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Jüdisches Synagogenzentrum, Potsdam ©

picture alliance / Schoening | Schoening

Gespräch mit Doron Rabinovici über Antisemitismus in Gesellschaft und Kultur »Ein irrationales Phänomen«

NG/FH:Seit Jahrzehnten engagieren Sie sich, vor allem in Österreich, literarisch und politisch gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus. Im Kasino des Wiener Burgtheaters hatte gerade Ihr Dokumentationsstück über das Massaker der Hamas, das den Gaza-Krieg auslöste, Premiere. Worum geht es in diesem Stück? 

Doron Rabinovici: Um mir selbst gegenüber redlich zu bleiben, nenne ich es eine Textcollage, die auf der Bühne von Schauspielerinnen und Schauspielern gelesen wird. Es ging darum darzustellen, was der 7. Oktober bedeutet und wie er auch negiert wird. Es ging darum, der Trauer einen Raum zu geben. Es ging darum, den Überlebenden das Recht zu geben angehört zu werden, gleichzeitig der Toten gedenken zu dürfen, also den eigenen Schmerz äußern zu können, ohne deswegen in den Verdacht zu geraten, kein Mitgefühl für die Unschuldigen der anderen Seite zu haben. Und es ging besonders darum, an die Geiseln zu erinnern.

Ich sah gerade Dorit Rabinyan, die israelische Schriftstellerin. Sie sagte in sehr eindrucksvoller Art und Weise etwas, das wohl für viele zutrifft. Sie sagte: »Was ihr jetzt von mir seht, ist eine optische Täuschung. Ich bin in gewisser Weise gar nicht hier in Stockholm, denn seit dem 7. Oktober ist ein Teil von mir entführt und festgehalten in Gaza.« Dieses Entkerntsein, dass ein wichtiger Teil eigentlich in Besitz genommen worden ist von dem, was dort passiert und mit den Geiseln bleibt, das herrscht unter vielen vor, die Israel biografisch oder durch ihre Identität verbunden sind.

Wie kann man das Besondere dieses tiefen Einschnitts für das jüdische Leben auf den Punkt bringen? Jüdische Anfeindungen in der Öffentlichkeit sind schlimmer geworden, aber es gab sie doch auch vorher schon. 

Das Entscheidende ist, dass es nicht etwa einfach ein Pogrom war, obwohl es sehr viele an ein Pogrom erinnerte. Denn ein Pogrom geschieht normalerweise, geschützt von sympathisierender Obrigkeit, als Mob der Mehrheit gegen eine schutzlose Minderheit. Das aber war es nicht, denn es gab ja Geiselnahmen, Raketen sind geflogen und Grenzen wurden überschritten. Also war es ein strategisches Vorgehen.

Es war auch nicht einfach nur Terrorismus, es wurden ja ganze Landschaften für Tage eingenommen, Kibbuzim ausgelöscht. Schoah wurde auch gesagt oder Holocaust. Das war es natürlich auch nicht, es war nicht die, wie Hannah Arendt sagte, Produktion von Leichen, es war nicht der verwaltete Mensch, wie es Hans Günther Adler nannte. Es bleibt etwas Eigenes.

Das Besondere ist, dass es eine genozidale Botschaft umfasste, die zwei Gruppen sofort verstanden haben, die jüdische Gemeinschaft und die dschihadistische Ideologie, die sofort losgeschlagen hat, ob in Lyon, Dagestan, Zürich, Berlin oder Paris. Eine Woche nach dem 7. Oktober verkündete die Hamas den Tag des Zorns als weltweiten Angriff gegen alle jüdischen Einrichtungen. Der antisemische Charakter lässt sich nicht leugnen, auch bei uns tanzten am Tag der Massaker selbst Leute die Mariahilfer Straße in Wien hinunter, voller Freude, fuhren Autos durch die Straßen und Leute verteilten Süßigkeiten, man kennt das.

Ist das Gefühl von Israel als sicherer Heimstatt aller Juden zerstört?

