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Ein neues Jahrhundert Sozialer Demokratie – freundliche Gesellschaft und humane Lebenswelt

Als Diskussionsforum haben wir in der Januar/Februar-Ausgabe mit einer kritischen Bestandsaufnahme zur Lage der SPD begonnen, die wir seitdem in dieser Rubrik fortführen.

Seit den 80er Jahren hat das kulturelle und wirtschaftspolitische Programm des Neoliberalismus den möglichst gering regulierten – »entfesselten« – Wettbewerb in den Mittelpunkt der Politik und seiner kulturellen Leitbilder gestellt. Entscheidend war der geforderte systematische Übergang von einer Wettbewerbswirtschaft zur Wettbewerbsgesellschaft und einem Menschenbild, das dem entspricht. Wettbewerb wurde zur absolut vorherrschenden Motivationsstrategie für Leistung und Wettbewerbsfähigkeit und zu ihrem entscheidenden Beurteilungskriterium. Jedwede Leistung – auch im Bereich der öffentlichen Güter wie Bildung, Kultur, Gesundheit und Wohnen – wurde zur Ware, die analog zur Wirtschaft ihren Wert allein durch ihren Erfolg am Markt gewinnt (so sind z. B. für Schulen bzw. Hochschulen die Zahlen der sich bewerbenden Schüler oder Studierenden oder die Höhe der kompetitiv erworbenen Drittmittel ausschlaggebende Qualitätsmerkmale, die ökonomische Effizienz ein Qualitätsmerkmal von Krankenhäusern).

Inzwischen sind die destruktiven Folgen dieser manischen Kultur des Wettbewerbs in Bezug auf das Gemeinwohl, die Qualität der Bildung und einen allen Bürgerinnen und Bürgern zugänglichen Gesundheitsdienst offenkundig. In Bezug auf den Charakter der Gesellschaft hat der Übergang zur Wettbewerbsgesellschaft – wie zu erwarten war – eine Kultur der Gegnerschaft zwischen den Menschen als Wettbewerbern auf fast allen Gebieten geschaffen, eine Kultur der Angst vor dem Verlieren und dem Abstieg, der Unterminierung von Hilfsbereitschaft und Solidarität. Sie ist mitverantwortlich dafür, dass sich viele Menschen, auch wenn sie gegenwärtig materiell nicht schlecht gestellt sind, »abgehängt« fühlen, denn Abstieg und Verlust drohen allenthalben, wenn der Erfolg im Wettbewerb versagt bleibt. Überdies kann man nicht mehr auf eine umgebende, schützende Gesellschaft zählen (und nur noch begrenzt auf die institutionalisierte Solidarität der Sozialsysteme), die einen auffängt und sich kümmert, wenn es einem schlecht geht.

Diese exzessive Kultur der Wettbewerbsmanie hat einen Boden der Angst, des Misstrauens, der Geringschätzung und der Menschenfeindlichkeit bereitet, der Sündenbock-Strategien und Ressentiments sprießen lässt. Sozialdemokratische Politik will nicht nur handfeste Verbesserungen für benachteiligte Menschen, die angesichts der Kluft zwischen Arm und Reich weit in die Mittelschicht hinein reichen. Sie will auch die Bedingungen dafür schaffen, dass aus einer Wettbewerbsgesellschaft, in der Jede/r gegen Jede/n steht und Jeder dem anderen misstraut, eine freundliche und kooperative Gesellschaft werden kann. Freundlichkeit verweist auf Freundschaft und Freunde. In der Geschichte demokratischer Politik und der dazugehörigen politischen Kultur spielt der Gedanke der Freundschaft spätestens seit Aristoteles eine wichtige, ja zentrale Rolle. Zunächst ist Freundschaft ganz fundamental dafür, dass ein Leben als sinnvoll und lebenswert empfunden werden kann. »Denn ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er alle übrigen Güter besäße« (Aristoteles, Nikomachische Ethik). Ein Leben ohne Freundschaft ist leer.

Aber diese auf den ersten Blick private Beziehung hat vor allem auch erhebliche Auswirkungen auf die Qualität eines politischen Gemeinwesens. Sie steht bei Aristoteles auf derselben Stufe wie die Gerechtigkeit, die er besonders hervorhebt, weil sie als Tugend »des anderen Gut« darstellt. Anders als Tapferkeit, Weisheit oder Klugheit bezieht sich Gerechtigkeit nicht nur auf das Individuum, sondern auf das Zusammenleben mit anderen, das sie für ein gelungenes Gemeinwesen prägen soll. Und da Menschen soziale Wesen sind, ist die Qualität des Gemeinwesens für ihr Leben entscheidend. Diese hohe Bedeutung gilt auch für die Freundschaft. In ihrer dauerhaften Form gelingt sie, wenn Freunde – als Gleiche bzw. Ebenbürtige – einander um ihrer selbst willen zugetan sind (nicht berechnend, wie im ökonomischen Umgang, nicht instrumentalisierend), wenn Wohlwollen, Verlässlichkeit, Fairness, Partnerschaftlichkeit, Freiwilligkeit, gegenseitiges Vertrauen, ein Sinn der Gemeinschaftlichkeit und gegenseitigen Loyalität, Ehrlichkeit und Mut ihre Beziehung prägen. Dazu müssen sie selbst als Individuen zu diesen Verhaltensweisen fähig sein und selbstständig bleiben, also z. B. nicht unterwürfig oder konkurrierend miteinander umgehen.

