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© picture alliance/Ulrich Baumgarten

Neuerscheinungen zum Zustand Europas vor den Wahlen Ein uneingelöstes Versprechen

In dem 2002 veröffentlichten Essay mit dem Titel Falls Europa erwacht entwickelt Peter Sloterdijk – in Erwartung der großen Osterweiterung der EU – die Vision eines Europas, das sich nach einer langen Phase »politischer Absence« und konsumistischer Verflachung auf seine eigentliche kulturelle Bestimmung besinnt und entlang einer »neuen Achse Berlin-Brüssel-Paris« als »großeuropäischer Staatenbund auskristallisiert«. Wer angesichts der heutigen Probleme, mit denen sich Europa konfrontiert sieht, den sloterdijkschen Text noch einmal zur Hand nimmt, wird darin trotz des relativierenden »falls« im Titel schwerlich Bezüge zur gegenwärtigen Lage entdecken. Von der Möglichkeit eines großen Auf- und Durchbruchs Europas zu träumen, würden sich heute auch die größten Optimisten wohl kaum gestatten.

Achterbahn lautet denn auch der Titel einer umfassenden Geschichte Europas von 1950 bis heute, die der britische Historiker Ian Kershaw vorgelegt hat. In zwölf faktenreichen Kapiteln wird hier der Weg von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) über die Römischen Verträge und die verschiedenen Erweiterungsrunden bis hin zur krisengeschüttelten Europäischen Union unserer Tage nachgezeichnet. Von einem kontinuierlichen Fortschreiten zu einer »immer engeren Union der Völker Europas«, wie es in der Präambel des Vertrags von Maastricht 1992 formuliert wurde, kann, wie der Autor im Detail belegt, nicht die Rede sein. Die Geschichte der europäischen Einigung, wie sie hier geschildert wird, ist von Anfang an konfliktreich, geprägt von mühsamen Fortschritten, die immer wieder in Gefahr geraten, zurückgenommen zu werden, von Halbheiten und mehr oder weniger faulen Kompromissen, ein Auf und Ab: eine Achterbahn eben.

Dennoch fällt Kershaws Resümee am Ende seines Buches im Ganzen erstaunlich positiv aus. »Europa«, schreibt er, »hat sich in einen Kontinent von Zivilgesellschaften verwandelt, in denen in diametralem Gegensatz zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts das Militär in der Innenpolitik kaum noch eine Rolle spielt, was erheblich zur Festigkeit des demokratischen Fundaments beiträgt. Es hat, trotz aller Schwierigkeiten, Spannungen und Frustrationen, gelernt, Probleme durch Kooperation und Verhandlungen zu lösen, anstatt zu militärischen Mitteln zu greifen. Und es besitzt in seiner Mitte als mächtigstes und einflussreichstes Land ein friedliches und internationalistisches Deutschland, das den größten denkbaren Gegensatz zu dem Deutschland darstellt, das in den 1930er und 1940er Jahren die Menschenrechte mit Füßen trat und die europäische Zivilisation nahezu vernichtete. Europa hat für die Freiheit gekämpft und gewonnen. Es hat einen Wohlstand erlangt, um den ihn der größte Teil der Welt beneidet. Doch sein Streben nach Einigkeit und einem klaren Identitätsgefühl geht weiter.«

Das klingt durchaus hoffnungsfroh, aber man sollte nicht übersehen, dass das Zitat eben auch die Fallhöhe markiert, die Europa in einer auch vom Autor nicht ausgeschlossenen großen Krise zum Verhängnis werden könnte. Für Kershaw sind es vor allem Entwicklungen wie die durch die neoliberal geprägte Globalisierung erzeugte soziale Ungerechtigkeit und der schwindende soziale Zusammenhalt der Gesellschaft, der Klimawandel und die Halbherzigkeit, mit der europäische Politiker darauf reagieren, die Verunsicherung Europas durch Terrorismus und Migration und die Wiederkehr eines bornierten und aggressiven Nationalismus, die ihn letztlich nicht ausschließen lassen, Europa könne in seinem gegenwärtigen fragilen Zustand womöglich noch einmal von den bösen Geistern der Vergangenheit heimgesucht werden.