Ja, diese Zusicherung des Staates Israel, dass das nicht geschehen kann, ist hiermit gebrochen und das Gefühl, in dem die zweite Generation aufgewachsen ist nach 1945 beziehungsweise 1948, ist erschüttert. Gleichzeitig ist Israel jetzt in einem Krieg und das, was geschehen ist, wird einfach geleugnet, selbst teilweise von Leuten, die ich gemeinsam mit Natan Sznaider in dem Buch Neuer Antisemitismus publiziert habe, etwa von Judith Butler, als hätten wir es zu tun mit Holocaustleugnern, mit Nazis. Damit will ich jetzt nicht Judith Butler mit Au­schwitzleugnern gleichsetzen. Aber sie leugnet den antisemitischen Charakter. Sie versteigt sich sogar dahingehend, dass sie zur sexualisierten Gewalt sagte – und dann lächelte sie in zynischer Art und Weise – »ja wenn es bewiesen werden könnte« – als gäbe es nach den Videos noch Zweifel –, »dann wäre das natürlich bedauernswert«. Es ist unfassbar.

Nach über einem halben Jahr Gaza-Krieg artikuliert sich ein Großteil unserer Kulturszene propalästinensisch, Israel droht in der Weltöffentlichkeit aufgrund der Kriegführung zu einem Pariastaat zu werden. Ist das humanitäre Sensibilität angesichts all des Leids, oder äußert sich da erneut Antisemitismus?

Antisemitismus braucht keine Gründe, er findet sie sich. Wir können diskutieren, ob die israelische Führung, ob die einzelnen politischen Figuren nicht auch Grund zur konkreten Kritik bieten. Doch was auffällt ist die Fokussierung, um nicht sogar zu sagen, die Fetischisierung dieser Angriffe, das sich daran Ergötzen, diese Leidenschaft im Sinne von Sartre.

Die Leute fragen dann immer gerne, »Ja, wo beginnt und wo hört Antisemitismus auf?«. Als ginge es um ein Handbuch für eine Waschmaschine: »Wenn Sie den Hebel so nach rechts drehen, dann wird es Antisemitismus.« Aber so ist es eben nicht, denn es handelt sich um ein irrationales Phänomen. Die Kritik mag berechtigt sein, doch das irrationale Motiv dahinter erklärt, wie begeistert einer ist, sie zu äußern, wenn es nur um diesen einen Staat geht im Unterschied zu anderen. Und auch das Ausblenden dessen, was dahin führt. So wird dieser ganze Konflikt zum Beispiel nur betrachtet aus der Warte des vermeintlichen Postkolonialismus. Es gibt ja postkoloniale Studien, die wir zu Recht wichtig finden. Aber so zu tun, als wären jüdische Menschen nach Palästina gegangen und hätten Kibbuzim etwa gegründet, weil sie gerne Orangen pflanzen, um sie mit Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung besser verkaufen zu können, das stimmt nicht. Das geht nur, wenn man ausblendet, was diese Menschen dorthin gebracht hat, nämlich Judennot und Pogrome und dann zum Schluss die Schoah. Und danach wieder Pogrome übrigens, etwa nach 1945 in Polen.

Unsere Universitäten waren schon einmal Vorreiter des Antisemitismus. Erleben wir jetzt wieder, dass dort besonders einseitig gedacht wird? 

Was wir derzeit an Demonstrationen an manchen Universitäten erleben, ist das gleichzeitige Abstreiten und Abfeiern antisemitischer Gewalt. Dort wird etwa gesagt, die Kibbuzniks darf man nicht humanisieren, die Israelis sind alle, bis hin zum Baby, schuldig – und so sei das kein Terrorattentat gewesen. Wenn ein Theoretiker wie Andreas Malm sagt, »das ist ein großer Fortschritt des Widerstands und eine Befreiung«, ist das nicht der christliche oder der rassistische Antisemitismus. Es fällt schwer, diesen neuen Antisemitismus nachzuweisen, denn wir sehen auf beiden Seiten einen Diskurs des wechselseitigen Verdachts. Die eine Seite wirft der anderen Seite vor, dass die politische Kritik nicht vom Humanismus getragen ist, sondern vom Ressentiment und die andere Seite wirft wiederum dem Angreifer vor, es ginge gar nicht um den Kampf gegen Antisemitismus, sondern um Delegitimierung jeglicher Kritik. Und oft haben beide Seiten auch Recht.