Freundschaften sind umso haltbarer, je mehr Freunde diese Fähigkeiten (nach Aristoteles Tugenden als »Tüchtigkeiten«) im Verhältnis zueinander praktizieren und überdies in Kommunikation miteinander bleiben. Die Freundschaft als Haltung bleibt zwar konkret in ihrer tiefgehenden Gestalt jeweils auf wenige Menschen beschränkt, aber die Einstellungen und »Tüchtigkeiten«, die zur Freundschaft befähigen, sind strukturell genau jene, die Bürgerinnen und Bürger in einer gelungenen Demokratie zur Erhaltung und Entwicklung dieser Demokratie brauchen. Sie können beispielhaft in den Nahwelten der Nachbarschaften und der Zivilgesellschaft erprobt werden. Generell betont Aristoteles überdies, dass »Tüchtigkeiten« früh eingeübt werden müssen, um durch die Gewohnheit zu einer verlässlichen Haltung zu werden (ein Gedanke, der in der Forschung über Helfer von Juden im Nationalsozialismus eine interessante Bestätigung gefunden hat; sie waren in der Regel auch in Gefahrensituationen spontan zur Hilfe bereit, weil sie es so gewohnt waren, diese Werte schon lange verinnerlicht hatten). Freundlichkeit im Umgang mit den Mitbürgerinnen und Mitbürgern – mit den Mitmenschen im Allgemeinen – enthält als philosophischen, theologischen und/oder psychischen Hintergrund eben all jene Merkmale, die eine gute Freundschaft auszeichnen. Freilich kann nicht jede soziale Beziehung zu einer tiefen Freundschaft werden. Aber es macht einen entscheidenden Unterschied, ob man Menschen, sei es im öffentlichen Verkehrsmittel oder am Arbeitsplatz prinzipiell freundlich – also wohlwollend, verlässlich, von gleich zu gleich, vertrauensbereit, loyal etc. – begegnet, oder sie spontan misstrauisch als Konkurrenz abwertet. Die Devise von Immanuel Kant, sich zur Praxis der Gerechtigkeit immer »an die Stelle des anderen zu setzen«, kann uns als Gedankenexperiment auch zeigen, wie viel mehr und wärmer wir uns selbst in einer Gesellschaft aufgehoben fühlen, wenn wir, auch als Fremde, vor allem im Fall von Missgeschick allgemein auf eine solche Freundlichkeit stoßen oder mit ihr rechnen können.

In früheren Zeiten haben viele USA-Reisende aus Europa die auffällige Freundlichkeit der US-Amerikaner gerühmt, die sie als Zeichen ihrer gediegenen demokratischen politischen Kultur interpretiert haben. Freilich wurde diese oft nach längerem Aufenthalt als »aufgesetzt« und unehrlich empfunden. Hinter der freundlichen Fassade haben viele Europäer eine versteckte Feindseligkeit wahrgenommen. Ohne diese Frage hier historisch-empirisch für die USA klären zu können, zeigt sie doch, wie schwierig es ist, eine echte Kultur der Freundlichkeit zu praktizieren. Und sie zeigt auch, dass dies nur möglich ist, wenn sie durch gerechte und auch institutionalisiert solidarische Verhältnisse (Sozialversicherungen) unterfüttert wird. Eben dies war in den USA, vor allem im Siegeszug des Neoliberalismus, immer weniger der Fall.

Eine »freundliche« Gesellschaft entspricht nicht nur der Tradition der demokratischen politischen Kultur. Sie bezeichnet ganz besonders die der Sozialdemokratie, der es ja gerade immer auf die Solidarität und »Geselligkeit« der sozialen Beziehungen über den liberalen Rechtsstaat hinaus ankam. Deshalb ist es konsequent und notwendig, als kulturelles Ziel der Sozialen Demokratie eine freundliche Gesellschaft zu erstreben. Wie im Godesberger Programm allgemein formuliert, speist sich die Sozialdemokratie eben auch aus den Quellen der klassischen Philosophie, z. B. von Aristoteles. Dort knüpft sie mit den nach der Französischen Revolution formulierten Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität an. Aber faktisch auch am Bedürfnis vieler, besonders junger Menschen, die die unfreundliche und entfremdende Wettbewerbskultur satt haben und sich ihre Menschlichkeit bewahren wollen. Sie sind trotz Neoliberalismus hilfsbereit und engagieren sich in Parteien und in vielen Bürgerinitiativen, auch für Flüchtlinge. Viele warten auf ein Signal zugunsten einer menschlicheren, eben einer freundlichen Gesellschaft.

