»Feministinnen kann niemand leiden«, heißt es in der Serie Mrs. America, die den politischen Kampf um das Equal Rights Amendment in den 70er Jahren zeigt, einen Verfassungszusatz, der Frauen in den USA gleiche Rechte zusichern sollte. Der Satz bringt es recht gut auf den Punkt. Denn nicht nur von rechtsreaktionärer Seite gibt es traditionell Widerstand gegen feministische Forderungen, auch viele Linke plädieren immer wieder gerne dafür, sich doch bitte auf die Kernforderung nach sozialer Gleichheit und Gerechtigkeit zu besinnen, statt sich durch vermeintliche »Partikularinteressen« einzelner Bewegungen wie eben den Feminismus oder Black Lives Matter spalten zu lassen. Insbesondere seit der Niederlage Hillary Clintons bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 ist die Argumentation weit verbreitet, dass sich die Linksliberalen zuletzt nur auf die Anliegen von Minderheiten konzentriert hätten. Soziale Ungleichheit und deren Bekämpfung sei beim Kampf gegen Diskriminierung aus dem Blick geraten. Diese Entwicklung habe schließlich auch den globalen Siegeszug rechtspopulistischer und ultrarechter Strömungen befördert, wenn nicht gar verschuldet.
»Identitätspolitik« ist dabei das vielstrapazierte Schlagwort, das die Atomisierung und fehlende Allianzen innerhalb linker Bewegungen erklären soll. Der Begriff scheint als neues Schlagwort den seit Jahrzehnten so beliebten reaktionären Kampfbegriff der »Political Correctness« abzulösen. Doch in beiden Fällen handelt es sich um den Versuch – und das ist die zentrale These dieses Textes – demokratiepolitisch schwer mehrheitsfähige emanzipatorische Politiken zu diskreditieren und zu delegitimieren.
Die Kritik an Identitätspolitik ist freilich nicht neu. Am berühmten »Hauptwiderspruch«, also der kapitalistischen Ausbeutung, mit dessen Beseitigung sich auch alle anderen Unterdrückungsformen ganz von selbst in Wohlgefallen auflösen würden, arbeitet sich der Feminismus seit bald 150 Jahren ab. Denn bereits die Sozialisten der ersten Stunde hatten verlangt, dass die Genossinnen doch bitte mit ihrem feministischen Gejammer aufhören und die Reihen schließen sollten. Wenn der Sozialismus erst mal da wäre, hieß es, würde sich auch die Unterdrückung der Frauen von selbst erledigen – sie sei eben nur ein »Nebenwiderspruch«. Eine Prognose, die sich bekanntlich nicht bewahrheitet hat.
Es waren stattdessen genau jene als »Identitätspolitik« abgetane Bewegungen, die dieser Unterdrückung etwas entgegengesetzt haben. Denn ohne Identitätspolitik gäbe es mit großer Wahrscheinlichkeit z. B. noch die Jim-Crow-Gesetze, die in der Zeit zwischen der Abschaffung der Sklaverei in den USA 1865 und dem (offiziellen) Ende der Rassentrennung Mitte der 1960er Jahre in den Südstaaten in Kraft waren: u. a. kein Wahlrecht für Frauen und Homosexualität wäre weiterhin strafbar.
Und diese so elementaren Kämpfe gegen Diskriminierung und für gleiche Rechte sind, entgegen der Kritik, auch nicht von jenen für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit zu trennen. Anders als rechte Identitätspolitik, der es um die Sicherung von Privilegien geht und die Exklusion von Minderheiten, kämpft linke Identitätspolitik für Partizipation und Inklusion. Und sie ist auch keine selbstgewählte Protestform, sondern im Wesentlichen eine Reaktion auf Diskriminierung. Sie reagiert darauf, dass einem vermeintlichen Kollektiv bestimmte (nicht zwingend nur negative) Eigenschaften zugeschrieben werden. Das bedeutet also zum Beispiel, dass Frauen als irrational gelten, ihnen gleichzeitig aber auch mehr Emotionalität und Empathiefähigkeit zugeschrieben werden. Solche Kollektivzuschreibungen sind historisch kontingent, sie können wechseln und sich mitunter sogar direkt widersprechen. Menschen werden damit zu einer Gruppe zusammengefasst, die eine eigene »Einheit« bilden soll: Identität kommt vom lateinischen »idem«: das bedeutet »derselbe, dasselbe«. Diese Einheit ist eine soziale Setzung. Die Menschen, die sich in ihr wiederfinden, sind nicht wirklich »dieselben«. So hat der Rassismus erst das Konstrukt Race hervorgebracht – nicht umgekehrt, wie der Schriftsteller Ta-Nehisi Coates im Vorwort zu Toni Morrisons Die Herkunft der Anderen schreibt. Menschen werden also als Kollektive adressiert, ohne über diese Zugehörigkeit selbst entschieden zu haben.
