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Ein neuer Euro-Deal

In der Serie »Werkstatt Junge Soziale Demokratie« werden von Stipendiatinnen und Stipendiaten der FES Impulspapiere zu verschiedenen Themenschwerpunkten erarbeitet. Ziel ist es, Anregungen zur weiteren Diskussion in zentralen Zukunftsfeldern zu geben. Wir dokumentieren diese Papiere in lockerer Folge. In dieser Ausgabe geht es um die Frage, wie die Asymmetrien bei der Integration der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik überwunden werden könnten.

Die Corona-Pandemie hat viele politische Gewissheiten erschüttert und für kurze Zeit ein Fenster für Reformen der Europäischen Union (EU) geöffnet. Aber bevor der EU ein neuer Weg aufgezeigt werden kann, soll ein Blick zurück zeigen, wo man sich verfahren hat.

Der Kernbestand der europäischen Integration der letzten Jahrzehnte war die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion. Der Begriff täuscht darüber hinweg, dass Wirtschaft und Währung in der Vergangenheit asymmetrisch integriert wurden: Während die Staaten der Eurozone ihre Währungspolitik nahezu vollständig der EZB übertragen haben, werden Entscheidungen in der Wirtschaftspolitik nur wenig in Brüssel koordiniert.

Spätestens in der sogenannten Eurokrise zeigten sich die Asymmetrien dieser Integration deutlich. In der Eurozone fehlte Staaten wie etwa Griechenland und Spanien die Möglichkeit ihre jeweilige nationale Währung abzuwerten und den Geldwert somit an die abgeschwächte Wirtschaftskraft anzupassen. Während der Euro in diesen wirtschaftsschwachen Mitgliedstaaten zu hoch bewertet war, hatten wirtschaftlich starke Staaten wie Deutschland eine zu gering bewertete Währung. Das Resultat war eine weitere Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit der südeuropäischen Länder. Als Alternative zur Abwertung der Währung blieben den Regierungen in Spanien oder Griechenland nur die Möglichkeiten zur Abwertung durch Lohnsenkung sowie Strukturreformen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Diese Maßnahmen führten zu Verschlechterungen des Lebensstandards und einem Anstieg der Selbstmordraten in Südeuropa und beförderten den Anti-EU-Populismus radikaler Parteien.

In den einzelnen Mitgliedstaaten der EU gibt es durch die nach wie vor größtenteils in nationaler Zuständigkeit liegenden Wirtschaftspolitiken unterschiedliche Rahmenbedingungen, insbesondere auf dem Feld der Sozial- und Steuerpolitik, aber beispielsweise auch im Bankensektor. Ein Problem ist, dass in allen Eurostaaten seit fast 20 Jahren mit derselben Währung bezahlt wird, sich die Rahmenbedingungen bei der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik aber weiterhin radikal unterscheiden. Dieses Missverhältnis zwischen divergierenden Rahmenbedingungen und freien Wirtschaftsräumen führt zu ineffizienter Faktorzuteilung und verstärkt wirtschaftliche Ungleichgewichte, anstatt sie zu beheben. Die wirtschaftspolitische Steuerung müsste wesentlich aktiver und interventionistischer erfolgen, um unerwünschtes Verhalten der Marktteilnehmer zu begrenzen und die Wirtschafts- und Währungsunion zu stabilisieren.

Das Problem ist, dass es bislang auf europäischer Ebene keine Institutionen gibt, die steuernd auf das Marktgeschehen einwirken könnten, um den beschriebenen wirtschaftlichen Ungleichgewichten entgegenzuwirken.

Die in Reaktion auf die Eurokrise geschaffenen Institutionen und Instrumente wie etwa der Europäische Stabilisierungsmechanismus (ESM) sind bislang teilweise außerhalb des Unionsrechts konstruiert und tangieren die grundlegenden Asymmetrien der Wirtschafts- und Währungsunion nur gering. Auch der Versuch der Juncker-Kommission, durch die Europäische Investitionsbank (EIB) einen Investitionsplan in Höhe von 315 Milliarden Euro auf die Beine zu stellen, war wenig erfolgreich darin, die europäische Wirtschaft anzukurbeln. Vielmehr wurde die EIB zu einem quasi-fiskalpolitischen Instrument der EU-Mitgliedstaaten aufgeblasen, das außer Reichweite parlamentarischer Kontrolle das weltweit größte Kreditvolumen an Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte vergeben sollte. Eine größere parlamentarische Kontrolle, etwa durch das Europäische Parlament, wäre zukünftig besonders wichtig, wenn die EIB durch den Green Deal zu einer noch größeren Klima-Bank umstrukturiert wird.

Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) ist dahingegen dem Ziel der Preisstabilität verpflichtet und hat dezidiert keinen entsprechenden wirtschaftspolitischen Auftrag. Die Rolle der EZB ist auch unter einem anderen Aspekt problematisch: Die Mitgliedstaaten der Eurozone sind nach wie vor darauf angewiesen, sich einzeln zu refinanzieren, haben jedoch die währungspolitische Souveränität an die EZB abgegeben. Dadurch fehlen ihnen die Instrumente, um den Teufelskreis aus zunehmenden Staatsschulden und abnehmendem Wachstum zu durchbrechen. Namentlich die Möglichkeit, die Währung abzuwerten oder sich über die jeweilige Zentralbank zu refinanzieren. Die EZB fungiert im Gegensatz etwa zur US-Notenbank dezidiert nicht als Lender of Last Resort (LLR).

Die Mitgliedstaaten der Eurozone sind deshalb für die Refinanzierung ihrer Staatshaushalte primär auf die Kapitalmärkte angewiesen. Der Rechtsrahmen der Eurozone sieht jedoch keine Instrumente vor, die Staatsinsolvenzen ausschließen – im Gegenteil schreibt die sogenannte No-Bailout-Klausel einen Haftungsausschluss vor. In der Eurokrise wurde es für unter Druck geratene Staaten der Eurozone immer schwerer (und teurer), sich auf den Finanzmärkten zu refinanzieren, da die jeweiligen Staatsanleihen als zunehmend unsichere Anlage galten.

Wenn man die Eurozone einige Jahre nach dem Höhepunkt der Eurokrise betrachtet, steht man vor einem Flickenteppich aus halbdurchdachten Integrations- und Stabilisierungsmaßnahmen, sich widersprechenden Regeln und einer unsolidarischen Sparpolitik – Maßnahmen, die im Großen und Ganzen für eine stärkere Zersplitterung und Unübersichtlichkeit der Rechtslage in der EU sorgen. Aus diesem Flickenteppich wird klar, dass die tiefgreifenden Probleme der Eurozone in der Art wurzeln, wie diese ihre eigene Währung konstruiert hat. Ein solcher gordischer Knoten müsste eigentlich durch eine Überarbeitung der EU-Verträge und eine Neuausrichtung der bestehenden Institutionen durchschlagen werden. Doch gab es bisher weder ein ausschlaggebendes nationales Interesse noch den richtigen Moment, um zum Schlag anzusetzen. Im Mai 2020 hat sich diese Situation plötzlich geändert.

Die deutsche Ratspräsidentschaft muss aus den Fehlern lernen

Eurokrise und Coronakrise unterscheiden sich in einem wichtigen Punkt gravierend: Kein Land ist »schuldig« für den Ausbruch der Pandemie und den Einbruch der Wirtschaft. Erstmals seit Langem sitzen alle EU-Mitgliedstaaten wieder in einem wirtschaftspolitischen Boot. Und diese Situation führt dazu, dass sich die EU zum ersten Mal in ihrer Geschichte geschlossen Geld leiht, während die EU-Kommission die Schaffung eigener Einnahmequellen in Aussicht stellt. Dieses Politikfenster eröffnet die Möglichkeit, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Dabei sollte sich ein neuer Euro-Deal unter anderem auf die folgenden vier Reformen fokussieren:

Erstens: schrittweiser Ausbau von wirtschaftspolitischen Eingriffsbefugnissen der Union. Zur Vollendung der WWU und zur Beseitigung der destabilisierenden Asymmetrien braucht es eine europäische Integration der Wirtschaftspolitik. Dieser Schritt führt konsequent fort, was mit der Einführung des Euros 1992 begonnen wurde: eine Integration der zwei Geschwindigkeiten im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik. Mehr wirtschaftspolitische Eingriffsbefugnisse der EU-Institutionen sind erforderlich um gegen makroökonomische Ungleichgewichte vorzugehen und die Funktionsfähigkeit des europäischen Binnenmarktes sicherzustellen. Die EU muss in diesem Rahmen auch stärker als bisher marktdirigistisch tätig werden.

Am besten kann diese Aufgabe in dem neu geschaffenen Amt einer Hohen Beauftragten für Finanzen und Wirtschaftspolitik gebündelt werden. Unterstützend sollte es eine Europäische Wirtschafts- und Finanzbehörde geben. Diese Behörde übernimmt federführend die stärkere Koordination von nationalen Steuern und Ausgaben. Insbesondere soll sie die wirtschaftliche Entwicklung überwachen und darauf basierend Initiativen zu gesamteuropäischen Steuer- und Investitionsmaßnahmen vorlegen. Um eine demokratische Rückbindung der Maßnahmen zu erreichen, müssen alle Instrumente zwischen dem Rat und dem Europäischen Parlament gemeinsam ausgehandelt werden.

