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Ilse Aichinger und Helga Michie zum 100. Geburtstag Ein Schatten gegen die Sterne hin

Der gemeinsame Geburtstag am 1. November war für Ilse Aichinger (1921–2016) in Wien und ihre Zwillingsschwester Helga Michie (1921–2018) in London stets ein Anlass, sich in Wort und Bild eines tief empfundenen gegenseitigen Wunsches nach Nähe zu versichern. Den Anlass hierfür bildete die gewaltsame Trennung der beiden noch Minderjährigen, als die 17-jährige Helga am 4. Juli 1939 mit einem Kindertransport der Quäker in letzter Minute Wien verlassen konnte, um ins Londoner Exil zu fliehen. Schwester, Mutter, Großmutter, Tante und Onkel sollten nachkommen, doch dieser Plan ging nicht auf. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs trat dazwischen und machte die Hoffnung auf Auswanderung aller durch die NS-Rassegesetze verfolgten Familienmitglieder zunichte. So mussten Ilse und ihre Mutter Berta Aichinger im Mai 1942 hilflos die Deportation der geliebten Großmutter Gisela Kremer und der beiden jüngeren Geschwister der Mutter miterleben. Sie wurden nach ihrer Ankunft im Vernichtungslager Maly Trostinez bei Minsk ermordet. Sie verschwanden spurlos oder, wie Ilse Aichinger es wenige Jahre später in Bezug auf eine Romanfigur formulieren sollte, »wie eine glänzende Münze in einem rostigen Kanalgitter«.

Vor dem Hintergrund dieser existenziellen Erfahrungen der Trennung und des Verlustes im Holocaust wuchs innerhalb von rund sechs Jahrzehnten Ilse Aichingers literarisches Werk, das eine herausragende Stellung innerhalb der deutschsprachigen Literatur beanspruchen darf. Vorträge, Lesungen und Symposien in Mainz, Rom und Wien, zahlreiche Veröffentlichungen namhafter Wissenschaftler*innen und Verlagshäuser, Ausstellungen im Literarischen Colloquium Berlin und im Linzer Stifterhaus erinnern anlässlich ihres 100. Geburtstags an ihr Werk und Leben sowie an Leben und Werk ihrer Zwillingsschwester, der Künstlerin und Schriftstellerin Helga Michie.

Eine frühe Publikation Ilse Aichingers führt zurück zu den Anfängen dieser Zeitschrift Neue Gesellschaft|Frankfurter Hefte: 1954 erschien in den für ihren qualitätsvollen Literaturteil bekannten Frankfurter Heften der Essay Die Sicht der Entfremdung. Mit Blick auf den Inhalt lässt der Titel aufhorchen, wird doch der große kulturkritische Begriff »Entfremdung« in Ilse Aichingers Besprechung bewusst gegen den Strich gelesen. Auf der Folie einer genauen Lektüre der Reiseberichte und Erzählungen Ernst Schnabels (1913–1986), mit besonderem Feingefühl für existenzielle sprachliche Konstellationen, formuliert die damals 33-Jährige ihr eigenes poetologisches Verständnis. Die Schilderung der ausweglosen Lage eines über Bord gegangenen Schiffsingenieurs in einem Text Schnabels deutet sie als Voraussetzung für dessen nicht nur äußerliche Errettung: »Nun erst, in der Todesnot, 5.000 Meter Wasser unter sich und ohne die Hoffnung gerettet zu werden, sieht er, dem sich bisher ›die Zeit auf dem Zifferblatt der Schiffsuhr und die Welt innerhalb der Reling ereignet hatte‹, sein Schiff als einen ›Schatten gegen die Sterne hin‹.« Jenes Paradox, sich selbst als Schatten gegen die Sterne zu verstehen, wird nicht nur für den Ingenieur zur Voraussetzung, den eng gesteckten persönlichen Horizont von Zeit und Raum – Schiffsuhr und Reling – zu überschreiten. Ilse Aichinger erweitert diese Erkenntnis zur Gesellschaftsdiagnose: »Das ist sehr deutlich unsere Situation, auch wenn es gerade nicht der Indische Ozean ist, in den wir gefallen sind und aus dem wir durch ein Wunder wieder gerettet wurden. Und da ist wiederum die Sicht der Entfremdung, die neue Sicht, für die kein Preis zu hoch ist. Fast alle von uns haben diesen Preis in den vergangenen Jahren bezahlt, aber nur die wenigsten haben begriffen, wofür, haben sich selbst als Schatten gegen die Sterne begriffen, als etwas ungeheuer Fremdes, das Nächste als das Fernste und die Heimat als die Fremde, die sie zugleich ist.«

