähnlichem, gefilmt freilich am Original-Schauplatz: Peter Kurth klettert als Bruno Wolter – gleichzeitig Kollege Raths bei der Sitte und in die reaktionäre Schwarze Reichswehr involviert – mit seinem Scharfschützengewehr im Kronleuchter über dem Zuschauerraum herum. Und nur dem »Scharfsinn« des Kommissars Rath ist es zu verdanken, dass dieses Attentat der reaktionären Militärs abgewendet wird, die damit die Republik erschüttern wollen. Geradezu absurd die Rettungsaktion Gereon Raths, der seine Kollegin Charlotte Ritter in einem versunkenen Auto, in dem sie eingeklemmt ist, von Mund zu Mund beatmet und schließlich heldenhaft befreit; der Showdown zwischen Rath und Wolter im und auf dem fahrenden Zug mit dem »Goldwaggon« – alles Versatzstücke aus dem Spektakelreservoir des Actionkinos, bei denen Realismus und Plausibilität der Handlungen auf der Strecke bleiben. Und die blödsinnige Behauptung eines Stahlwerks am Berliner Stadtrand als Handlungsort ist selbst handwerklich richtig peinlich: Wir sehen eine verwilderte Idylle rostender Hochofen-Ungetüme inmitten von Spontan-Vegetation. Offenbar wegen der Förderbedingungen der NRW-Filmförderung ist der »Landschaftspark Duisburg-Nord«, eine zum Kulturort umgewidmete Industrieruine im Ruhrgebiet zum Drehort avanciert…

Und als dramaturgischer Super-GAU schließlich der Auftritt von Günther Lamprecht, der als Reichspräsident Paul von Hindenburg die Verschwörer von der »Schwarzen Reichswehr« persönlich aus den Fängen der preußischen Geheimpolizei befreit: ein Deus ex Machina, vor dem schon Horaz die Tragödienschreiber warnte…

Kintopp statt episches Erzählfernsehen

Ist der Bezug auf die historischen Vorgänge in der späten Weimarer Republik in den ersten beiden Staffeln noch einigermaßen plausibel, wird in der dritten Staffel das Übermaß an Kintopp-Versatzstücken geradezu unerträglich und hebelt jedes Vergnügen an einer gut erzählten Geschichte und alle aufklärerischen Absichten aus. Der Titel Der stumme Tod, der so vom zweiten Band der Romanvorlage übernommen ist (der aber die Serienhandlung kaum noch folgt – was angesichts der verschrobenen Konstruktion der Krimierzählung nicht wirklich schade ist), verweist auf die mediale Revolution des Tonfilms, die in den späten Zwanzigerjahren auch in den Babelsberger Filmstudios vollzogen wurde. Der Krimi-Plot – rätselhafte Mordfälle im Umfeld einer (Ton-)Filmproduktion – ist mit der Geschichte der Endzeit der Weimarer Republik nur noch lose verbunden: Der Zusammenbruch der Kurse an der Berliner Börse infolge des »Schwarzen Donnerstags« in New York am 24. Oktober 1929 ist nur noch klapprige Rahmenhandlung.

