Das wissenschaftsgeschichtliche Verhältnis von Rationalem und Sinnlichem unterlag unzähligen Schwankungen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es ausgesprochen schwer ist, letztgültig zu bestimmen, was nun rational und was sinnlich sein soll. So stand der frühneuzeitliche Rationalismus dem Sinnlichen in Form der Wahrnehmung durch die Sinne nicht nur kritisch, sondern deutlich ablehnend gegenüber. René Descartes etwa hat am Beispiel von geschmolzenem Wachs versucht zu zeigen, dass allein der Sinneseindruck von einer Sache nicht deren sichere Erkenntnis garantiere. Sinne täuschten nun einmal. Allein der Verstand könne erkennen, dass das geschmolzene Wachs trotz aller äußerlichen Unterschiede genauso Wachs ist wie das feste.
Werner Heisenberg, Wunderkind der modernen »hard science« schlechthin, der Physik, wies daher bereits im 20. Jahrhundert darauf hin, dass es zwar für die naturwissenschaftliche Einstellung nun wie selbstverständlich wirke, die sinnliche Wahrnehmung zum Ausgangpunkt einer Betrachtung der Wirklichkeit zu machen. Diese Herangehensweise stehe jedoch »in schroffem Gegensatz« zu den vorhergehenden Jahrhunderten, welche gerade das »Trügerische der Sinneswahrnehmungen« betonten.
»Auf der naturwissenschaftlichen Seite steht das Bild in einem eher diskreditierten Licht.«
In dieser Verwirrung nimmt das Bild eine entscheidende Rolle ein. In Erinnerung an den 2023 verstorbenen Kunsthistoriker und Medientheoretiker Hans Belting, Pionier der noch recht jungen Wissenschaft vom Bild, lohnt daher ein umgekehrter Blick auf das Bild in der Wissenschaft. Dabei scheint dem Bild, im Diskurs zwischen den »echten«, den »harten« Naturwissenschaften und dem Rest, die Funktion eines Differenzierungskriteriums zuzukommen: je bildärmer, desto wissenschaftlicher. Auf der naturwissenschaftlichen Seite steht das Bild daher in einem eher diskreditierten Licht. Die Zeitschrift Bild der Wissenschaft ist eine bloß populärwissenschaftliche Darstellung der »echten«, rationalen Sciences. Dafür erhielt das Blatt 1977 den Dr.-Erich-Salomon-Preis für herausragende Leistungen gerade im Bildjournalismus.
Auch während der Pandemie wurde immer wieder die notwendige Nüchternheit, die strenge Rationalität der Naturwissenschaften beschworen – gerne auch multimedial. Demgegenüber ist das Hauptwerk des als Begründer der Kulturwissenschaften gehandelten Giambattista Vico, die Scienza Nuova (Die ErsteNeue Wissenschaft), nicht ohne sein Frontispiz zu begreifen. Diese neue Wissenschaft von den menschlichen Schöpfungen kann nur dann vollständig durchdrungen werden, wenn alle, also nicht nur die rein geistigen, sondern auch die sinnlichen, die bildlichen, Schöpfungen des Menschen als Erkenntnisgrund miteinbezogen werden. Das Frontispiz steht seit der Erstfassung von 1730 daher programmatisch unter dem Titel der »Idee des Werkes« ganz am Anfang der Scienza Nuova.
Entweder Natur- oder Bildwerk?
In der vereinfachenden Gegenüberstellung von Natur- und sogenannten Geisteswissenschaften liegt eine besondere Asymmetrie in deren namensgebenden Forschungsgegenständen. Während die Naturwissenschaften sich theoretisch unmittelbar mit der »Natur« beschäftigen, tun die Geisteswissenschaften dies vorrangig mittelbar. Die Geisteswissenschaften betrachten vielmehr die Produkte des menschlichen »Geistes«. Dieser Geist manifestiert sich als Kunst, Sprache oder in philosophischen Texten. Diese Asymmetrie erklärt möglicherweise die Relevanzasymmetrie der Bildlichkeit dieser Wissenschaften.
