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Ein soziales Europa – linke Utopie oder realistisches Szenario?

Nach einer langen Phase der Stagnation ist die Diskussion rund um das Thema »soziales Europa« wieder in Gang gekommen. Im November 2017 kündigte der damalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Schaffung einer »Säule sozialer Rechte« an; darauf folgten weitere EU-Initiativen, die zu einem sozialeren Europa beitragen sollten, beispielsweise die Work-Life-Balance-Richtlinie oder die Novellierung der Entsenderichtlinie. Der französische Präsident Emmanuel Macron forderte bereits kurz nach seiner Amtseinführung ein »Europa, das schützt« und auch im Zuge der Corona-Krise rückte die soziale Dimension wieder stärker in den Fokus der EU-Entscheidungsträger*innen etwa bei der Frage, wie die Folgen der Rezession aufzufangen seien.

Trotz dieser kleinen Schritte kann von einem »sozialen Europa« noch lange nicht die Rede sein. Die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene wurde – und wird immer noch – primär durch die wirtschaftliche Integration angetrieben. Im Mittelpunkt steht auch heute noch die Vollendung des Binnenmarktes. Die redistributiven Politikbereiche, also Steuer-, Sozial-, Beschäftigungspolitik, werden weiterhin als rein nationalstaatliche Kompetenzbereiche begriffen. Dabei gäbe es einen großen Bedarf, der EU in dieser Frage eine größere Rolle beizumessen. Die sozialen Gräben in Europa sind in den letzten Jahren nicht kleiner, sie sind größer geworden.

Soziale Gräben haben sich vertieft

Trotz der Angliederung an den Binnenmarkt und den Kohäsions- und Strukturfonds, die die Lebensbedingungen in allen EU-Ländern angleichen sollten, sind die Divergenzen zwischen den 27 Mitgliedstaaten weiterhin enorm. Besonders deutlich wird diese Kluft zwischen den »alten« Mitgliedstaaten und den ehemaligen Ostblockstaaten, von denen die meisten der EU im Zuge der Erweiterung 2004 beigetreten sind. Manche Länder wie Litauen oder Rumänien haben durch ihren EU-Beitritt einen großen Anteil an einheimischen Arbeitskräften verloren, insbesondere aufgrund der Lohnunterschiede.

Darüber hinaus leiden immer noch zahlreiche Mitgliedstaaten unter den Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der darauffolgenden Eurokrise. Die harten Sparmaßnahmen, die in Ländern wie Griechenland, Italien oder Portugal umgesetzt worden sind, haben sich negativ auf die nationalen Sozial- und Gesundheitssysteme ausgewirkt. Zwar hat sich die Jugendarbeitslosigkeit seither leicht verringert, doch von einer vollständigen Erholung kann nicht die Rede sein. Die Einsparungen, um die Staatshaushalte zu sanieren und die Länder im Euro zu halten, haben die Wohlfahrtssysteme besonders hart getroffen und die Arbeitsverhältnisse prekärer gemacht.

Schließlich sind die Ungleichheiten auch die Folge von politischen Entscheidungen. Die Schaffung eines großen Niedriglohnsektors sowie von prekären Beschäftigungsmodellen haben die Einkommensungleichheiten in den einzelnen Ländern enorm vergrößert. In Deutschland verdienen 22,5 % der Arbeitnehmer*innen weniger als zwei Drittel des nationalen mittleren Einkommens. In der EU lebt jede/r zehnte Arbeitnehmer*in unterhalb der Armutsgrenze und die Erwerbsarmut ist stetig angestiegen. Auch bei anderen Faktoren, die maßgeblich zur Lebensqualität beitragen, konnte europaweit eine Verschlechterung festgestellt werden: bei der Verfügbarkeit und Qualität der Arbeit, der Chancengleichheit und beim Zugang zur Daseinsvorsorge.

Zwar könnte man behaupten, dass nationale Antworten auf diese Ungleichheiten ausreichen würden. Doch im Zuge der Globalisierung der Wirtschaft können nationale Wohlfahrtsstaaten ihren Bürger*innen keinen angemessenen Schutz mehr gewähren. Stattdessen findet auch innerhalb der EU ein Wettrennen um niedrigere Besteuerungs- und Sozialstandards statt, um die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Landes so gut wie möglich zu erhalten. Um diesem Dilemma zu entkommen, wäre es deshalb von Vorteil, ein sozialeres Europa mit gemeinsamen Standards zu definieren, die für den gesamten Binnenmarkt gelten und so zum Schutz aller EU-Bürger*innen beitragen.

