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© Foto: picture alliance/dpa | Daniel Reinhardt

Die Pandemie und der Respekt Ein neuer Stern am Grundwertehimmel?

Es fing damit an, dass Teile des Krankenhauspersonals, die an der vordersten Front gegen das verheerende Virus ankämpfen, wegen der allzu knapp bemessenen Stellenzahlen in unseren Krankenhäusern oft mit letztem Einsatz und trotz der elementaren Bedeutung ihrer Arbeit für die Gesellschaft mit recht bescheidener Entlohnung, mehr Respekt einforderten. Es häuften sich auch Berichte über Kündigungen von Mitarbeitern, die diese anstrengende Tätigkeit so schnell wie möglich hinter sich lassen wollten. Die gesellschaftliche Resonanz auf den Ruf nach mehr Respekt war sofort einhellig und groß. Ein Nerv ist getroffen. Neben einer Reihe anderer gewichtiger Fragen, voran der nach der fragwürdigen Rolle des reinen Gewinndenkens bei der Vorratshaltung und der Kapazitätsplanung in unserem Gesundheitswesen, geht es seither ganz grundsätzlich um die gesellschaftliche Wertschätzung der dort geleisteten Arbeit und die Höhe der Gehälter, in denen erstere ihren realen Ausdruck finden muss. Mittlerweile werden diese Fragen auf immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens bezogen und der Begriff Respekt ist sogar zum Leitthema eines umfassenden Programms der Gesellschaftsreform geworden: dem Wahlprogramm der Sozialdemokratie. Etwa ein neuer Grundwert?

Ganz so neu ist die prominente Verwendung des uns sonst eher in der Alltagswelt begegnenden Begriffs bei näherer Betrachtung freilich nicht. Der entsprechende Rückblick trägt zur Klärung bei. Das verdanken wir zwei herausragenden Autoren, die bedeutenden Einfluss auf die Debatten zur Neubestimmung des gesellschaftlichen Fortschritts hatten – und haben. Der eine war der deutsch- amerikanische Philosoph Hans Jonas mit seinem epochalen Werk Das Prinzip Verantwortung von 1979, das die sozialdemokratischen Debatten über eine zeitgemäße Zukunftsethik und ihre ökologischen Konsequenzen dank des besonderen Engagements von Hans-Jochen Vogel mehr als zwei Jahrzehnte lang inspirierte. Der andere nachhaltig wirkende Autor ist kein Geringerer als der amtierende Papst Franziskus mit seiner herausragenden Enzyklika Laudato Si von 2015, in der der Begriff Respekt in wechselnden Zusammenhängen eine Schlüsselrolle spielt. Freilich sind diese beiden bedeutenden Impulse außerhalb der engeren Kreise der an diesen Fragen besonders wissenschaftlich-intellektuell Interessierten und politisch-geistig Engagierten sehr verblasst.

Überraschend ist es daher schon, wenn der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Olaf Scholz das Wagnis eingeht, den Begriff »Respekt« als zentrales Motto sozialdemokratischer Botschaften zu verkünden und ihm zutraut, eine ganze Kampagne zu tragen. Man fragt sich unwillkürlich: Wo bleiben die Grundwerte, die diesen Platz sonst unwidersprochen beanspruchen? Wo bleiben Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität? Wo bleibt zumal die Gleichheit? Berechtigte Fragen und nützliche zudem, denn sie könnten eine Debatte anregen, ein neues Nachdenken über die tagespolitischen Konflikte hinaus, wo sonst oft eher gelangweiltes Abwinken erfolgt, wenn es um die Grundsätze unserer politischen Orientierung geht, weil die alten Formeln schon viel zu oft mit zu vielen unterschiedlichen Absichten gebraucht – und missbraucht – worden sind. Hier ist nun noch einmal grundsätzliche Klärung verlangt, denn der Begriff »Respekt«, der sozusagen schon als Wort eine starke Aufforderung zum Ausdruck bringt, das Ausrufezeichen sozusagen in sich trägt, setzt einen neuen Akzent. Aber welchen genau? Denn auch er kann, wie sich zeigt, mehr als nur eine Bedeutung haben. Und warum betritt das unerwartete Leitwort gerade jetzt die große Bühne? Der Zufall oder ein Einfall kreativer Kommunikationsberater? Es ist wohl eher der Impuls, einem in der Corona-Pandemie aus der Gesellschaft heraus spontan prominent gewordenen Begriff eine weiterreichende, grundsätzliche Bedeutung zu geben und im Wahljahr eine umfassende politische Botschaft daran zu knüpfen. Beim Kampf gegen die Pandemie sollte der Begriff zunächst vor allem die besondere Wertschätzung für die besonderen Leistungen der Beschäftigten in den Gesundheitsdiensten zum Ausdruck bringen – und schon da war allen sofort klar, dass es beim Händeklatschen für sie allein nicht bleiben darf. Es ging um mehr als Anerkennung oder Achtung. Wofür aber kann der Begriff stehen, wenn er einem umfassenden Reformprogramm Sinn und Richtung geben soll?