Diese kollektive Zuschreibung hat enorme Konsequenzen, die zwar der einzelne Mensch zu tragen hat, die aber nur aufgrund der zugeschriebenen Zugehörigkeit entstehen: Die »gläserne Decke« erfährt zwar eine einzelne Frau, aber nicht deshalb, weil sie bei ihrer individuellen Karriereplanung etwas falsch gemacht hat, sondern weil sie als Teil des Kollektivs »Frauen« struktureller Diskriminierung ausgesetzt ist; von Faschisten verprügelt werden zwar einzelne konkrete Menschen, aber sie erfahren diese Gewalt deshalb, weil sie zuvor rassistisch kollektiviert wurden. Wenn nun also Diskriminierung und Unterdrückung immer und ausschließlich kollektiv funktionieren, liegt es nahe, sich auch kollektiv dagegen zur Wehr zu setzen.
Den Begriff »Identitätspolitik« hat das Combahee River Collective 1977 geprägt. In einem programmatischen Statement hat dieser Zusammenschluss schwarzer, lesbischer Frauen verkündet: »Wir glauben, dass eine tiefgreifendste und möglicherweise die radikalste politische Haltung direkt aus unserer eigenen Identität heraus entsteht«. Damit war gemeint, dass die spezifische Unterdrückung, die sie als schwarze Lesben konkret erfuhren, sich auch aus ihrer konkreten Situation als schwarze Lesben heraus am besten bekämpfen lässt – und zwar gemeinsam bekämpfen lässt. In einer linken Politik, die sich vornehmlich auf den männlichen Industriearbeiter als Modellfigur des Proletariats bezieht, erkannten sich diese Frauen nämlich nicht wieder. Denn dessen Lebensrealität entsprach nicht ihrer Lebenssituation und nicht ihren Ausbeutungserfahrungen.
Das Wort »kollektiv«, beim Combahee River Collective wohl nicht zufällig Namensbestandteil, ist besonders zentral. Doch als Kollektiv auf die gemeinsam erlebte Unterdrückung zu reagieren, setzt zunächst die Akzeptanz dieser fremdbestimmten Zuordnung und Zugehörigkeit voraus. Dieses notgedrungene Akzeptieren wird von einer Eigen- und Neudefinition der zugewiesenen kollektiven Identität begleitet. Die erfahrene Unterordnung samt der abwertenden Attribute sollen zu einer nun selbstgewählten und selbstermächtigenden, positiv konnotierten Kollektividentität werden: Frauen sind nun nicht mehr das »schwache Geschlecht«, sondern stark und selbstbestimmt, Schwarz ist nicht mehr schlechter als Weiß, sondern »Black is beautiful«, »Gay Pride« ersetzt schwul als Schimpfwort usw.
Allerdings bleibt das zentrale Dilemma jeder linken Identitätspolitik, sich dabei auch positiv auf Kategorien beziehen zu müssen, die eigentlich Anlass für die Diskriminierung sind. Identitätspolitik ist also von einer grundlegenden Ambivalenz zwischen Ablehnung und Affirmation von Identität gekennzeichnet. Mit der Affirmation einher geht eine große Gefahr von Identitätspolitik: die der Essenzialisierung. Denn auch die beispielsweise sexistischen und rassistischen Zuschreibungen sind oft ambivalent und nicht ausnahmslos pejorativ, Frauen gelten etwa als empathisch und fürsorglich, schwarze Männer als stark und potent. Deshalb ist die Versuchung groß, solche kontingenten Fremdzuschreibungen in den identitären Eigenentwurf aufzunehmen und sie zu essenzialisieren, also zu notwendigen Wesensmerkmalen zu erklären. Der selbstbewusst getragene Afro gehört dann ebenso unauflöslich zur Blackness wie die gefeierte Gebärmutter zum Frausein. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer nicht über die nötige Haarstruktur oder wie Transfrauen nicht über das geforderte Organ verfügt, bleibt ausgeschlossen. Die angenommene kollektive Identität ist dann auch kein letztlich aus Notwehr entstandenes Hilfskonstrukt mehr. Sondern sie postuliert und manifestiert erneut Wesensunterschiede, wo eigentlich keine sind.
Am Beispiel der Frauenbewegungen, die zentrale identitätspolitische Bewegungen waren und sind, zeigt sich die Schwierigkeit der Suche nach einer identitären Essenz besonders anschaulich. »Bin ich etwa keine Frau?!«, fragte die ehemalige Sklavin Sojourner Truth im Jahr 1851. Mit ihrer berühmten Rede »And ain’t I a woman?!« klagte sie auf einer Frauenrechtskonvention in Ohio an, dass die soeben zum Leben erwachte US-Frauenbewegung mit ihrer Emanzipationsforderung Schwarze und versklavte Frauen nicht einschloss – und dies obwohl die US-Frauenbewegung nicht zuletzt vom Kampf der Abolitionist/innen für die Abschaffung der Sklaverei inspiriert war.