Kein Preis zu hoch: Ilse Aichinger hat das Erleben äußerster Lebensgefahr als Voraussetzung ihres Schreibens gedeutet. Aus diesen in der finstersten Nacht der deutschen Geschichte, der Ermordung der europäischen Juden, gewonnenen Erfahrungen leitet sie 1951 ab: »Vielleicht könnte man es für überheblich halten, ohne die Erfahrungen des Tages von Hoffnungen zu reden und von einer größeren Hoffnung, aber die Vögel beginnen ja auch zu singen, wenn es noch finster ist«. Was bei flüchtigem Hinsehen wie ein versöhnliches Sprachbild erscheinen könnte, ist, wie oben angedeutet, von einem Erleben grundiert, in dem Entfremdung eine völlig neue Qualität erhalten hat: »Aber wenn das Spiegelbild auch irreführend ist, so haben wir doch kein anderes und müssen uns darin durchschauen und müssen den Spiegel zum Fenster machen.«

Es ist kein Zufall, dass diese Reflexion im Ulmer Monatsspiegel erschien: Seine damalige Herausgeberin Inge Aicher-Scholl (1917–1998) war die ältere Schwester von Hans und Sophie Scholl. Den beiden hingerichteten Widerstandskämpfern wusste sich Ilse Aichinger verbunden, seit sie mitten im Krieg von der Weißen Rose erfahren hatte. Allein die Existenz so mutigen Widerstands innerhalb ihrer Generation – Sophie Scholl und Ilse Aichinger gehörten zum selben Jahrgang – wertete sie als ein mächtiges Signal der Hoffnung. Überhaupt ist Mut ein Kennzeichen des Schreibens Ilse Aichingers und ihrer politischen Haltung, die nicht zuletzt in Dankesreden anlässlich angenommener Auszeichnungen, bisweilen auch im Ablehnen von Preisen zum Ausdruck kam. Schon ihre ersten Veröffentlichungen – am 1. September 1945 Das vierte Tor im Wiener Kurier und der Roman Die größere Hoffnung 1948 im Exilverlag Bermann-Fischer – gehören zu den frühesten Werken überhaupt, die die Verfolgung und Deportationen in Wien literarisch dargestellt haben.

Seit der Publikation ihres Romans ist Ilse Aichinger Autorin des renommierten Literaturverlags S. Fischer, dessen Stiftung viele der Publikationen und Veranstaltungen in diesem Jubiläumsjahr gefördert hat. Im S. Fischer Verlag und bei der Edition Korrespondenzen erscheinen bis heute Ilse Aichingers Texte. Letztere sind gleichsam Orte der Sprach- und Literatur-, der Gesellschafts- und Zeitkritik wie auch Einsprüche und bewusste Enttäuschungen möglicher Erwartungen an Inhalt, Form, Gattung, Diktion. Die Bandbreite der Genres – etwa Prosa, Lyrik, Hörspiel, poetologische Reflexion, Essay und Zeitungskolumne – spiegelt sich wider in einer glänzenden Textauswahl der von Andreas Dittrich herausgegebenen Anthologie Aufruf zum Mißtrauen mit über 100 auf diese Weise zugänglich gewordenen, (neu) zu entdeckenden Texten der Jahre 1946 bis 2005.