Zusätzlich zu den konkreten politischen Beispielen seiner Verwendung im Wahlprogramm der SPD selbst und den Beiträgen des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz zur Sache (beispielsweise am Anfang dieses Schwerpunktes), macht der kurze Rückblick auf einige große Debatten der jüngsten Zeit klüger, in denen der Begriff Respekt die Schlüsselrolle spielte. Dass er die historischen Grundwerte der Sozialdemokratie nicht ersetzen kann und darf, steht außer Frage, aber vieles, was in den aktuellen Debatten gefordert wird, kann durch den Bezug auf sie allein nicht zwingend und mit dem gebotenen Nachdruck begründet werden. Das fängt schon mit der heute neu und umfassender zu stellenden Verteilungsfrage an. Freiheit und Gerechtigkeit werden zwar von fast allen lauthals gefordert, aber wenige treten tatkräftig für sie noch ein, wenn Farbe bekannt werden muss, nämlich wenn sie für alle einen realen Gebrauchswert erhalten sollen, der weit über die liberale Gleichheit aller vor dem Gesetz hinausgeht. Dann geht es nämlich um eine allgemeine hohe Sockelgleichheit bei der Verfügung über diejenigen sozialen Güter, ohne die ein selbstbestimmtes Leben ein leeres Versprechen bleibt: ein inklusives Grundeinkommen, eine die sozialen Ungleichheiten ausgleichende Bildung und Gesundheitsversorgung sowie eine alle Lebensrisiken abdeckende soziale Sicherung. Und schon im dritten Grundwert, der Solidarität, deutet sich an, dass für eine menschenwürdige Gesellschaft über diese notwendigen Vorbedingungen hinaus noch weitere bedeutsame Voraussetzungen erfüllt sein müssen: vor allem eine Grundhaltung der gleichen Augenhöhe, der gegenseitigen Achtung und Hilfe füreinander über das hinaus, was die Gerechtigkeit zur Pflicht macht, eine gewisse Mitverantwortung aller für die Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen der Anderen im Alltagsleben. Es geht um Achtung und die lebenspraktische Anerkennung aller anderen als Gleiche, gerade in den Fällen abweichender Identitäten des Geschlechts, der Herkunft, der sexuellen Prägung, des sozialen Milieus, der politischen Überzeugung – und des Alters. Erst wenn eine solche Haltung zur gelebten Alltagskultur (fast) aller Menschen geworden ist, kann aus einer in ihren Strukturen gerechten Gesellschaft wie der sozialen Demokratie eine gute, eine humane, »anständige Gesellschaft« (Avishai Margalit) werden.

