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Das neue Deutschlandbild in Frankreich Ein Tandem wankt

In Frankreich hatte wohl niemand mit der Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz gerechnet, die er am 27. Februar 2022 im Bundestag gehalten hat, weder in der Öffentlichkeit noch in der Politik oder in den Medien. Zunächst ergaben sich schon bei der Wortwahl Schwierigkeiten: Wie sollte der Begriff »Zeitenwende« ins Französische übersetzt werden? Je intensiver dann diese Rede analysiert wurde, desto mehr drängte sich die Frage auf: Haben wir es nun mit einem neuen Deutschland zu tun, das bereit ist, infolge des Ukrainekriegs aufzurüsten, und zwar mit einem »Sondervermögen« in Höhe von 100 Milliarden Euro, einem Umfang, den man von Deutschland bisher nicht kannte?

In Frankreich wurde schnell registriert, dass es Deutschland ernst meint, zumal Olaf Scholz am 16. September 2022 vor Vertretern der Bundeswehr forderte, dass Deutschland als größte Wirtschaftskraft Europas auch über die bestausgerüstete konventionelle Armee des Kontinents verfügen sollte. Plötzlich verwandelte sich die anfängliche Zustimmung für die riesige Anstrengung Deutschlands in eine Frage: Wird damit Frankreich überholt und Deutschland tatsächlich in einigen Jahren über die mächtigste Armee Europas verfügen?

Das bedeutet, dass in Frankreich ein neues Deutschlandbild entstanden ist, das das traditionelle Gleichgewicht zwischen beiden Ländern infrage stellt, zumal die deutsche Wirtschaft zur selben Zeit ihre Schwäche durch die Abhängigkeit von Russland (und China) offenbarte: Frankreich als militärische Macht und Deutschland als wirtschaftliche und Friedensmacht. Plötzlich schien dieses Schema nicht mehr zu gelten. Natürlich hat es seit der deutschen Wiedervereinigung geopolitische und diplomatische Verschiebungen gegeben und die Forderungen an Deutschland wurden immer lauter, sich an militärischen Einsätzen zu beteiligen (was seit dem Kosovokrieg von 1999 auch immer öfter geschah, vor Kurzem noch in Afghanistan und aktuell noch in Mali), aber grundsätzlich blieb die französische Wahrnehmung dieselbe.

Mit dem Ukraine-Krieg und der »Zeitenwende« erscheinen diese Wahrnehmung und das traditionelle geopolitische Erklärungsmuster mit einem Deutschland als Friedensmacht, das nur unwillig und auf ausdrücklichen Druck und nach schwierigen Bundestagsdebatten intervenierte, völlig überholt. Die alte Rollenverteilung zwischen Deutschland und Frankreich ist plötzlich nicht mehr gültig. In diesem Zusammenhang entsteht ein neues Deutschlandbild, das sowohl hinsichtlich der militärischen als auch der wirtschaftlichen Dimension in Frankreich teilweise für Verunsicherung sorgt. Die Tatsache, dass selbst Präsident Emmanuel Macron seine Angst vor einem »deutschen Alleingang« oder vor »der Isolierung Deutschlands« zum Ausdruck gebracht hat, ist ein guter Beleg dafür.

Die Ankündigung einer Aufrüstung Deutschlands wurde in Frankreich zunächst positiv aufgenommen, da die französische Diplomatie schon lange die These vertritt, dass Deutschland die militärische Dimension der Außenpolitik ziemlich vernachlässigt hat. Deutschland war zwar ein ernster Konkurrent in Rüstungsfragen (es kam regelmäßig hinter Frankreich auf Platz vier, wenn es um den Kauf konventioneller Waffen ging), aber es hatte selbst eine schlecht ausgerüstete Bundeswehr und gab zu wenig für Verteidigung aus, noch im Jahr 2021 lediglich 1,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (gegenüber 2,1 Prozent in Frankreich).

