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Neue Literatur über Rassismus Ein kompliziertes Verhältnis

Der gewaltsame Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der von einem weißen US-Polizisten erstickt wurde, hat auch in Deutschland zu einer so großen Sympathisierung mit der »Black Lives Matter«-Bewegung geführt, dass Sara Maria Behbehani in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Juni 2020 die naheliegende Frage aufwarf: »Was ist mit den türkischen Mordopfern in Deutschland?« Infolge der von den digitalen Netzwerken beflügelten Betroffenheit wurden hierzulande auch Begriffe popularisiert, die dem englischsprachigen Diskurs über Rassismus entlehnt sind: »People of Color ist eine Selbstbezeichnung von Menschen, die Rassismen ausgesetzt sind, weil sie nicht als weiß gelten. Als People of Color bezeichneten sich in den 1960er-Jahren schwarze, indische und andere nicht als weiß geltende Südafrikaner*innen im Kampf gegen das rassistische Apartheidregime. In den frühen 1980er-Jahren setzte sich der Begriff in den USA und Großbritannien durch, seit Mitte der 1990er-Jahre wird er auch in Deutschland verwendet«, heißt es dazu in einer Ausgabe der Neuengammer Studienhefte von 2019, herausgegeben von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.

Dahinter steht eine Haltung, die der Titel des neuen Buchs der britischen Journalistin Reni Eddo-Lodge Why I’m No Longer Talking to White People About Race auf den Punkt bringt. Man teilt einem potenziellen Gesprächspartner mit, dass man mit ihm überhaupt nicht sprechen will – oder nur dann, wenn er bestimmte Prämissen akzeptiert. Um als Weißer von der rassistischen Erbsünde freigesprochen zu werden, muss man sich selbst erst einmal dazu bekennen. Dabei hätte die Autorin doch gerade aus Gesprächen mit weißen Europäern, mit Iren, Balten, Slawen und Juden erfahren können, dass es kein »Privileg« farbiger Menschen ist, Rassismen ausgesetzt zu sein. Offenbar aber gibt es Rassismuserfahrungen, die, wie die Definition aus der KZ-Gedenkstätte zeigt, den empathischen Blick erweitern, und andere, die ihn auf einen Schwarz-Weiß-Konflikt verengen. So schrieb schon vor Jahren Daniel Killy in der Jüdischen Allgemeinen vom 8. August 2016 über ein »kompliziertes Verhältnis«, das jüdische Einwanderer und Afroamerikaner in den USA in den Anfängen der Bürgerrechtsbewegung erst verbunden, aber später entzweit habe. Letzteres liege »einerseits an dem seit den 60er Jahren stark gewachsenen Einfluss radikaler islamischer Stimmen auf die Bürgerrechtsbewegung, die mit der Ablehnung Israels und der Unterstützung von BDS und anderen Israelgegnern einhergeht, andererseits aber auch an einem häufig unverhohlen antisemitischen Tenor«.

Dabei zirkuliere, schreibt Killy, »die populäre Kernthese, dass das Geld der Juden zur Unterdrückung der Schwarzen geführt habe und Juden gar nicht wüssten, was Rassismus ist, denn sie genössen das Privileg der weißen Hautfarbe«. So wundert es nicht, dass man im Sachregister von Eddo-Lodge’s Buch zwar einen Harry Potter, aber keinen Antisemitismus und keine Schoah verzeichnet findet. Überhaupt herrscht darin ein seltsames Desinteresse an Formen der Diskriminierung, die nicht an Hautfarbe orientiert waren. Sie schreibt etwa: »Wenn die Hautfarbe nicht erwähnt wird, ist die Arbeiterklasse kein Objekt politischer Maßnahmen. Tatsächlich war Klasse ein politisches Tabu, bevor das Gerede von der weißen Arbeiterklasse einsetzte.« Die Geschichte der Arbeiterbewegung beschränkt sich für sie offenbar auf die Thatcher-Ära und Versuche der Rechten, die »weißen Arbeiter« gegen Migranten auszuspielen.