Der Nährboden, der es möglich machen kann, dass eine Kultur der menschlichen Solidarität, des Vertrauens und der Freundlichkeit allmählich heranwachsen und an die Stelle des vorherrschenden einseitigen Konkurrenzdenkens und Misstrauens treten kann, sind die Erfahrungen der Menschen in den gemeinsamen öffentlichen Lebenswelten und in den Bürgerinitiativen der Zivilgesellschaft. Hier, wo sich in der Regel die eigenen und die gemeinschaftlichen Interessen überlappen oder verschmelzen, kann der Wert von Solidarität und vertrauensvoller Zusammenarbeit von jedem Einzelnen unmittelbar und überzeugend erfahren und zum Fundament für humane gesellschaftliche Beziehungen werden. Das kann und will sozialdemokratische Politik fördern.

Wie human, gesichert, solidarisch und demokratisch eine Gesellschaft ist, entscheidet sich überall auf der Welt letzten Endes vor Ort, in den unmittelbaren Lebenswelten und Nachbarschaften, in denen zumeist sehr unterschiedliche Menschen ihr Leben miteinander verbringen und gemeinsam über die Bedingungen ihres Zusammenlebens entscheiden. Hier wird die Qualität ihres Lebens und ihrer Beziehungen zueinander unmittelbar erfahrbar, hier müssen sich Mitmenschlichkeit und Toleranz bewähren, hier kann demokratische Selbstbestimmung bei der Regelung der Grundfragen des Zusammenlebens praktiziert und eingeübt werden, hier wird Vertrauen gebildet oder verspielt, hier können Freundschaften wachsen und Freundlichkeit als öffentliche Tugend erprobt werden.

Nachbarschaft, Lebenswelt und kommunale Politik sind daher die Keimzelle von Demokratie und ziviler Bürgerkultur. Sie sind auch der Raum, in dem die Lebenschancen und die Lebensqualität der Menschen durch ein gutes Angebot an öffentlichen Gütern, Plätzen, Straßen und Räumen, Schulen und Jugendtreffs, Bibliotheken und Sportstätten, Schwimmbädern und Spielplätzen, Naherholungsräumen und öffentlichem Nahverkehr, bezahlbarem Wohnraum und mittlerweile auch rasch verfügbaren und von den Bürgern mitgetragenen humanen Flüchtlingsunterkünften entscheidend geprägt werden. Die öffentliche Infrastruktur in Deutschland lebt infolge der langjährigen gravierenden Investitionsdefizite inzwischen von der Substanz und befindet sich vielerorts in einem beklagenswerten Zustand. Die Abschreibungen sind höher als die Investitionen. Besonders stark trifft der Verfall des öffentlichen Kapitalstocks die Kommunen, vor allem die Schulen, Volkshochschulen, öffentlichen Bibliotheken, öffentlichen Treffpunkte, Schwimmbäder und Sportstätten, das Wohnungsangebot und die Qualität von Wohnquartieren. Darunter leiden die Qualität des Lebens und die Möglichkeiten für spontane öffentliche Begegnungen und gemeinschaftliche Aktivitäten der Bürgerinnen und Bürger.

Die Qualität des menschlichen Lebens, insbesondere des Zusammenlebens, des einander Kennenlernens und des Verständnisses füreinander entscheidet sich immer vor Ort, in den kommunalen Lebenswelten. Hier können Solidarität und Demokratie, der unauflösliche Zusammenhang zwischen den eigenen Interessen und denen der Gemeinschaft tagtäglich unmittelbar erfahren und praktiziert werden. Hier finden sich die Orte für Austausch, Zusammenarbeit, gegenseitige Hilfe sowie die Planung und Durchführung gemeinsamer Projekte. Hier entstehen die Initiativen des nachbarschaftlichen und bürgerschaftlichen Engagements, die moralische Infrastruktur der Gesellschaft, in der die zivile Kultur und die Praxis der Demokratie wurzeln.

Diese bewähren sich vor allem in den bürgerschaftlichen Beratungen und kommunalen Entscheidungen. Lebenswelt, Zivilgesellschaft und Kommune sind daher die hohe Schule der Demokratie, der Bürgersolidarität und der zivilen Kultur. Damit diese Grundlagen der ganzen Gesellschaft nicht brachgelegt werden, bedürfen die Kommunen einer ausreichenden finanziellen Ausstattung als Basis echter Selbstbestimmung. Die Erhaltung und der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, über welche die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar selbst entscheiden können, bilden den Kern praktizierter und direkt erfahrbarer Demokratie.

(Thomas Meyer, Gesine Schwan, Dierk Hirschel, Christian Krell, Henning Meyer, Wolfgang Merkel, Hans Misselwitz, Michael Müller, Wolfgang Schroeder / SPD-Grundwertekommission)

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