Missverständnis über die »europäische Souveränität«

Was der deutsche Journalist und Experte Christoph von Marschall 2018 in seinem Buch Wir verstehen die Welt nicht mehr nach vielen Gesprächen bei Verbündeten Deutschlands, unter anderem Frankreich, herausfand, galt vor allem für Paris: Es besteht die Erwartung, dass Deutschland »die militärische Frage ernst nimmt« und in diesem Bereich mehr Verantwortung übernimmt. Daher waren in Pariser Regierungskreisen Erleichterung und Zufriedenheit deutlich spürbar, als der Kurswechsel in der deutschen Außenpolitik angekündigt wurde, zumal davon ausgegangen wurde, dass damit die europäische Verteidigung insgesamt gestärkt würde und man so der von Frankreich und vom französischen Präsidenten persönlich unterstützten »europäischen Souveränität« einen Schritt näher kommen könnte.

Darin lag bestimmt ein Teil des Missverständnisses, das danach zu Irritationen zwischen Paris und Berlin geführt hat, denn es bleibt bis heute unklar, ob beide Länder von der »europäischen Souveränität« dieselbe Vorstellung haben. Für Deutschland könnte sie (sollte sie?) die Vereinigten Staaten und die NATO einbeziehen, für Frankreich eher nicht.

Plötzlich spürte man Verunsicherung und alte Ängste kamen wieder auf. Ein Beispiel dafür ist die Morgensendung vom 22. September 2022 beim Radiosender Europe 1 unter dem Titel »Wird Deutschland die erste Armee Europas stellen?«, in der behauptet wurde, dass die neue Aufrüstung Deutschlands »das ganze Gleichgewicht des deutsch-französischen Tandems ins Wanken bringen würde«. Es wurde zudem angedeutet, dass »mehrere Quellen aus dem französischen Militär darüber besorgt sind, dass eine starke deutsche Armee wieder auf die europäische Bühne zurückkehren würde«, und damit, so ein geläufiger Witz beim Militär, »hätte man im letzten Jahrhundert keine gute Erfahrung gemacht«.

Diese Sichtweise wird zwar nicht mehrheitlich geteilt, aber es gibt sie. Mit dieser neuen militärischen Überlegenheit Deutschlands würde sich Frankreich »abgehängt« fühlen, was nach wie vor ein Topos der deutsch-französischen Beziehung ist, sowohl im militärischen als auch im wirtschaftlichen Bereich. Damit entsteht das doppelte Bild eines starken aber auch dominanten Deutschlands, dessen Alleingänge man zu befürchten habe, und das weniger europäisch handeln könnte, zumal der Kurswechsel in der Außenpolitik nicht zu »mehr Europa« führt, wie das Projekt eines Luftabwehrsystems mit amerikanischer und israelischer Technologie, ohne die Beteiligung Frankreichs, oder das Nicht-Vorankommen deutsch-französischer Rüstungsprojekte zeigen.

In der Verteidigungspolitik, einem Kernaspekt des deutsch-französischen Vertrags von Aachen aus dem Jahre 2019, kommen mit dem deutsch-französisch-spanischen Kampfjetprojekt FCAS und dem deutsch-französischen Panzerprojekt MGCS die Verhandlungen über zwei Großvorhaben nur in Trippelschritten voran. Die Hoffnung der Beteiligten in Industrie und Politik, dass der Ukrainekrieg die Gespräche rasch zum Ziel führen könnte, hat sich nicht erfüllt. Auch wenn alle Partner einen Teil der Schuld tragen, sind Enttäuschung und Ernüchterung auf französischer Seite festzustellen, zumal immer wieder beobachtet wird, dass Berlin nach Washington blickt, wie der Kauf amerikanische F-35-Kampfjets zeigt.

Wirtschaftssystem mit Abhängigkeiten und Schwächen

Diese Verunsicherung findet man auch in der Wirtschaft. Man kennt die Grunddaten der deutschen Wirtschaft: das Gewicht des Außenhandels, der heute 67 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmacht, die Bedeutung der Industrie, die 90 Prozent aller Exporte stellt und 23 Prozent des BIPs ausmacht (gegenüber 12 Prozent in Frankreich), die Stärke der Forschung und der Innovation.