Rassismus und Diskriminierung

In eine ähnliche Kerbe schlägt auch das Werk der weißen amerikanischen Soziologin Robin DiAngelo, die in Wir müssen über Rassismus sprechen enthüllen will, »was es bedeutet in unserer Gesellschaft weiß zu sein«, wie der Untertitel suggeriert. Nachdem der Gedanke an eine White Supremacy, also an eine naturgegebene weiße Vorherrschaft in Verruf geraten war, habe sich unter Weißen ein Verhaltensmuster entwickelt, das DiAngelo »White Fragility« nennt, was eine oft hoch emotionale Ablehnung bezeichnet, sich mit dem (eigenen) Rassismus auseinanderzusetzen. Hintergrund sei die »Versklavung verschleppter Afrikaner« in den Vereinigten Staaten, die die Autorin aus unerfindlichen Gründen für paradigmatisch für den Westen schlechthin hält: »Die spezifische Geschichte mag von Land zu Land variieren, aber das Ergebnis ist immer das gleiche: institutionalisierte Vorherrschaft und Vorteile weißer Menschen, die mit typischer Empfindlichkeit reagieren, wenn beides benannt oder infrage gestellt wird.« Ihr selbst habe in den USA von Geburt an jedes Krankenhaus offen gestanden, »weil meine Eltern weiß waren«, und weiß seien »aller Wahrscheinlichkeit nach« auch die Ärzte und Hebammen gewesen, die bei dieser Geburt zugegen waren: »Dagegen waren die Beschäftigten, die das Krankenhauszimmer meiner Mutter reinigten, die Wäsche wuschen, kochten, die Cafeteria putzten und sich um die Instandhaltung des Gebäudes kümmerten, höchstwahrscheinlich Menschen of Color.« Ausdrücke wie »mag variieren«, »typisch«, »aller Wahrscheinlichkeit nach« und »höchstwahrscheinlich« nähren den Verdacht, dass die soziologische Methode der Verfasserin hier die auf persönlichen Eindrücken basierende Mutmaßung ist.

Es gab im alten Europa keine institutionalisierte Vorherrschaft weißer Menschen, weil es dort praktisch keine Menschen gab, die nicht »weiß« waren. Dafür gab es Feudalismus, Stände und Leibeigenschaft, Glaubenskriege und Hungersnöte, Seuchen, entrechtete Arme und Hexenjäger, Ausbeutung und Missbrauch Abhängiger, Antisemitismus und Antiziganismus, eine Negierung der Rechte von Frauen, Zwangsrekrutierungen und Zensur. Die brutalen und menschenverachtenden Mittel, mit denen dieses Europa dann die Welt eroberte, kolonisierte, versklavte, waren zuvor über Jahrhunderte daheim erprobt worden. Und was die europäische Einwanderung in die USA angeht, so hatten viele Immigranten aus Ost- und Südeuropa selbst Diskriminierung erlebt und kamen erst nach Amerika, als die Sklaverei dort zumindest formell schon abgeschafft war. Die Afroamerikaner machten deshalb die zermürbende Erfahrung, als Alteingesessene abgeschottete weiße Bastionen vor sich und immer neue Generationen aufstiegsorientierter und mit sich selbst beschäftigter Einwanderer im Nacken zu haben.

»Rassismus als eine Form der Diskriminierung«, so die bereits zitierte Publikation des KZ-Neuengamme, »beruht auf der Vorstellung, dass es verschiedene Gruppen von Menschen gibt, die unterschiedlich viel wert sind«. Dabei war der Ausdruck »Rasse« ursprünglich positiv konnotiert, wie das Adjektiv »rassig« bis heute zeigt. Vom arabischen Wort »raz« (Kopf, Anführer, auch Ursprung) abgeleitet, so schreibt Christian Geulen in seiner kompakten Geschichte des Rassismus, habe es im 15. Jahrhundert zunächst in zwei Kontexten Anwendung gefunden: »in der Beschreibung machtvoller Adelsfamilien oder herrschaftlicher Dynastien und in der Pferdezucht«. Im Zuge der Reconquista und der inquisitorischen Verfolgung konvertierter Juden in Spanien habe der Rassenbegriff dann zur »Aufspürung zu bekehrender Gruppen« gedient.

