Im August 1928 organisierte der Volkswirtschaftler Jurí Larin in Moskau eine Bildungsveranstaltung zum Antisemitismus für Arbeiter, deren Ergebnis man nur als niederschmetternd bezeichnen kann. »Wie kommt es, dass Juden immer gute Positionen bekommen? Werden die Juden in einem Krieg nicht zu Verrätern?« lauteten Fragen von Teilnehmern. Auffällig daran ist, dass hier offenbar tief verwurzelte Klischeevorstellungen in Frageform vorgebracht wurden, so als lauerten die Fragesteller auf deren Bestätigung. Man kann hier wohl von einem latenten Antisemitismus sprechen, von einem passiven Scheinwissen, das jederzeit aktiviert werden kann und sich im Rahmen eines radikalen Weltbildes oder dessen Radikalisierung zu unumstößlicher Gewissheit verfestigen kann.
Hans-Herman Klares Auerbach und Uffa Jensens Ein antisemitischer Doppelmord präsentieren dazu Fallstudien aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und dem Jahr 1980. Mario Keßlers Sozialisten gegen Antisemitismus, dem das hier eingangs zitierte Beispiel entnommen ist, und Peter Longerichs Buch Antisemitismus liefern umfassendere Darstellungen, die freilich thematisch und zeitlich begrenzt sind.
Was beim sozialistischen Engagement evident ist, bedarf bei Longerich der Begründung. Er habe sich auf den »modernen« Antisemitismus seit der Aufklärung beschränkt, schreibt der Autor, denn mit der »›drohenden‹ und dann realen Gleichberechtigung der Juden erhält die Judenfeindschaft eine ganz andere Qualität als in den Jahrhunderten zuvor, in denen die Juden als abgesonderte und in ihrem religiösen Grundirrtum verharrende Minderheit angesehen wurden«.
Das ist scharfsinnig und ein wenig kurzsichtig zugleich, weil gerade angesichts des nationalsozialistischen Antisemitismus sowohl Longerichs rumänischer Kollege Valeriu Marcu mit Die Vertreibung der Juden aus Spanien (1934) als auch der Romancier Ernst Sommer mit Botschaft von Granada (1937) den weiten Bogen zurück zur Spanischen Inquisition zogen. Deren Wüten richtete sich gegen zum Christentum übergetretene Juden (»Conversos«) und deren getaufte Nachfahren, denen unterstellt wurde, sie seien nur zum Schein konvertiert. Die Botschaft von Granada war also, dass gelingende Integrationsbemühungen und selbst die Konversion eine neue Stufe des Antijudaismus hervorbringen – die Vorstellung vom »Kryptojudentum«, also von gezielter Verstellung innerlich Unbekehrter.
Als diese Assimilationsfalle in dem von Longerich beschriebenem Zeitraum bereits im Vormärz erneut zuschnappte, analysiert er präzise deren fatalen Mechanismus: »Die schrittweise Gewährung von Rechten an die jüdische Minderheit als ›Belohnung‹ für ihre Assimilation, dieses in der Aufklärung geborene und von Liberalen übernommene Erziehungskonzept musste notwendigerweise zur Falle für die Juden werden. Denn die ›Erzieher‹ gingen von einer einseitig negativen Vorstellung über Religion, Kultur, Lebensweise und Mentalität der Juden aus, waren nicht bereit, tatsächliche Assimilationsfortschritte positiv zu bewerten, ja sahen in einer zu schnellen und zu starken Anpassung der Juden sogar eine Gefahr.«
Alles und auch das Gegenteil
Beispiele gelungener Integration sind als Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit mithin kontraproduktiv, wenn sie diese Konkurrenzängste und Neidgefühle eher verstärken. Einen legislativen Kulminationspunkt dieses fatalen Mechanismus benennt Longerich kurz nach der nazistischen »Machtergreifung«im Jahre 1933: Das im April verabschiedete »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« sah neben der Möglichkeit, Beamte aus politischen Gründen zu entlassen, zwingend vor, die Beamten »nicht arischer Abstammung« in den Ruhestand zu versetzen. Einer Intervention des Reichspräsidenten folgend, wurden jüdische »Frontkämpfer« sowie die Söhne beziehungsweise Väter gefallener jüdischer Soldaten von dieser Regelung ausgenommen.