Zweitens: sukzessive Schaffung einer Steuerbasis. Die Finanzierung der EU muss neu geregelt werden. Geschehen kann dies durch die Schaffung einer Europasteuer. Hier würde sich insbesondere eine Finanztransaktionssteuer anbieten, da sie bisher in keinem nationalen Haushalt vorhanden ist. Zudem ließe sich durch eine kluge Gestaltung dieser Steuern eine sozialdemokratisch wünschenswerte Steuerungswirkung etwa auf Finanzgeschäfte mit positiven Effekten in den Mitgliedstaaten erzielen. Weiterhin muss die Finanzierung der Staatshaushalte der Mitgliedstaaten resilienter werde, Staatsinsolvenzen müssen durch den europäischen Rechtsrahmen glaubhaft unmöglich werden. Die EZB benötigt ein klares Mandat als Lender of Last Resort.

Drittens: Schaffung eines resilienten europäischen Transfersystems. Es muss ein Transfersystem geschaffen werden, das Mitgliedstaaten Gelder bereitstellt und jene Regionen unterstützt, die von strukturellem Wandel und niedriger Wirtschaftskraft betroffen sind. Dabei ist erstens wichtig, dass die Gelder an nationalen Regierungen vorbei und direkt in Regionen der EU investiert werden. Zudem braucht es ein starkes Mandat des Europäischen Parlaments und eine Einbindung des Europäischen Rechnungshofes und des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung. Es ist wichtig, große Investitionsvolumen demokratisch zu steuern und die Verwendung der Gelder genau zu überwachen.

Die Austeritätspolitik sollte dagegen in der Mottenkiste gescheiterter EU-Politik verschwinden, da sie wirtschaftspolitische Ungleichgewichte stets verschärft und die selbst gesteckten Ziele konsequent verfehlt hat. Um gesamteuropäisch bedeutsame Investitionsvorhaben wie etwa den Green Deal aktiv gestalten zu können, sollte der mehrjährige Finanzrahmen auch nach 2027, abhängig vom Investitionsbedarf, weiter ausgebaut und durch eigene Einnahmequellen aufgestockt werden.

Viertens: demokratische Teilhabe und Rechenschaft in der Wirtschaftspolitik. Bei all diesen Maßnahmen ist parlamentarische Kontrolle essenziell. Den Mitgliedern des Europäischen Parlaments müssen weitreichende Kontroll- und Initiativbefugnisse in der Wirtschaftspolitik erteilt werden, um den gesamten Prozess demokratisch zu legitimieren und an die europäische Bevölkerung und deren Interessen rückzubinden. Auch die EIB muss mehr parlamentarischer Kontrolle unterworfen werden, insbesondere bei der Festlegung ihrer Ziele und Leitlinien. Diese Stärkung des Parlaments könnte zudem positive Effekte auf dessen innere Verfasstheit haben und die Segmentierung des Parlaments entlang nationaler Interessen weiter nivellieren.

Am Ende braucht es Mut, lange Verhandlungen und etwas Glauben an das Unmögliche, um diese Vorschläge umzusetzen. Doch hat die Corona-Pandemie gezeigt, dass es für große politische Vorhaben die Chance zur Realisierung gibt und einst utopische Ideen gerade in Griffweite liegen. Einige dieser Vorhaben bräuchten eine teilweise Neuverhandlung der EU-Verträge. Auch hier gibt es ein offenes Politikfenster durch die Konferenz zur Zukunft von Europa, für die Frankreich und Deutschland Vertragsänderungen bisher nicht ausgeschlossen haben.

Natürlich stünden lange schwierige Verhandlungen mit auf Haushaltsdisziplin versessenen nordischen Staaten, zur Autokratie neigenden Regierungen in Mittel- und Osteuropa, und von Corona hart getroffenen Ländern im Süden bevor. Doch ist die gesamte Geschichte der Wirtschafts- und Währungsunion eine Geschichte schwieriger Verhandlungen und auf halber Strecke einfach aufzuhören ist keine nachhaltige Lösung. Die deutsche Bundesregierung und besonders die Sozialdemokraten in der Regierungsverantwortung haben sich viele schöne Ideen für ein solidarischeres und demokratischeres Europa in den Koalitionsvertrag geschrieben. Jetzt ist die Zeit, sie umzusetzen.

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