Zahlreiche Hürden

Damit die Idee eines »sozialen Europa« Realität werden kann, gilt es noch zahlreiche Hürden zu überwinden. Zunächst begrenzen die EU-Verträge die Kompetenzen der Union in diesem Bereich. Zwar steht in Artikel 3 des Vertrags über die EU: »Sie bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Genera­tionen und den Schutz der Rechte des Kindes.« Gleichzeitig ist darin aber auch festgelegt, dass die EU nicht in die nationale Lohn- und Rentenpolitik eingreifen darf. Trotz dieser rechtlichen Beschränkungen gäbe es dennoch Möglichkeiten, eine europäische Sozialpolitik voranzutreiben. Die Mitgliedstaaten, die in diesem Bereich weitere Schritte unternehmen möchten, könnten beispielsweise die Säule sozialer Rechte in ein europäisches Sozialprotokoll umwandeln, das rechtskräftige Wirkung hätte. Damit wäre sichergestellt, dass die sozialen und Arbeitnehmerrechte den gleichen Status besitzen wie die vier Freiheiten im Binnenmarkt für Waren, Arbeitskräfte, Dienstleistungen und Kapital. Darüber hinaus könnte die Europäische Kommission stärker darauf pochen, dass die sozialen Kriterien im EU-Koordinierungsprozess für Wirtschafts- und Fiskalpolitik stärker berücksichtigt werden. Damit könnte auch politischer Druck auf jene Staaten ausgeübt werden, welche die Sozialstandards vernachlässigen.

Zweitens fehlen die natürlichen Partner, um Sozial- und Beschäftigungspolitik europäisch zu denken. Bisher wehrten sich die Akteure, die sich für diese Themen auf nationaler Ebene einsetzen, gegen eine Vergemeinschaftung dieser Politikbereiche. Gewerkschaften und Sozialverbände, aber auch politische Kräfte, die sich für eine soziale Agenda einsetzen, sind der EU gegenüber oft sehr kritisch, wenn nicht feindlich eingestellt, da die Kompetenzen der EU vor allem in der Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik liegen und die EU als neoliberaler Akteur wahrgenommen wird. Ganz Unrecht haben sie selbstverständlich nicht: Der Europäische Gerichtshof hat mit den Urteilen zu Viking und Laval im Jahr 2007 die EU-Prinzipien der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit dem Streikrecht vorgezogen. Im Viking-Fall ging es um die Umflaggung eines Fährschiffes von Finnland auf Estland, die auf weniger günstige Arbeitsbedingungen abzielte, im Laval-Fall um lettische Löhne und Arbeitsbedingungen für lettische Arbeitnehmer eines lettischen Unternehmens auf einer schwedischen Baustelle. Die Liberalisierungspolitik der EU hat dazu geführt, dass Akteure, die sich für soziale Standards einsetzen, einer europäischen Harmonisierung kritisch gegenüberstehen. Darüber hinaus fürchten sie, dass nationale Entscheidungsträger*innen die Harmonisierung der Standards auf EU-Ebene dazu nutzen könnten, um ihre eigenen nationalen Standards herabzusetzen.

Drittens sind viele EU-Mitgliedsländer aus unterschiedlichen Gründen gegen eine Harmonisierung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene. Einerseits fürchten die Staaten mit niedrigen Sozialstandards, dass eine Harmonisierung zu einer teuren Angelegenheit werden und ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen könnte. Andererseits sind es Mitgliedstaaten mit korporatistischen Verhandlungsmodellen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden nicht gewohnt, dass sich der Staat in Tarifverhandlungen einmischt. Sie fürchten, dass sich ein europäischer Mindestlohnrahmen schlecht mit den nationalen Strukturen vereinbaren lässt.

Schließlich gibt es eine letzte Hürde, die einer gemeinsamen Sozialpolitik im Weg steht: die fehlende demokratische Legitimität der EU. Grundsätzliche Voraussetzung weiterer Integrationsschritte – insbesondere in redistributiven Politikbereichen – müsste eine Vertiefung der demokratischen Strukturen der EU sein, um die politische Solidarität auf eine breite gesellschaftliche Basis zu stellen. Dies könnte beispielsweise durch verstärkt europäisch ausgerichtete Parteien und eine gemeinsame politische Bildung geschehen. Darüber hinaus sollten Konditionalitätsklauseln für Rechtsstaatlichkeit eingeführt werden, um sicherzustellen, dass die gemeinsame Wertebasis gewahrt bleibt.

Alle diese Hürden führen dazu, dass sowohl die rechtlichen als auch die politischen Rahmenbedingungen für ein soziales Europa bislang fehlen. Die EU hat aufgrund ihrer beschränkten Kompetenzen in diesem Bereich – bei gleichzeitigem Fokus auf Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik – wenig vorangebracht. Aber auch die politischen Entscheidungsträger*innen, die im Europäischen Rat sitzen, haben keine Schritte unternommen, um die soziale Dimension der Union zu stärken, und dies, wie gesagt, trotz der wachsenden Ungleichheiten in Europa.