Aus den Tagebüchern Victor Klemperers, der selbst Weltkriegsveteran war, lässt sich entnehmen, dass viele deutsche Juden ihr Kriegserlebnis als einen Ritterschlag für ihre Integrationsbemühungen erfahren hatten. Hindenburgs Intervention war dann fatal, weil sie ein soldatisches Ethos beschwor, das die Nazis nur als Propagandaphrase nutzten. So erlebten die jüdischen Frontkämpfer wie einst die Conversos der iberischen Halbinsel nach einem Diktum Valeriu Marcus »alles und auch das Gegenteil«, weil der Antisemitismus darin geschult ist, im Positiven – sei es gelingende Integrationsbemühungen, sei es Mäzenatentum oder gar Aufopferung – stets das Negative, die perfide Verstellung zu sehen.
»Denn«, so schreibt Longerich eingangs, »wie in diesem Buch im Einzelnen zu schildern sein wird, besitzt der Antisemitismus eine chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit, liefert immer neue Begründungen für die Judenfeindschaft, die von seinen Anhängern, so unterschiedlich, ja widersprüchlich diese Argumente auch sind, als Facetten der gleichen Grundwahrheit angenommen werden: Je heterogener Formen und Motive, je vieldeutiger die Judenfeindschaft, desto größer die Gewissheit, dass an der Sache doch irgendetwas dran sein muss. So entsteht im Laufe der Zeit ein Arsenal von Argumenten, die zu einem immer größeren Fundus an ›Wissen‹ über Juden und ihr Verhalten aufgespeichert werden.« Dieses Arsenal werde »ständig erweitert und zunehmend von konkreten und im Einzelnen begründbaren Vorwürfen zu verallgemeinernden Stereotypen abstrahiert« – ein Prozess, den man laut Longerich als »antisemitische Codierung« bezeichnen kann.
Beispiele für solche Codierung liefern die Bücher von Klare und Jensen. Hans Hermann-Klare erzählt vom Leben und Selbstmord des 1906 in Hamburg geborenen Philipp Auerbach, der die NS-Zeit in Belgien und dann als KZ-Häftling in Auschwitz und Buchenwald überlebt hatte. Nach dem Krieg in Bayern zum »Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte« ernannt, war er zu einer nicht nur körperlich überragenden jüdischen Gestalt im Nachkriegsdeutschland geworden. Wegen seines durchaus unkonventionellen bis selbstherrlichen Engagements für die Displaced Persons wurde der gesundheitlich schwer angeschlagene Auerbach 1952 aber zu einer Haftstrafe verurteilt und beging noch am Tag der Urteilsverkündung Selbstmord.
Klares Darstellung liest sich als Lehrstück über den Fortbestand antisemitischer Haltungen im deutschen Justizwesen, die sich in der gnadenlosen Verurteilung des Juden Auerbach gleichzeitig zu bestätigen und zu rechtfertigen suchte. Der Professor für jüdische Geschichte Michael Brenner zitiert dazu im Nachwort das auch von Longerich angeführte Diktum, »die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«, und konstatiert in Hinblick auf die nur halbherzig vollzogene Entnazifizierung der Bundesrepublik: »Ein Auschwitz-Überlebender besaß selbst in einem Staatsamt nur so viel Einfluss, wie ihm von den Politikern alten Schlags und den Richtern mit einem den wandelnden Zeiten angepassten Parteibuch gewährt wurde.«
Der zionistische Sonderweg als einziger Ausweg?
Wie schnell sich alte Stereotype mit neuen verbünden, zeigt Uffa Jensen am Beispiel eines Doppelmordes, dem am 19. Dezember 1980 der ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Nürnberg, Shlomo Lewin, und seine Lebensgefährtin in ihrem Haus in Erlangen zum Opfer fielen. Der mutmaßliche Täter aus dem Umfeld der Wehrsportgruppe Hoffmann hatte 1981 im Libanon Selbstmord begangen und dadurch das Wissen über seine konkreten Motive und die Rolle Hoffmanns mit ins Grab genommen.