Zwar werden in dem merkwürdig erratischen Whodonit der Ermittlung von drei »irgendwie« zusammenhängenden Mordfällen im Filmproduktionsmilieu durchaus reichlich Stichworte fallen gelassen, die auf historische Vorgänge verweisen sollen. Unter anderem wird die Figur des legendären Leiters der Mordermittlung Ernst Gennat (grandios gegeben von Udo Samel) hervorgehoben, deren historisches Vorbild ab 1926 mit der Etablierung einer institutionalisierten Mordermittlung – Vorläufer der modernen »Mordkommission« – im Berliner Polizeipräsidium standardisierte Methoden der Ermittlung und Dokumentation von Mordfällen eingeführt und durchgesetzt hatte. Reiner Kitsch ist dagegen die Parallelgeschichte einer Freundin der Kriminalassistentin Ritter: Greta Overbeck (gespielt von Leonie Benesch), Dienstmädchen bei Regierungsrat Benda (Matthias Brandt), die sich in einen (vermeintlichen) Jungkommunisten verliebt hatte, der bei einem (fingierten) Polizeiüberfall (scheinbar) getötet wurde, weswegen Greta aus Rache für den (vermeintlichen) Tod des Geliebten Beihilfe zum Mord an ihrem Arbeitgeber, dem republiktreuen preußischen Regierungsrat (jüdischer Herkunft) leistet… . Zwar kann sie der junge Links-Anwalt Hans Litten (auch eine Figur mit historischem Vorbild) schließlich zu einer Prozessvollmacht überreden und ermittelt die wahren Hintergründe (dass nämlich die Nazis für das Attentat verantwortlich waren und nicht die Kommunisten) – kommt aber mit der Verfügung des Aufschubes der Hinrichtung um wenige Minuten zu spät und muss den Vollzug der Enthauptung der Delinquentin mit dem Handbeil im Gefängnishof mit ansehen – OMG! würde man wohl heutzutage twittern: Geht’s noch?

Und warum?

Um die Titelfrage mit Bestimmtheit zu beantworten, fehlt uns leider die intime Kenntnis der Produktionsvorgänge, die mit der dritten Staffel aus einer episch horizontalen Erzählung verwobener fiktiver und historischer Vorgänge endgültig eine Ansammlung kinematografischer Stereotype macht. Es scheint, als setze sich eine zynische Kalkulation der Produzenten auf eine – vermeintliche oder reale – Lust oder Sucht »des Publikums« durch, immer wieder nur schon Bekanntes, Vertrautes und vor allem Spektakuläres zu sehen: das offene Geheimnis der Schnulze.

Das ist angesichts des Ranges der künstlerisch Verantwortlichen erstaunlich – sie müssten es doch eigentlich besser wissen und können!? Aber das hybride System von öffentlich-rechtlicher und Pay-TV-Produktion mit kreativen Kino-Leuten als künstlerisch Verantwortlichen hat das für »Deutsches Fernsehen« durchaus neuartige Konzept wohl nicht so konsequent verfolgt, als dass die Künstler sich dem Mehltau hätten entziehen können, den die Marketing-Maschinen des deutschen TV- und Serien-Business verbreiten. Vermutlich sind hiesige Produzenten dann wohl doch noch nicht so weit, den »Kreativen« bei der Entwicklung ihrer Geschichten die freie Hand zu lassen, die sie in Amerika zumindest bei Spezialproduzenten wie HBO oder Lionsgate zu genießen scheinen. So werden in den USA mit Mad Men, Breaking Bad, Better Call Saul, House of Cards und anderen Titeln epische Gesellschaftserzählungen produziert, die spannend unterhalten und in ihrem Realismus als zeitgenössische Repliken großer Romanserien vergangener Jahrhunderte erscheinen. Immer wieder ist von Balzac oder Flaubert die Rede, wenn über diese Formate diskutiert wird. Dagegen zerfällt Babylon Berlin – je länger, je mehr – in Actionkino-Stereotype mit den entsprechend zerfaserten Dramaturgien, die ziemlich wahllos spektakuläre Überraschungen (Plotpoints) arrangieren. Berlin, die Endzeit der Weimarer Republik und die Entwicklung des Faschismus in Deutschland werden immer mehr vom Erzählthema (und ehemals vielleicht sogar Erzählanlass?) zur Kulisse und zum Klischee für sattsam bekannte Kolportagemuster, die – dank der üppigen Budgets – lediglich etwas aufwändiger produziert werden als die gewöhnliche Unterhaltungsware des deutschen Fernsehens. Das lässt für die geplante vierte Staffel nicht viel Gutes ahnen. Sie soll an Goldstein anschließen, den dritten Fall der Gereon-Rath-Reihe, in dem der Kommissar einen jüdischen Gangster aus Amerika beschatten soll, der in Berlin zu Besuch ist…

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