Neuer sozialer Impuls durch Corona?

Könnten diese Rahmenbedingungen sich mit der Corona-Krise ändern? Fest steht, dass den Rufen nach mehr europäischer Solidarität Taten gefolgt sind: Die EU hat mit dem SURE-Programm ein europäisches Kurzarbeitergeld eingeführt. Darüber hinaus wurde mit dem »Next Generation EU«-Wiederaufbauplan in Höhe von 750 Milliarden Euro ein wichtiger Schritt unternommen, sowohl um den wirtschaftlichen Wiederaufbau zu gewährleisten, als auch um den sozialen Folgen der Wirtschaftskrise entgegenzuwirken. Dieses Programm würde darüber hinaus der Europäischen Kommission erlauben, erstmals eigene Schulden aufzunehmen und ihr eine größere finanzielle Autonomie gegenüber den Staaten ermöglichen. Dies ist insofern von Bedeutung, als die Kommission damit eigene Steuern erheben könnte – eine Digitalsteuer oder Finanztransaktionssteuer zum Beispiel. Die neuen Einnahmequellen wären ein richtiger und wichtiger Schritt für die europäische Integration und könnten dazu genutzt werden, um die sozialpolitischen Kompetenzen der EU auszubauen.

Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte der sozialpolitischen Agenda auf EU-Ebene verstärkte Aufmerksamkeit widmen. Dabei gilt es, die Initiativen, die auch Eingang in das deutsch-französische Papier zur Krisenbewältigung gefunden haben, in die Wege zu leiten, insbesondere die Einführung einer europäischen Arbeitslosenrückversicherung, die Schaffung neuer Rahmenbedingungen für Beschäftigte auf digitalen Beschäftigungsplattformen sowie die Stärkung des Europäischen Sozial-Strukturfonds. Die deutsche Ratspräsidentschaft sollte auch die Pläne der neuen Kommission unterstützen, um die Säule sozialer Rechte umzusetzen und einen Rahmen für einen europäischen Mindestlohn zu ermöglichen. Vor allem aber geht es darum, das Momentum der Krise zu nutzen, um den wirtschaftlichen Wiederaufbau nachhaltig zu gestalten, das heißt sowohl die soziale, ökologische und digitale Komponente mitzudenken, und die Kompetenzen der EU in diesen Bereichen zu stärken.

Langfristig wird eine sozialpolitische Agenda auf EU-Ebene allerdings nur dann erfolgreich sein können, wenn das Thema von genügend vielen politischen Akteuren getragen wird und starken gesellschaftlichen Rückhalt hat. Dafür stehen die Chancen eher schlecht: Sozialdemokratische und sozialistische Parteien in Europa befinden sich seit Jahren im Abwärtstrend. Einige dieser Parteien vertreten selbst bereits keine starke sozialpolitische Agenda mehr, andere haben sich entschlossen, einen linksnationalen Kurs zu fahren, der die EU als reines Liberalisierungsprojekt wahrnimmt, sodass sie selbst nichts mehr unternehmen, was diese Tendenz umkehren würde.

Darüber hinaus zeigt die Öffentlichkeit derzeit kein großes Interesse für sozioökonomische Fragen. Statt wirtschaftlicher Gerechtigkeit stehen Inklusion, Identitätspolitik und Minderheitenschutz weiter oben auf der Tagesordnung. Gerechtigkeit wird zunehmend als ethnisch, geschlechtlich oder religiöse Anerkennung verstanden. Der Triumph des Liberalismus als Ideologie hat damit auch jenen Parteien und Akteuren geschadet, die sich für eine gerechte Gesellschaft im ökonomischen Sinne einsetzen. Stattdessen gewinnen rechtsnationalistische Parteien an Fahrt, die entweder eine neoliberale Agenda verfolgen, oder aber Sozialpolitik ausschließlich in einen nationalen Kontext setzen, meistens auch auf Basis von ethnisch-nationalistischen Kriterien.

Diese gesamtgesellschaftlichen und politischen Tendenzen spiegeln sich auf der europäischen Ebene wider. Solange die Staats- und Regierungschefs, die im Europäischen Rat die Entscheidungen fällen, Sozialpolitik nicht als Priorität verstehen, wird es kein soziales Europa geben. Man kann vielleicht aber hoffen, dass mit den verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie das Thema wieder an Bedeutung gewinnt. Es wird allerdings auch hier alles davon abhängen, ob man auf alte Muster der Krisenbewältigung zurückgreift oder endlich wieder eine fortschrittliche Sozialpolitik voranbringt.

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