Nur jetzt, in dieser Situation, sehen wir eine weltweite Welle an Hetze, die sich nur leugnen lässt bei Blindheit. Wäre ich tätig in einer Bewegung Pro-Palästina, dann hätte ich das Camp am Wiener Campus Friedenscamp genannt, es hieß aber Intifada-Camp. Und es wurde auf Arabisch gerufen »Vom Wasser zu Wasser, ganz Palästina ist arabisch« und es wurde eine Erklärung der Quassam-Brigaden der Hamas verlesen.

Statt eine Stimme gegen den Antisemitismus zu sein, verbreitet die kulturelle Linke nunHamas-Parolen und blendet aus, dass sie selbst doch eigentlich ein Feindbild des religiösen Wahns der Hamas ist?

Es umfasst nicht die ganze Linke, aber Teile, die auch nicht abgetan werden sollten als individuelle Fälle. Wir haben es zu tun mit einer Wurzel des linken Denkens, die es immer gegeben hat, die auch immer wieder gefährliche Blüten hervorgebracht hat. Schauen wir uns zum Beispiel diese LGBTQ+-Aktivist/innen an, die sich jetzt für die Hamas erwärmen, da kann man wirklich sagen: »Queers for Palestine«, das ist ein bisschen so wie »Chickens for Kentucky Fried Chicken«. Man fragt sich: warum? Ich glaube, der eine Grund ist, dass man einerseits immer davon überzeugt ist: »Ich bin ein anderer und ich bin sogar viele andere.« Aber es gibt auch da einen, der will nicht so anders sein wie wir. Und dann sind wir gegen diesen einen anderen. Das ist – wie ironisch – die Umkehrung der Idee »Wir sind doch eigentlich für den anderen.«

Das zweite ist, dass einem Teil der Linken das revolutionäre Subjekt in der Gesellschaft verlorengegangen ist. Es gibt keinen Kontakt zu den Leuten, für die man sozial kämpfen sollte – vielleicht ist das auch kein Wunder, manche Universitäten kann man nur besuchen, wenn man reich ist. Ohne dieses revolutionäre Subjekt ist es leichter, sich mit dem Globalen Süden zu identifizieren, den man, da er weit weg ist, idealisieren kann. Und dann wird die Hamas tatsächlich nicht in ihrer Realität wahrgenommen, sondern nur in einer Rolle.

In der Rolle einer angeblich antikolonialistischen Befreiungsbewegung?

Ja, das Problem gibt es schon seit der Französischen Revolution, die eigentlich ein Weckruf der Freiheit war. Schon 1789 wurde über Freiheit und Gleichheit für die Juden diskutiert, aber für den Juden als Bürger, nicht als Nation. Das wurde genauso gesagt: »Wenn die Juden das als Nation wollen, dann müssen sie wieder ausgeschlossen werden, dann brauchen wir sie hier nicht.« So lag in diesem Aufklärerischen auch immer ein Rigorismus, der sich gegen eine Minderheit wenden kann. In den vulgärmarxistischen Kreisen wurde immer wieder über Haupt- und Nebenwiderspruch diskutiert. Was gerade nicht hineinpasst in den Hauptwiderspruch, dagegen wird heftig vorgegangen, so auch in der Kulturszene, die sich gerne dem »radical chic« hingibt und die simple Identifikation mit dem absolut Guten gegen das schlechthin Böse liebt. Wenn ich mich dem Nahostkonflikt unter diesem Aspekt annähere, kann ich nur in die Irre gehen. Denn es ist kein Konflikt zwischen Gut und Böse, sondern ein sehr komplexes Bild. Und diese Komplexität und Ambiguität auszuhalten fällt schwer.

