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© picture alliance / Flashpic | Jens Krick

Neues zur Mediokratie Ein verhextes Problem?

Denn, zur Feder gegriffen haben drei der am meisten beachteten Intellektuellen des Landes mit sehr unterschiedlichem Zugang zum Thema: Jürgen Habermas (Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit) sowie Harald Welzer und Richard David Precht (Die Vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist).

Das sind Namen, bei denen die Leitmedien nicht wie so oft zuvor der Berliner Regel folgen konnten: gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Im Gegenteil, sie sind voller Reaktionen, vor allem auf Welzer/Precht. Habermas konzentriert sich in seinem »erneuten Strukturwandel der Öffentlichkeit« gewohnt anspruchsvoll fast ganz auf die Auswirkungen der leider nur so genannten »sozialen« Medien auf die demokratische Öffentlichkeit.

Welzer und Precht, zumal der letztere, sind fest etablierte Figuren der medialen Öffentlichkeit mit eigenen Zugängen. Man kann sie nicht übergehen, zudem sichert ihr Auftritt immer zusätzliche Aufmerksamkeit. Der Bezug auf ihr Werk und dessen Autoren sowie die journalistischen Reaktionen auf sie sind in den Funk- und Printmedien daher folglich geradezu fast allgegenwärtig – nun aber zumeist in der Rolle als abtrünnige Familienmitglieder im Grundton des »Wie konntet Ihr nur?«. Geredet wird da weniger über ihre Kritik, sondern eher über die Motive ihrer frevlerischen Tat.

Ihr Buch enthält eine gründliche und radikale, im Kern treffende Kritik des herrschenden Mediensystems und seiner hochproblematischen Funktionslogik, die die Öffentlichkeit der Republik in belehrender und selbstgerechter Manier zumeist eher selbst erzeugt als treuhänderisch darstellt. Es ist eine tiefgründige und kenntnisreiche »Studie zur Lage der Medien«. Im Grunde ist es eine Kulturkritik des deutschen Journalismus.

Sie erkennen in dessen fundamentaler Fehlfunktion die Gefahr einer »Unterspülung der Demokratie«. Betroffen ist ja das Nervensystem der Demokratie selbst, denn es war, wie Habermas seit seinem Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) unermüdlich zeigt, gerade die Wechselwirkung zwischen zivilgesellschaftlichen Publikationsmedien und politisch räsonierenden Bürgern, die seit dem 18. Jahrhundert allmählich eine demokratische politische Kultur entstehen ließ und das Verlangen nach einer Verfassung nährte, die ihr entspricht.

Die Autoren beziehen sich als Beleg für die Ablösung des medialen Hauptstroms vom Leben der Gesellschaft auf die eigene Erfahrung der öffentlichen Anprangerung als mediale Reaktion auf ihre Unterschrift unter einem offenen Brief, der Verhandlungen statt Waffen im Ukrainekrieg empfahl. Und sie zitieren die erschreckenden Umfragewerte über das schwindende Vertrauen der Bürger in die Massenmedien, wonach kaum noch die Hälfte der Menschen ihnen Vertrauen schenkt.

Im Gegensatz zu Verschwörungstheorien suchen die Autoren die Ursache für die diagnostizierte demokratiegefährdende Fehlfunktion des Mediensystems nicht in verdeckten Kanälen staatlicher oder anderer Einflussnahme, sondern in der sehr speziellen Kultur der journalistischen Arbeit, die nirgends ausdrücklich eingefordert wird, aber im Falle ihrer Missachtung stets schmerzhaft sanktioniert wird. Wer abweicht, gehört dann eben nicht mehr dazu.

An Beispielen wird demonstriert, dass diese Kultur wirkt, als wenn die journalistische Arbeit in jedem Augenblick von einem Cursor gelenkt würde, der gebieterisch anzeigt, wo der Median der journalistischen Mehrheitsmeinung beziehungsweise Haltung im Moment verläuft. Er entscheidet darüber, ob man die Anerkennung der Gruppe findet oder verliert: »Der zappelige Cursor der gefühlten Mitte gibt ihnen die einzige Richtung vor. Und das Wichtigste überhaupt wird die Frage: Wo muss ich stehen, wie mich positionieren, um diesen Cursor genau zu treffen? (...) Wie sorge ich dafür, dass ich zur politjournalistischen In-group gehöre und nicht unversehens Out-group bin – die Höchststrafe für Journalisten in der Mediokratie?«.