Deutschland ist wirtschaftlich mehr als jedes andere europäische Land ein globaler Akteur mit großen Abhängigkeiten, auch wenn man die von Russland im Hinblick auf Energielieferungen einmal beiseite lässt. Man denke zum Beispiel nur an die Verflechtung mit der Wirtschaft Chinas. Das macht auch Deutschland verwundbar.

Die Stärken eines Wirtschaftssystems können auch zu Schwächen werden. Deutschland, das man früher als wirtschaftlichen Motor Europas, als »treibende Kraft« erlebt hat, stößt auf Schwierigkeiten. Natürlich macht man sich in Frankreich Sorgen, weil Deutschland die erste Wirtschaftsmacht Europas und der erste Handelspartner Frankreichs ist. Dazu kommt, dass Deutschland lange Zeit für viele als Modell galt und unter Wirtschaftsexperten immer wieder die Frage gestellt wurde: Soll man dem deutschen Modell folgen? (so auch der Titel einer Studie von Christophe Blot und Odile Chagny, La Documentation française, 2015), weil man damit den französischen Rückstand erklären und die Notwendigkeit von Strukturreformen begründen wollte.

Das zweite Deutschlandbild, das aktuell in Frankreich vorherrscht, ist das eines Wirtschaftssystems, das viele Risiken birgt, auch für ganz Europa. Die meisten Presseberichte über Schwierigkeiten der deutschen Wirtschaft erzählen sachlich von der Situation, wie Le Monde am 14. September 2022 mit einem Artikel über »Das Ende der fetten Jahre«, in dem behauptet wird, das Deutschland alles tue, um eine Deindustrialisierung und eine Rezession zu verhindern.

Bei anderen Berichten oder Leitartikeln aber fehlt die Sachlichkeit, da ist eher Schadenfreude am Werk. In der Zeitschrift Marianne vom 27. August 2022 steht ein Artikel mit dem teils ironischen, teils aggressiven Titel: »Energie, Industrie: ist das deutsche Modell bald kaputt?«, in dem behauptet wird, dass Deutschland nun wegen seiner doppelten Abhängigkeit, gegenüber Russland und China, den Preis für seine Alleingänge zahlen müsse.

Le Figaro veröffentlicht am 2. August einen Leitartikel mit dem Titel »Energiekrise: Ist das das Ende der deutschen Hegemonie in Europa?«, während Le Monde, eher für Sachlichkeit und gemäßigte Töne bekannt, am 2. November 2022 einen Leitartikel publizierte, in dem die Forderung steht: »Wenn Deutschland sein Modell nicht ändert, wird man es dazu zwingen müssen«, da dieses Modell »durch seine Verblendung vor den neuen geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts und dem autoritären Regime von Wladimir Putin sowie eine orthodoxe restriktive Haushaltspolitik« in Europa die notwendige Anpassung verzögert habe.

In solchen Artikeln wird Deutschland vorgeworfen, versucht zu haben, Europa ein Wirtschaftsmodell aufzuzwängen, das jetzt seine Schwächen zeigt und die Stabilität Europas bedrohen könnte. Man könnte andere Beispiele anführen, die solche antideutschen Töne anschlagen. Es ist das Bild eines Schuldigen, der durch sein Wirtschaftsmodell und den Versuch, es durch einen 200-Milliarden-Plan ohne Abstimmung mit seinen Nachbarn, vor allem Frankreich, zu retten, Europa in eine Sackgasse geführt hat.

Natürlich kann ein solches Urteil als übertrieben und ungerecht betrachtet und empfunden werden. Man muss aber registrieren, dass es eine solche Stimmungslage tatsächlich gibt. Man sollte nicht darüber hinweggehen. Weggucken hilft nichts. Es gehört zum Verständnis der deutsch-französischen Beziehungen, dass man diesen Stimmungswandel ernst nimmt. Er ist auch sicherlich eine Voraussetzung für die Weiterentwicklung (vielleicht Neuorientierung?) des deutsch-französischen Tandems, das nach wie vor für uns in Europa unerlässlich ist.

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