War der Antisemitismus nicht immer schon ein Angebot, dieser Komplexität gesellschaftlich zu entgehen?

Ja, viele Linken wissen nicht zwischen Rassismus und Antisemitismus zu unterscheiden. Es gibt viele Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch wesentliche Unterschiede. Susan Sarandon hat auf einer Demonstration gesagt: »Jetzt erleben die Juden zumindest wie es ist, in diesem Land als Muslim diskriminiert zu werden.« Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Als hätten die Juden bisher nicht gewusst, wie es ist, diskriminiert zu werden. In den USA, wo in den 50er Jahren noch der Zugang für Juden zu Universitäten oder in den Golfclub eingeschränkt war. Wie kommt man auf eine solche Idee nach Pittsburgh, nach dem Attentat dort?

Den Juden wird von Rechten unterstellt, nicht weiß genug zu sein, und von Linken, allzu weiß zu sein. Denn der Rassismus ist die Legitimierung des Sozialen durch Biologisierung. Der Antisemitismus hingegen ist die Erklärung der Welt durch Verschwörungsmythen. Der Rassist will vor allem die Diskriminierung des anderen. Der Antisemit aber will letztlich die Auslöschung des Jüdischen.

Was folgt aus solch einer Analyse? Bei aller Staatsräson, Erinnerungskultur und allem Gedenken scheint ein Teil der Jugend weiter nach rechts zu gehen, so auch die neueste Studie »Jugend in Deutschland 2024«?

Es ist wichtig zu erinnern, aber das Ritual des Gedenkens verkommt oft zur Routine. Es kann versteinern. Aber gerade angesichts der autoritären Entwicklungen in unserer Gesellschaft sind wir erinnert und sollten wir erinnern. Es geht da um schiere Geistesgegenwärtigkeit.

Aber das sind politische Herausforderungen, die alle betreffen, denn alle können sehen, dass rechte Parteien dann einen Zugewinn haben, wenn die Mittelschicht Angst hat, herabzusinken. Das passiert immer wieder, wenn sich ganz bestimmte soziale Fragen, die nicht gelöst werden, immer weiter zuspitzen. Das ist jetzt nicht Verelendung. Aber was sich in Hetze und Hass ausdrückt, hat doch zu tun damit, dass die Leute das Gefühl haben, »meinen Kindern wird es nicht besser gehen als mir«. Und dann werden Schuldige gesucht. Das ist jetzt natürlich kein direkter, schneller Lösungsansatz.

Für den Nahostkonflikt gibt es sicher erst recht keine schnelle Lösung? 

Es ist auch nach der Europawahl notwendig, jene Kräfte zu stützen in Europa, die sagen, dass sie nicht mit den Rechtsextremen koalieren, und das Bewusstsein in diese Richtung zu stärken. Die Situation im Nahen Osten ist so schrecklich, dass jedes Gespräch über meine Friedensvorstellungen mir gleichzeitig obszön vorkommt. Aber unerträglich wäre es, irgendein Wort zu sagen, das jenseits dieser Hoffnung steht. Denn dann hätte ich kein Recht, dann müsste ich schweigen. Ich habe kein Recht, dem Krieg das Wort zu reden.

Um nicht missverstanden zu werden, meine ich damit nicht, dass Israel keinen Grund hat, die Hamas zu bekämpfen, aber ich möchte darüber hinausdenken. Ich möchte denken – hin zu einem Nahen Osten, in dem es eben ein sicheres Israel gibt und ein freies Palästina. Ich sehe keine andere Lösung. Das heißt nicht, dass sie wahrscheinlich ist, aber, wie mir scheint, wohl die einzig wahrhaftige. Ein wenig im Sinne des Satzes von Theodor Herzl: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.«

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