Die vielen sozialen Gründe für diesen auffälligen Gruppenkonformismus sind in der Literatur seit Längerem behandelt worden. Die Autoren laden zu einem spannenden Exkurs in die Welt der wissenschaftlichen Gruppenforschung ein. Diese hat die oft verblüffend wirkenden Mechanismen der schnellen und gründlichen Anpassung zufällig ausgewählter Menschen an die Meinung der jeweils eigenen Gruppe vielfältig experimentell belegt.

Im Falle der Journalisten, den Wächtern und Dirigenten der Öffentlichkeit betreffen ihre Auswirkungen das ganze Gemeinwesen und seine demokratische Qualität. Sie erzeugen die schon oft diskutierten spezifischen Lücken und Verzerrungen des medial erzeugten Bildes von der Welt in der medialen Öffentlichkeit: unter anderem Personalisierung (»Gala-Journalismus«) und Polarisierung (»Verzweiseitigung«), die anhaltende Neigung zur Mitwirkung an Erregungswellen und zu einem rechthaberisch-belehrenden statt aufklärend respektierenden Verhältnis zu ihrem Publikum.

Auf der dauererregten Suche nach Reichweite

Das zeige sich wieder jetzt, wo sie jedes Zögern bei der Lieferung immer neuer Waffen an die Ukraine als Verrat brandmarken. Eine redliche Darstellung der in Wahrheit vielfältigen gesellschaftlichen Stimmungen und Debatten dieses Themas findet in ihnen keinen Platz. Diese Schieflage bekommt durch die logarithmusgetriebene Logik der »Direktmedien« einen neuen Stoß, Sie verschlimmern den Gesamtbefund, weil sie mit ihren schrillen Freund-Feind-Methoden der Dauererregung die amtierenden Medien bei deren Suche nach Reichweite anstecken.

Schon wahr, vieles davon ist der bisherigen Medienkritik nicht unbekannt, aber leider bislang ohne erkennbare Wirkung geblieben. Interessant ist daher bei einem solchen Buch auch die Art, wie die angesprochenen Journalisten darauf reagieren. Auch diesmal münden die kleinen Unterschiede freilich wieder in demselben Tenor. Sie gleichen einem Slalomlauf, der die Hindernisse mit einem geschickten Schwenk neutralisiert – dies oder jenes sei nicht ganz falsch – aber die Sache stimme eben im Ganzen nicht. Das Buch habe nicht nur viele Fehler – es sei als solches der Fehler.

Es wird der Eindruck erweckt, das Unterfangen eines solchen Buches habe etwas Illegitimes, Anrüchiges. Die Gründe dafür seien nicht in einzelnen Inhalten zu finden, sondern in den »eigentlichen« Motiven der Autoren, es zu machen. Die Adressaten der Kritik bleiben »unbelangbar«. Sie fassen fast alle das Buch mit spitzen Fingern an und sorgen dafür, dass es von nun an von ihnen gemeinsam »das umstrittene Buch« genannt werden darf.

Wir haben es mit einem »wicked« Problem, einem vertrackten Problem ohne erkennbare Lösung zu tun. Denn schon der offizielle »Bericht zur Lage des Fernsehens für den Präsidenten der Bundesrepublik« von einer hochkarätigen Expertenkommission war 1994 zu einem im Kern ganz ähnlichen Urteil gelangt – ohne Folgen. Kein Wunder, denn das Schicksal einer jeden Kritik am Journalismus liegt am Ende immer in der Hand der Journalisten. Sie bleiben unbelangbar.

Es wäre verheerend, wenn Ähnliches auch für den von Habermas aufs Korn genommenen »neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit« gelten würde. Seiner Diagnose zufolge zerreibt die historisch neuartige Erscheinung einer fragwürdigen »Halböffentlichkeit« von aktiven Nutzern der »sozialen« Medien die Voraussetzungen für deliberative, also im eigentlichen Sinn demokratische Politik.

Der Hauptbefund seines Klassikers von 1962 bestand ja in der Bobachtung, dass die diskursive mediale Öffentlichkeit ihre politische Einflussrichtung, aus der Gesellschaft heraus »nach oben« zur Kontrolle des Staates, aufgrund der realen Entwicklung zunehmender wirtschaftlicher und politischer Vermachtung verloren hatte. Sie fungierte nunmehr im Sinne einer nur noch »repräsentativen Öffentlichkeit« als Sicherung von Herrschaft und Einflussnahme auf die Gesellschaft von »oben nach unten«.