Ein antisemitischer Hintergrund sei bei den Ermittlungen jedoch lange nicht in Betracht gezogen worden, und Uffa Jensen sieht Parallelen zu den systemischen Ermittlungspannen im Fall der NSU-Morde, bei dem die Polizei lange in dem Zwielicht tappte, in das man die Opfer und ihr persönliches Umfeld gerückt hatte. Angesichts dieser Vorgänge, so der Autor, dränge sich »tatsächlich schnell der Eindruck auf, dass der Mangel an Ermittlungswillen und Empathie mit den – jüdischen und nichtjüdischen – Opfern nur durch eine geheime Verabredung rechtsgerichteter Menschen erklärbar ist«.
Überraschenderweise aber möchte Jensen für ein anderes Erklärungsmuster plädieren, von dem er fürchte, dass es noch »schlimmer, gefährlicher und hinterhältiger« sei: »Der antisemitische Doppelmord ist weniger eine Geschichte des Verheimlichens, Verleugnens oder gar der insgeheimen Zustimmung, sondern eine der Ignoranz, des Desinteresses und der Empathielosigkeit«, kurzum: »Die Bundesrepublik blieb lange fundamental unfähig, Rechtsterrorismus zu verstehen.«
Ob sein Buch dies fundamental ändern wird, darf bezweifelt werden. Doch es erhellt die Zusammenhänge zwischen rechtsradikalen Gruppierungen in Deutschland und der Palästinischen Befreiungsorganisation PLO, wobei der Doppelmord sowohl als Racheakt für Shlomo Lewins Engagement gegen die Wehrsportgruppe, als Auftragsmord für die PLO und als Beweis für die eigene Schlagkraft gegenüber der PLO verstanden werden kann. Lewin nämlich war in einem Bericht der italienischen Zeitschrift Oggi nicht nur als Gegenspieler Hoffmanns vorgestellt worden, sondern auch als israelischer Kriegsveteran und (fälschlich) als »Adjutant Moshe Dajans«.
Was Longerich als »antisemitische Codierung« bezeichnet, wirkt hier eskalierend, indem es Konflikte verstärkt, unterschiedliche Feindbilder verknüpft und Menschen wie Lewin exponiert – und so die Realität und Ideologie der PLO mit rechtsradikalen deutschen Imaginationen verbindet. In solchem Kontext gedeihen auch Bestrebungen, den Holocaust im Gewande einer scheinheiligen Israelkritik gegen die Vertreibung der Palästinenser aufzurechnen.
Doch hier scheiden sich auch die »Fluchtpunkte der Erinnerung« (Natan Sznaider) jener, die die Shoah, und jener, die die Nakba, den Kolonialismus oder die Sklaverei durchlitten haben. Hier liegt zudem eine Klippe für den Kampf der »Sozialisten gegen Antisemitismus« dessen Geschichte Mario Keßler beschreibt. Habe noch das aufkommende 20. Jahrhundert »im Zeichen zweier Heilserwartungen für die Juden« (Shlomo Na’aman) gestanden, nämlich eines marxistischen oder zionistischen Zukunftsglaubens, so ist angesichts der Erfahrungen mit der Sowjetunion und dem Faschismus nur die eine übrig geblieben.
Das universalistische Ideal einer klassenlosen, egalitären und gerechten Gesellschaft schloss für die Sozialisten selbstverständlich auch die Juden ein, nicht aber einen zionistischen Sonderweg. Dieser Sonderweg freilich ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen leidvollen Erfahrung, die im Holocaust kulminierte und unlängst durch den Attentäter von Halle noch einmal bestätigt wurde. Dessen geplanten Massenmord in der Synagoge vereitelte keine Aufklärung, keine Gedenkrede und kein Heilsversprechen, sondern eine solide Tür.
Uffa Jensen: Ein antisemitischer Doppelmord. Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik. Suhrkamp, Berlin 2022, 317 S., 24 €. – Hans-Hermann Klare: Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie oder Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte. Aufbau, Berlin 2022, 475 S., 28 €. – Mario Keßler: Sozialisten gegen Antisemitismus: Zur Judenfeindschaft und ihrer Bekämpfung 1844–1939. VSA, Hamburg 2022, 368 S., 26,80 €. – Peter Longerich: Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte: Von der Aufklärung bis heute. Siedler, München 2021, 560 S., 34 €.
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