Kiran Klaus Patels Buch Projekt Europa, das sichdadurch auszeichnet, dass es die Entwicklung des politisch verfassten Europas in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit akribisch nachzeichnet, ohne dabei die großen Entwicklungslinien aus den Augen zu verlieren, kommt am Ende zu einem ähnlichen Fazit wie Kershaw. Das Institutionengefüge der EU, so Patel, »ist (…) anfälliger für eine Fundamentalkrise, falls mehrere gravierende Herausforderungen gleichzeitig auftreten sollten – wenn zum Beispiel Austrittsbewegungen, massive ökonomische Verwerfungen, die Aushöhlung des gemeinsamen Rechts und militärische Spannungen parallel zu bewältigen wären. In einem solchen Szenario kumulativer Krisen dürfte es von vitaler Bedeutung sein, die einzelnen Problemkreise voneinander zu isolieren und getrennt zu bearbeiten. Ansonsten könnte jenes Projekt kollabieren, das im Zentrum dieses Buches stand.« Auch hier also keine Entwarnung. Was den Autor allerdings hoffen lässt, dass sich die EU auch in einer existenzgefährdenden Situation als überlebensfähig erweisen könne, ist die von ihm ausführlich belegte Tatsache, dass sich die Europäer in all den kleinen und größeren Krisen der letzten 50 Jahre immer wieder als zu pragmatischen Lösungen fähig erwiesen haben.

Im Unterschied zu Kershaw und Patel, die die ideologischen Grundlagen des heute zunehmend bedrängten liberal-demokratischen Europas weitgehend unkritisch bejahen oder zumindest nicht ernsthaft infrage stellen, geht es Jan Zielonka, der als Nachfolger Ralf Dahrendorfs am St. Anthony’s College in Oxford Europäische Politik lehrt, darum, das liberale Credo auf seine Tauglichkeit zur Bewältigung der drängenden Probleme zu überprüfen, um so »unseren eigenen beschämenden Anteil« an der gegenwärtigen Krise zu erkennen.

Nach Zielonka, »einem Schlesier, der in Polen aufgewachsen ist, einen niederländischen Pass hat, in Italien seine Steuern zahlt und in Britannien arbeitet« (so die Frankfurter Allgemeine Zeitung), sind es die heute allgemein als »neoliberal« bezeichnete marktradikale Ideologie und ein die Menschen überforderndes Konzept der Globalisierung selbst, die die »Konterrevolution« populistischer Nationalisten hervorgerufen haben. »Um wieder Aufwind zu bekommen«, schreibt er, »müssten Liberale ihre Sicht von Demokratie, Kapitalismus und europäischer Integration überdenken. Abstrakte liberale Prinzipien zu predigen und antiliberale Gegner zu kritisieren, wird nicht reichen.« Vielmehr sollten wir endlich anfangen, »ernsthaft über kommunitaristische Bindungen, soziale Verantwortung und ihr Potenzial zur Sicherung liberaler Freiheiten nachzudenken und zu reden«. Das aber, so der überzeugte Liberale Zielonka, bleibe wirkungslos, solange wir nicht willens und imstande seien, dem Kapitalismus Fesseln anzulegen.

»Wenn der Kapitalfluss über die Grenzen hinweg sich kaum kontrollieren, geschweige denn eindämmen oder besteuern lässt«, schreibt er, »wird die Demokratie machtlos. Wenn Staatsausgaben sich selbst mit so opportunistischen Mitteln wie Inflation und Staatsverschuldung nicht aufbringen lassen, sind die meisten Wahlversprechen per definitionem leere Versprechungen. Wenn die europäischen Märkte mit billigen, in Asien von unterbezahlten, schutzlosen Arbeitern produzierten Gütern geflutet werden, ist es für europäische Regierungen schwierig, einen gesetzlichen Mindestlohn für ihre heimischen Beschäftigten einzuführen. Wenn Unternehmen drohen, ihre Fabriken ins Ausland zu verlagern, sobald sie sich mit Druck von Gewerkschaften oder Steuererhöhungen konfrontiert sehen, bleibt demokratischen Regierungen nur wenig Handlungsspielraum.«

Für die hier geschilderte Entleerung der Demokratie sollte ursprünglich, so haben es jedenfalls die Befürworter der EU stets beteuert, die europäische Integration Abhilfe schaffen. Aber nach Zielonka wurde dieses Versprechen bisher nie wirklich eingelöst. »Durchgängig ist die EU stärker auf Forderungen der Wirtschaftslobbyisten eingegangen als auf gewöhnliche Bürger. Sie hat sich als ›Trojanisches Pferd‹ erwiesen, das die fortwährende Vorherrschaft der Märkte über die Demokratie gestärkt hat.« Solange dies so sei – und man wird kaum bestreiten können, dass es so ist – könne es kaum verwundern, dass immer mehr Menschen den Glauben an die EU und an die Demokratie verlieren und am Ende autoritären und nationalistischen Rattenfängern nachlaufen.