Diese These hatte der Autor durch die Erfahrung mit den Neuen Sozialen Bewegungen seit den 70er Jahren im Vorwort zu späteren Neuauflagen bereits korrigiert. Man könne nun in der neuen zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit ein durchaus wirkungsvolles Korrektiv, eine Art Strukturwandel der im Hauptwerk beschriebenen »Verkehrung« der Wirkungsrichtung der medialen Öffentlichkeit sehen. Die Bürgerinitiativen nötigen nämlich einerseits den etablierten Medien ihre alternativen Themen und Betrachtungsperspektiven auf und bieten andererseits eigene dezentrale Foren für eine basisdemokratische öffentliche Selbstverständigung. Diese Einschätzung übertrug sich anfänglich auch auf hoffnungsvolle Erwartungen an das demokratische Potenzial der neuen sozialen Medien.

Nach zwei Jahrzehnten praktischer Erfahrung mit ihnen zieht Habermas nun eine neue Bilanz. Er sieht in der »Plattformisierung der Öffentlichkeit« (Otfried Jarren) einen »revolutionären Schub« in den technischen Voraussetzungen der öffentlichen Massenkommunikation mit wiederum weitreichenden Folgen für einen neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Denn nun kann erstmals in der Geschichte das gesamte Publikum zu einer Gesellschaft von »Autoren« mit unvermitteltem Zugang zur Öffentlichkeit werden.

Nach der »Verschriftlichung des gesprochenen Worts« und der »Einführung der mechanischen Druckpresse« sei die »elektronische Digitalisierung« die »dritte Umwälzung der Kommunikationstechnologien« in der Menschheitsgeschichte. Sie führe zu einer »Entgrenzung in Raum und Zeit und eröffnet für viele Lebensbereiche unzweideutige Fortschritte. Für die demokratische Öffentlichkeit entwickelt die zentrifugale Entgrenzung der beschleunigten und auf beliebig viele Teilnehmer in beliebiger Entfernung ausgeweitete Kommunikation »eine ambivalente Sprengkraft«.

Kennzeichnend für die Art wie die Benutzer davon Gebrauch machen, seien »einstweilen« zwei Eigenarten: Es fehle die »Gatekeeper«-Funktion des Journalismus mit seiner »professionellen Auswahl und diskursiven Prüfung der Inhalte anhand allgemein anerkannter kognitiver Maßstäbe«, und es fehle die klare Trennung von öffentlichem Raum beziehungsweise öffentlicher Sprecherrolle und Privatsphäre (»anonyme Intimität«), denn »auch die Autorenrolle will gelernt sein«.

An die Stelle der großen, inklusiven Öffentlichkeit, von der die Demokratie lebt, entstehe so »einstweilen« eine in sich zerklüftete »Halböffentlichkeit« des entfesselten Narzissmus, der Verantwortungslosigkeit und der wechselseitigen Exklusion. »Das große emanzipatorische Versprechen wird heute von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt«. Deliberation findet in diesen medialen Blasen nicht mehr statt. Die demokratische »Deliberation« ist blockiert.

Habermas deutet mit dem tröstenden »einstweilen« an, dass es dabei nicht bleiben muss. Er deutet an, wo zur Besserung der Lage der Öffentlichkeit angesetzt werden müsste. Zunächst bei der Überwindung der Allmacht der »libertären« Weltplaner, der Digitalkonzerne des Silicon Valley zugunsten einer durchgreifenden Verantwortlichkeit der Betreiber von Plattformen für die Einhaltung demokratisch gezogener Grenzen.

Die gegenwärtigen Exzesse und ihre Qualifizierung als Halböffentlichkeit resultieren ja aus der »anonymen Intimität« der privaten Teilnehmer, die sich nicht zu erkennen geben und sich daher auch nicht verantworten müssen. Eine durchgängige Verpflichtung zum Klarnamen in den sozialen Medien könnte daher eine gewisse Abhilfe schaffen. Die Hoffnung des Autors, irgendein Ersatz für die verlorene Zugangskontrolle durch professionellen Journalismus könnte Abhilfe schaffen, kann aber kaum geteilt werden. Dagegen spricht die von Welzer und Precht soeben erneut analysierte hochgradige Selbstbezüglichkeit und politisch-moralische Selektivität großer Teile des »amtierenden« Journalismus, die ja ihrerseits ein demokratisches Problem und Gründe für die Hinwendung vieler zu den sozialen Medien darstellen.

Zudem ist die Einführung einer Zugangskontrolle im Netz durch Journalisten technisch kaum vorstellbar und sowohl politisch wie gesellschaftlich vermutlich nicht durchsetzbar. Was als Möglichkeit dann bleibt, wäre die Rückholung der Cyberwelt in die Welt der demokratischen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Das würde das »vertrackte« Problem der Kontrolle der Kontrolleure wohl auch nicht ganz lösen, aber vermutlich spürbar entschärfen.

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