Die Kritik von Sojourner Truth markierte damit den Anfangspunkt einer Auseinandersetzung, die sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Feminismus zieht: Für wen kämpft der Feminismus eigentlich? Wer genau waren »die Frauen«, für deren Rechte er eintrat? Oder andersherum gefragt: Wer war jeweils ausgeschlossen? Von Anfang an stand die Frauenbewegung vor der fundamentalen Herausforderung, ein politisches Subjekt Frau zu bestimmen und Gemeinsamkeiten zu proklamieren, über die sich dieses Kollektiv definieren konnte. Diese Identifizierung schlug (und schlägt weiterhin) wie bei Sojourner Truth nicht nur aufgrund der Hautfarbe fehl, sondern dieses Scheitern wird im Verlauf der Geschichte des Feminismus die unterschiedlichsten Gründe haben. Arbeiterinnen fühlten sich vom bürgerlichen und Feministinnen des globalen Südens vom westlichen Feminismus ausgeschlossen, lesbische Frauen lehnen den Feminismus der heterosexuellen Feministinnen als ausschließend ab usw.
Ein zentraler Grundkonflikt der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Ersten Frauenbewegung war zunächst jedoch der Antagonismus zwischen Arbeiterinnen und bürgerlichen Feministinnen. Seit damals gibt es das Bemühen, die soziale Frage mit der »Frauenfrage«, sprich Klassenpolitik mit Identitätspolitik zu verbinden. Denn trotz aller Antagonismen und Interessenskonflikte gibt es unzählige Beispiele, die zeigen, dass Identitätspolitiken sowohl in der Theorie als auch in der politischen Praxis keineswegs einer Klassenpolitik entgegengesetzt wurden.
So richteten sich die feministischen Bewegungen zu allen Zeiten auch gegen weibliche Armut und formulierten eine elaborierte Ökonomiekritik, mit der sie u. a. die Anerkennung von Reproduktionsarbeit sowie eine radikale Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit forderten. Die feministische Marxistin Silvia Federici kritisierte 2017 in einem Interview der Zeitung ak – analyse & kritik, wie altbacken die Vorstellung dieses Gegensatzes (Identitätspolitik vs. Klassenkampf) ist: »Die Idee, dass es auf der einen Seite Kultur gibt und auf der anderen die reale Sache, ist Teil einer sehr paläomarxistischen, steinzeitlichen Konzeption von Ausbeutung und Akkumulation. Im Grunde sieht diese Konzeption Akkumulation immer noch vor allem in der Fabrik und alles andere ist ›kulturell‹.«
Auch der Wunsch nach Bündnissen angesichts einer zerstrittenen und zersplitterten Linken ist verständlich – und weit verbreitet. Das Unbehagen an der unterschiedslosen Vervielfältigung von Diskriminierungskategorien treibt viele linke Kritiker/innen von Identitätspolitik um. Doch Aufrufe zur Einheit und zum strategischen Zurückstellen von Differenzen sind verfehlt, denn es gibt diese Differenzen und sie sind gewaltig. Die Lösung für eine linke Identitätspolitik muss deshalb darin bestehen, diese Unterschiede weder zu negieren noch sie notwendigerweise als trennend und sprengend zu bewerten. Wie jede Identitätspolitik muss auch sie anerkennen, dass die eigene Homogenität lediglich eine Hilfsfiktion ist und sie muss Differenz als konstituierendes und sogar konstruktives Merkmal bejahen.
Dieses Eingeständnis birgt eine große Chance: Denn unterm Strich bildet die identitätspolitische Kritik von Minderheiten gerade die Stärke und eben nicht die Schwäche linker Bewegungen. Linke Identitätspolitik will Marginalisierungen überwinden, um so gemeinsam für größere Gerechtigkeit für immer mehr Menschen einzutreten. Und angesichts des aktuellen Bashings ist es ungeheuer wichtig, sich dieses historische Verdienst vor Augen zu führen. Nicht Spaltung ist also das Ziel linker Identitätspolitik, sondern vielmehr das, was vermeintlich verhindert wird: Solidarität.
HINWEIS:
Wie viele Identitäten sind wir, verleugnen wir, streben wir an? Im März 2021 beleuchten AutorInnen der NG/FH und sagwas.net gesellschaftliche und politische Dimensionen dieser Frage – zum Nachlesen und Nachdenken.
Lesen Sie auf sagwas.net das Interview mit der Autorin Brigitte Theißl darüber, wie Medien sexistische und klassistische Stereotype reproduzieren:
https://sagwas.net/sexismus-und-klassismus-welche-verantwortung-haben-medien/
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