Zielonkas Buch besticht durch die Ehrlichkeit, mit der er, selbst überzeugter Liberaler und überzeugter Europäer, den Gründen für das schnelle Anwachsen antidemokratischer und autoritär-nationalistischer Strömungen in Europa nachspürt. »Grassierende Ungleichheiten haben Freiheit für weite Teile europäischer Gesellschaften zur Farce verkommen lassen. Wir haben aufgehört, die politischen (und moralischen) Folgen der auf immer mehr Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität zielenden Wirtschaftspolitik infrage zu stellen. Der Privatisierungskult hat Staaten und Individuen immun gemacht für die Appelle der Benachteiligten in unseren Gesellschaften. Ohne Korrektur der normativen Agenda sieht die Zukunft des Liberalismus meiner Ansicht nach düster aus.« Ein Liberaler, der die Liberalen dazu drängt, »die neoliberale Politik der Deregulierung und Privatisierung zu beenden, wenn nicht gar umzukehren« – was würde wohl die Lindner-FDP dazu sagen, die jeden steuernden Eingriff in wirtschaftliche Abläufe zum Schutz von Verbrauchern und Beschäftigten als »Verbotspolitik« verflucht?

Weitaus pauschaler als die drei bisher behandelten Autoren kritisiert Hans-Peter Martin die Politik der EU in seinem Buch mit dem marktschreierischen Titel Game over. Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle. Und dann? Wie Zielonka sieht auch er in der gegenwärtigen Wende zum Autoritarismus und Nationalismus eine Reaktion auf eine antisoziale und antiliberale Politik der westlichen Eliten. »Lange bevor sich Bürgerinnen und Bürger in schnell wachsender Zahl neonational gegen die Eliten ihrer Länder stellten, revoltierten die Eliten des Westens gegen die Bürger«, schreibt Martin. Die EU, die – in den 50er Jahren wohl unvermeidlich – als Elitenprojekt gestartet sei, so der Autor, habe nie wirklich die Herzen der Europäer erobert: »Weil die soziale Dimension fehlt, nehmen Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die EU nur als einen rücksichtslosen Binnenmarkt wahr, den vor allem die großen Player dominieren, voran Großkonzerne, vor allem aus Deutschland.« Für Martin steckt die Europäische Union heute in einer Existenzkrise, die sie nach seinem Urteil nicht überleben kann: »Die vielfältigen Krisenherde sind miteinander verzahnt und werden den Systemcrash auslösen.«

Kurioserweise steht diese düstere Prognose aber am Anfang eines letzten Kapitels, das mit »Ideen für das ›New Game‹« überschrieben ist und in einigen knappen Absätzen auflistet, was trotz allem getan werden könnte und müsste, um die zuvor als unabwendbar beschworene Katastrophe doch noch zu verhindern. Unter anderem empfiehlt der Autor wie vor ihm auch schon David Van Reybrouck in seinem Buch Gegen Wahlen, das »Oligopol der Parteien« zu brechen und dem Losverfahren eine Chance zu geben. »Geloste Bürgerräte sollten verbindlich eingeführt werden, zunächst in beratender Funktion, dann eine Aufwertung zum Mitgesetzgeber.« Und nun auf einmal doch noch ein klares Bekenntnis zur EU, allerdings zu einer Union, die von unten, von den Bürgern selbst gestaltet wird. »Ohne eine europäische Einigung«, heißt es nun, »werden die Bewohner des alten Kontinents an den Rand gedrängt. Um global bestehen zu können, muss die EU stark sein (…). Alles kann doch noch gut werden. Politisiert Euch.«

Die Ende Mai anstehenden Europawahlen werden zeigen, ob die Mobilisierung und Politisierung der Bürger, auf die Martin setzt, zu einer Stärkung oder zu einer Schwächung der EU führen. Die meisten politischen Kommentatoren sagen eine erhebliche Stärkung der EU-Gegner im Europäischen Parlament voraus. Das ist in der Tat zu erwarten, wenn es den proeuropäischen Parteien auch dieses Mal wieder nicht gelingen sollte, ihre Wähler in großer Zahl an die Urnen zu bringen. Aber da der Brexit zunächst noch einmal aufgeschoben wurde und darum Großbritannien nun eventuell doch an der Europawahl teilnehmen wird, könnten sich allein schon aufgrund der zu erwartenden Stimmengewinne für die Labour Party und die in letzter Zeit zahlreicher werdenden britischen Brexit-Gegner die Gewichte im Europaparlament durchaus auch in die positive Richtung verschieben. Es sind spannende Zeiten.

Ian Kershaw: Achterbahn. Europa 1950 bis heute. DVA, München 2019, 832 S., 38 €. – Hans-Peter Martin: Game over. Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle. Und dann? Penguin, München 2018, 384 S., 24 €. – Kiran Klaus Patel: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte. C.H.Beck, München 2018, 463 S., 29,95 €. – Jan Zielonka: Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa. Campus, Frankfurt/M. 2019, 206 S., 19,95 €.

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