Ein Ereignis unter den Neuerscheinungen ist gewiss Thomas Wilds Studie ununterbrochen mit niemandem reden. Die von der Makrostruktur bis hin zur Syntax und Wortwahl beneidenswert kunstvoll komponierte Arbeit zeigt Ilse Aichinger im internationalen Kontext und lenkt mit gutem Grund ihr Augenmerk auf den Sprachen und künstlerische Techniken überschreitenden Dialog zwischen Ilse Aichinger und Helga Michie. Eine Herausforderung der Dichtung Ilse Aichingers, ihre Offenheit, wird in unterschiedlichen Lektüren eingeholt, ohne den Textraum interpretativ zu verengen. Auch das neue, Bedeutungshorizonte eröffnende Gleiten der Paradoxe, das für Ilse Aichingers Schreiben so charakteristisch ist, wird in seinen verschiedenen Facetten sichtbar. Gewinnbringend ist nicht zuletzt die Berücksichtigung des umfangreichen Nachlasses der Autorin im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Ein produktives Einbeziehen früher Stufen der Textgenese und ein exzeptionelles Gespür für Besonderheiten der Materialität und Medialität der überlieferten Bilder und Dokumente lenken die Aufmerksamkeit auf zentrale poetologische Aspekte und stellen unterschiedliche Arten, Ilse Aichinger zu lesen vor, indem sie zugleich die Leserin Ilse Aichinger würdigen.

Ilse Aichinger zu lesen – das vermitteln viele der Neuerscheinungen –, birgt die seltene Chance, neu lesen zu lernen, vom einzelnen Wort und den Konstellationen der Wörter über Sprachgrenzen hinweg überrascht zu werden. Der Wunsch, dies möglichst vielen nahezubringen, verbindet Andreas Dittrichs Aufruf zum Mißtrauen und ununterbrochen mit niemandem reden von Thomas Wild mit Rüdiger Görners Essayband Die versprochene Sprache, dem von Birgit Erdle und Annegret Pelz herausgegebenen Wörterbuch sowie einer Ausstellung, die Ilse Aichingers Poetik im buchstäblichen wie übertragenen Sinn begreifbar macht: Das grüne Märchenbuch aus Linz, kuratiert von Christine Ivanovic, die vom 20. Oktober 2021 bis zum 3. Mai 2022 im Linzer Stifterhaus zu sehen ist.

Fünf Jahre ist es her, seit Ilse Aichinger kurz nach ihrem 95. Geburtstag in Wien gestorben ist. Keine zwei Jahre später starb ihre Schwester Helga Michie, die aus dem Londoner Exil nicht zurückgekehrt war und ein erst allmählich sichtbar werdendes Werk hinterlassen hat. Die Stimmen dieser beiden Zeitzeuginnen, die präzisen Linien ihrer Bilder und Sprachbilder fehlen als Interventionen in unserer Gegenwart. Wie lässt sich umgehen mit der so entstandenen Lücke, die Würdigungen und Publikationen eindrucksvoll reflektieren? Vielleicht gelingt uns dies am ehesten, wenn wir die Distanz als Chance begreifen können, um aus dem Abstand das große Maß unseres Beschenktseins zu erkennen – weit über die Gegenwart dieses 100. Geburtstages hinaus.

Andreas Dittrich (Hg.): Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 320 S., 25 €. – Birgit Erdle/Annegret Pelz (Hg.): Ilse Aichinger Wörterbuch. Wallstein, Göttingen 2021, 368 S., 22 €. – Rüdiger Görner: Die versprochene Sprache. Über Ilse Aichinger, Löcker, Wien 2021, 102 S., 12,80 €. – Christine Ivanovic (Hg.): I Am Beginning to Want What I Am. Helga Michie. Werke / Works 1968–1985. Schlebrügge.Editor, Wien 2018, 328 S., 40,90 €. – Thomas Wild: ununterbrochen mit niemandem reden. Lektüren mit Ilse Aichinger. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 368 S., 28 €.

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