Der Augenöffner Corona hat in dieser Hinsicht eine Reihe erheblicher Defizite und Schieflagen unserer Gesellschaft unbarmherzig offengelegt. Dazu gehören die oft menschenfeindlichen oder gar lebensgefährdenden Folgen eines zu weitgehend von privaten Gewinninteressen getriebenen Gesundheitswesens, welches das unprofitable Vorsorgen für den Krisenfall kaum noch zulässt, das verfügbare Personal auf das funktionale Minimum ausdünnt und die Bestimmung des gesellschaftlichen Werts ihrer Arbeit dem sozial blinden Markt überlässt. Die Betroffenen erleben am Zahltag und im überlasteten Arbeitsalltag, zumal wenn sie sich mit vielen anderen vergleichen, wie wenig ihr Dienst an Gesundheit und Leben der Gesellschaft wert zu sein scheint. Arbeitsplätze in der Werbung, dem Finanzbereich und den meisten Industrien oder den Medien zum Beispiel sind so viel besser honoriert, auch dort, wo ihr gesellschaftlicher Wert mehr als fragwürdig ist. Sie machen die tägliche Erfahrung, dass ihre Arbeit, ihre Leistung für die Gesellschaft »nicht respektiert« wird. Respekt ist ein Wort, das in der Arbeits- und Lebenswelt selbst zirkuliert, dem das unmittelbare eigene Erleben eines empfindlichen Mangels und des sozialen Urteils darüber zugrunde liegt.

Das Konzept Respekt in einem weiteren Sinn steht bei Hans Jonas für eine Handlungsmaxime, die zwei Bedingungen erfüllt. Erstens: Wir dürfen angesichts unseres durch den technischen »Fortschritt« ins Maßlose gesteigerten Zerstörungspotenzials nicht länger Eingriffe in das Naturgeschehen vornehmen, die Leben oder Kreisläufe vernichten, die wir selbst nicht neu schaffen können. Zweitens: Im Zweifelsfalle müssen wir stets der schlimmstmöglichen Folgenschätzung Gehör schenken. Das geht über Anerkennung hinaus und kommt erst in Begriffen wie Ehrfurcht (engl. deep respect) und Respekt zum Ausdruck. Respekt gebietet, dass wir bewahren müssen, was wir nicht neu hervorbringen können. An die Stelle des blochschen »Prinzips Hoffnung«, dass am Ende alles gut wird, muss das Prinzip Verantwortung treten, als Respekt vor dem unantastbaren Eigenwert einer reproduktionsfähigen Natur. Es war Hans-Jochen Vogel, der Jonas seit den 80er Jahren mehrfach zu intensiven Dialogen mit der SPD eingeladen hat, als diese den Weg zu einer grundlegenden Neuorientierung eingeschlagen hatte. Das hat das Berliner Grundsatzprogramm 1989 in der Tonlage und im Inhalt erkennbar geprägt. Die Enzyklika des amtierenden Papstes Franziskus Laudato Si setzt diese Tradition des Umdenkens fort und erweitert sie auf den sozialen Raum sowie die unauflöslichen Wechselwirkungen zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft. Der Begriff Respekt ist in ihr allgegenwärtig. Ihre »ganzheitliche Ökologie« schließt in vielen konkreten Analysen und Forderungen eine »Ökologie des Alltagslebens« und des »Werts der Arbeit« ein und weist darauf hin, dass wir über die Naturzerstörung hinaus und im Zusammenhang mit ihr auch im Begriff sind, viele Bereiche der Natur des Menschen selbst und der humanen Lebenswelt zu zerstören, die gleichfalls nicht durch Kunstprodukte ersetzt werden können. Die Corona-Pandemie hat nun eine der zahlreichen Wechselwirkungen zwischen sozialer und Naturzerstörung spektakulär vor Augen geführt. Die Wildtiere, die das Virus übertragen, dringen nämlich nur dann in die Menschenwelt ein, wenn die Menschen zuvor deren natürliche Lebenswelt gefährdet haben. Die Virologen warnen uns, dass Zoonosen, also Übertritte von tierischen Viren in die Menschenwelt, wo sie Pandemien auslösen, infolge unserer Lebensweise künftig eher häufiger auftreten werden.

Das Prinzip »Respekt!« könnte und sollte über den Anlass der Bundestagswahl hinaus zu einem Prozess der Neubesinnung auf den Zusammenhang von Zerstörungsprozessen in beiden Sphären, Zivilisation und Natur, inspirieren.

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