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Die neue Sozialpolitik der SPD Ein Durchbruch

Was ist doch der Sozialdemokratie als Ausweg aus ihrer immer bedrohlicher werdenden Krise nicht alles geraten worden? Allem voran – neben wahlweise mehr links, mehr rechts oder mehr Mitte – das immer wieder beschworene und Geheimnis umwitterte »neue Narrativ«. Mitunter erinnerte das an Johannes Raus erfahrungsgesättigte Weisheit: Ratschläge sind auch Schläge. Und was ist aus der Partei heraus nicht alles in Aussicht gestellt worden, von der Erneuerung bis hin zur grundlegenden Neuerfindung? Die Erwartungen wuchsen immer mehr, was allerdings angesichts des Ausmaßes und der Dynamik der Krise, gemessen an Umfragen und Wahlergebnissen, weder überraschen konnte, noch unziemlich schien. Allerdings ließen die Kommentare innerhalb der Partei selbst und in der großen Öffentlichkeit zumeist einen Hinweis auf den Vergleichsmaßstab vermissen, der an das eingeforderte Ergebnis der »Erneuerung« anzulegen wäre. Waren das eher die (jüngst) vergangenen besseren Zeiten oder die europäischen Nachbarländer mit ihren sehr unterschiedlichen Schicksalen für die sozialdemokratischen Schwesterparteien zwischen annäherndem Beharren und drohendem Verschwinden? Diese Frage bedarf in der Tat der Klärung, wenn es um eine Würdigung des gewichtigen sozialpolitischen Reformprogramms geht, das der SPD-Vorstand Mitte Februar verkündet hat.

Programm, Person und Performance

Eine solche Klärung des Maßstabs fördert unweigerlich einige ernüchternde Einsichten zutage. Zum einen: Die große Zeit der Volksparteien ist überall in Europa abgelaufen, was auch immer die Parteien dagegen unternommen haben. Aber die Spannweite zwischen einstelligen Wahlergebnissen für sozialdemokratische Parteien und der Behauptung ihrer Vorrangstellung im jeweiligen Parteiensystem ist überall und auch innerhalb der Bundesrepublik im Vergleich der Länder sehr groß. Es gibt immer noch viel Spielraum. Neben der (beeinflussbaren) Qualität der Politik spielt dabei der (kaum zu beeinflussende) wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Wandel eine entscheidende Rolle. Zum anderen: Die unklare Positionierung der SPD in dem neuen weltweiten politischen Grundkonflikt zwischen dem Interesse an der Öffnung der Grenzen für umfangreichere Migration auf der einen Seite und einer Politik der Unterscheidung, des Schutzes und der Begrenzung auf der anderen Seite hat in jüngerer Zeit vor allem in den traditionell sozialdemokratischen Milieus Zweifel an der Politik der Partei wachsen lassen. Schließlich: Für den Wahlerfolg jeder Partei gilt die bewährte Formel, dass nicht einzelne Elemente ihres Handelns über Erfolg und Misserfolg entscheiden, sondern der unauflösliche Dreiklang von Programm, Person und Performance (= Leistung + Darstellung). Am Ende kommt es auf die funktionierende Wechselwirkung zwischen allen drei Faktoren an: Die Führungsperson(en) muss/müssen den überzeugenden sozialdemokratischen Gehalt des aktuellen Programms nicht nur verkünden und vertreten, sondern verkörpern; und im gemeinsamen Handeln der Partei als Team (durchaus mit verteilten Rollen) muss sich an der Spitze (Regierung) und in der Fläche das Versprechen des Programms (bei allen unvermeidbaren Abstrichen) beständig und eingängig bewahrheiten.

Alles spricht dafür, dass die Erfüllung dieser drei Voraussetzungen der SPD auch heute noch in der Bundesrepublik ein rundes Drittel der Wählerstimmen sichern könnte. Damit sind wir bei der aktuellen Frage angelangt: Kann das neue sozialpolitische Reformprogramm als ein zukunftsweisender Beitrag zur fälligen und versprochenen Erneuerung der Sozialdemokratie wirksam werden? Es sind drei unterschiedliche, wenn auch zusammenhänge Gründe, die eindeutig in diese Richtung deuten (unter der Bedingung, dass die ganze Partei produktiv damit umgeht): Der erste liegt im dem zukunftsweisenden Inhalt des Programms. Seine sechs Kernelemente – Bürgergeld statt Hartz IV, selbstständige Kindergrundsicherung als Geldleistung plus Verbesserung der kindgerechten Infrastruktur, Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung, Verbindlichkeit von Tarifverträgen, Erhöhung des Mindestlohns und Sicherung des Zugangs der informell Beschäftigten der Digitalwirtschaft zum System der sozialen Sicherung – sind zusammengenommen ein großer Schritt in die richtige Richtung. Ein ehrgeiziges Projekt für eine Reihe von Jahren und ein Angebot sowohl an wichtige Segmente der neuen digitalen Mittelklasse wie auch an ein breites Spektrum der alten und neuen Arbeiterklasse. Der zweite Grund, der für das neue Projekt spricht, ist sein Beitrag zu einer großen Erzählung der Sozialdemokratie für das 21. Jahrhundert, denn es bezieht seine politischen Ideen nicht nur auf einige der wichtigsten neuen Herausforderungen, wie die Frage der sozialen Sicherung in der digitalen Wirtschaft und mehr Gerechtigkeit für Menschen, die nach vielen berufstätigen Jahren ihren Arbeitsplatz verlieren. Es stellt darüber hinaus auch eine glaubwürdige Verbindung her zwischen den einzelnen Reformen und den sozialen Grundrechten, die bei uns in Wahrheit ja alle Bürgerinnen und Bürger haben. Sie sind der eigentliche Dreh- und Angelpunkt einer aktualisierten sozialdemokratischen Erzählung: Es geht um die Verwirklichung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte, um den Inhalt der sozialen Bürgerschaft unter veränderten Bedingungen. Das ist der Sinn und die dauernde Aufgabe der sozialen Demokratie in einer sich rasch verändernden Welt. Eine sehr konkrete Utopie und eine attraktive Erzählung für die Gesellschaft.

Der dritte Grund, warum das Reformprogramm zur rechten Zeit kommt, ist ein strategischer. Es sollte mittlerweile unstrittig sein, dass die längerfristigen Erfolgsaussichten der Sozialdemokratie in einer Großen Koalition nicht allein von dem Guten abhängt, das sie dabei von Tag zu Tag leistet, sondern ebenso von ihrer Fähigkeit zu einer verantwortlichen Doppelstrategie, die jederzeit erkennbar bleiben lässt, worin die eigentlichen Ziele der sozialen Demokratie über die Tagespolitik hinaus liegen. Erst das hält ihr politisches Profil scharf und schafft Motivation für alte und neue Wähler am folgenden Wahltag. Das erstere scheint schon jetzt geglückt, das letztere könnte daraus bald folgen. Aber nur unter zwei Bedingungen: wenn auf weiteren identitätsstiftenden Feldern, voran Migration/Integration, Steuerpolitik und Europa in diesem Geiste nachgezogen wird und – viel wichtiger, aber für Sozialdemokraten offensichtlich weit schwerer – wenn in der Partei wieder das Maß an Solidarität mit der eigenen Führung einkehrt, das eigentlich das allerselbstverständlichste von allem sein müsste. So schwer kann die Geografie des politischen Teamspiels ja nicht sein, dass gleich beim Anpfiff die Orientierung verloren geht, wo das eigene Tor steht und wo das des Gegners.

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