Rassismus als Exklusion oder Inklusion

Auf eine ursprünglich theologisch geprägte Begründung rassistischer Diskriminierung weist auch der afroamerikanische Historiker Ibram X. Kendi in seinem Buch Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika hin. Kendi liefert eine profunde und umfassende, aber weitgehend auf die Geschichte der Schwarzen in den USA fokussierte Darstellung. Er glaubt nicht an die Macht der Aufklärung und kritisiert die »Vorstellung, dass Unwissenheit und Hass zu rassistischen Vorstellungen führen, die wiederum rassistische Maßnahmen nach sich ziehen. Dabei führt Eigeninteresse zu rassistischen Maßnahmen, die wiederum rassistische Vorstellungen nach sich ziehen.« Die Sklavenhändler des 17. und 18. Jahrhunderts mussten nicht auf die Ergebnisse der Rassenforschung des 19. Jahrhunderts warten, um afrikanische Menschen in den Kolonien Westindiens zum lukrativen Handelsgut zu machen. Auch Geulen zählt zu den zentralen Merkmalen des neuzeitlichen Rassismus, dass sich dabei Praxis und Ideologie gegenseitig hervorgebracht hätten.

Während aber Kendi seine Rassismusgeschichte der USA bis in eine Gegenwart fortschreibt, in der die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei getötet zu werden, für einen jungen schwarzen Mann 21-mal höher sei als für einen jungen Weißen, liefert Geulen auch eine Kritik des gängigen Antirassismus. Der nämlich bezöge sich auf einen »Rassismus, wie er im Kontext von Sklavenhandel, Expansion und Nationalstaatenbildung im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gestalt angenommen hatte«, also einen kolonialen Sklavenhalterrassismus, nicht aber »auf den sich danach entwickelnden, post-darwinistischen Rassismus der Weltverbesserung, Rassenerzeugung und Eugenik«. Geulen spricht hier von einem Exklusionsmodell, das dem Unerwünschten »automatisch den Status des Lebensunwerten, mindestens aber eines lebensnotwendig zu bekämpfenden biologischen Übels« zuspreche. Die Sklavenhalter der USA hingegen hätten bei ihrer Verteidigung »viel häufiger einen vormodernen Paternalismus der Fürsorge statt biologisch-rassentheoretische Argumente« ins Feld geführt.

Die Schwarzen der USA waren mithin Opfer eines inkludierenden Rassismus, der ihnen einen, freilich entwürdigenden Platz in der amerikanischen Gesellschaft zuwies, während sich in Europa und speziell im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts ein exkludierender Rassismus entwickelte, der den Ausschluss des vermeintlich Anderen bis zur systematischen Vertreibung und Vernichtung vorantrieb. Geulen weist auch darauf hin, dass in den »rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Milieus« Europas der Rassenbegriff selbst zunehmend vermieden werde. Fragen, gegen wen sie denn seien, würden »unter Vermeidung des Rassenbegriffs abstrakt beantwortet: gegen die Ausländer, die Fremden, die Anderen – darunter wiederum können, wie im modernen Rassismus schon immer, auch kulturelle und soziale Gruppen fallen: Obdachlose und Homosexuelle, Juden oder Muslime«.

Dagegen helfen weder Sprachregelungen noch therapeutische Ansätze, die Weiße nötigen, die provozierende Privilegiertheit ihres Weißseins anzuerkennen. Zwar hält Kendi eine Zeit für möglich, »in der rassistische Vorstellungen uns nicht länger daran hindern, die völlige Abnormität rassistischer Ungleichheit zu erkennen«, aber, seinen eigenen Ausführungen gemäß, müsste das eine Zeit sein, in der es kein »Eigeninteresse« an solcher Ungleichheit mehr geben würde. Eine nichtrassistische Gesellschaft müsste auch eine klassenlose sein, in der niemand den anderen ausbeutet oder bedroht oder selbst Ausbeutung oder Bedrohung zu fürchten hat. Davon sind wir weit entfernt, und das auch deshalb, weil derzeit jede Minderheit auf ihr spezielles »Diskriminierungsprivileg« fixiert zu sein scheint.

Reni Eddo-Lodge: Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche. 4. Aufl., Tropen, Stuttgart 2019, 263 S., 18 €. – Robin DiAngelo: Wir müssen über Rassismus sprechen. Was es bedeutet, in unserer Gesellschaft weiß zu sein. Hoffmann und Campe, Hamburg 2020, 224 S., 25 €. – Christian Geulen: Geschichte des Rassismus. 2. Aufl, C.H.Beck Wissen, München 2014, 128 S., 9,95 €. – Ibram X. Kendi: Gebrandmarkt. Die wahre Geschichte des Rassismus in Amerika. C.H.Beck, München 2017, 604 S., 34 €.

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