»Das Bild ist forschungsgegenständliche Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.«
Unter der Prämisse der Unterscheidung von unberührter Natur und menschlich geformter Kultur stellt sich daher die Frage nach der Natur des Bildes. Nach seiner ersten und grundlegenden Definition ist das Bild jedwede Form der Gestaltung. Die genuin menschliche Fähigkeit, Naturgebilde zu Bildern zu formen, wird daher als ikonische Differenz bezeichnet. Damit fallen nicht nur nichtphysische Bilder aus dieser Bestimmung heraus, sondern Bilder markieren evolutiv einen sinnlichen Übergang von Natur zu Kultur. Das Bild ist so gesehen forschungsgegenständliche Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaft. Aus dieser Perspektive leuchtet ein, wieso dem Bild mal mehr, mal weniger Wissenschaftlichkeit zugesprochen wird.
Paradoxerweise wurde dem Bild als Objekt lange Zeit die Eigenständigkeit abgesprochen, obwohl es sich gerade durch seine Menschlichkeit definiert, die im Bild fortlebt. Eines der ägyptischen Worte für Bildhauer heißt darum auch: »Er, der am Leben hält.« Denn um verstorbene Könige nicht nur vor dem körperlichen Verfall in einem Sarkophag, sondern darüber hinaus ihr Aussehen für die Ewigkeit zu bewahren, meißelten die Bildhauer das königliche Bild in harten Granit und stellten es in der Grabkammer auf. Das Bild ist menschliches Artefakt, aus dem sich historische Rückschlüsse ziehen lassen. Das Bild ist interpretierbares Symbol, das Emotionen und Gedanken freisetzt. Dem Bild wird also sein Eigenleben im Austausch für die abbildhafte menschliche Lebendigkeit abgesprochen.
Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich bringt mit seinem Beholder’s Share, also dem Anteil des Betrachtenden, diesen Status der Bilder am Anfang des 20. Jahrhunderts auf eine schlanke Gleichung. Die Wiener Schule der Kunstgeschichte, zu der neben Gombrich auch Alois Riegl oder Ernst Kris zählten, versuchte dabei, die Wirkung der Kunst psychologisch zu begründen. Bild ist daher gleich die Summe des Anteils des*r Betrachters*in sowie des Anteils des*r Künstlers*in. Spätestens seitdem zum Ende des 20. Jahrhunderts Philosoph und Kunstgeschichtler Gottfried Boehm dann die ikonische Wende auf den Begriff gebracht hat, lässt sich jedoch ein Umdenken feststellen. Nicht mehr nur die Wahrnehmung der Betrachtenden entscheidet, sondern dem Bild selbst kommt ein eigenständiger Erkenntniswert zu.
Dabei geht es nicht um die zunehmende Bedeutung des Visuellen im Alltag. Wie bei den meisten der Wenden des vergangenen Jahrhunderts geht es hingegen darum, ein neues erkenntnistheoretisches Bewusstsein zu beanspruchen. Was für den linguistic turn die Sprache war, ist für die ikonische Wende nun das Bild. Hier steht also ein neuartiges Bewusstsein für den Erkenntniswert des Bildes im Mittelpunkt. Doch was heißt das?
Ein neuer Platz in der ersten Reihe
Um auf diese Frage eine Antwort geben zu können, tritt neben Belting und Boehm mit Horst Bredekamp ein Dritter auf die bildwissenschaftliche Bühne. Dabei verbindet die drei Forscher nicht nur der alliterative Dreiklang ihrer Nachnamen. Bredekamp und Belting teilten nämlich auch eine freundschaftliche Verbundenheit. Sie lernten sich in den 80er Jahren in der venezianischen Nationalbibliothek, der Marciana, kennen. Die beiden Bildwissenschaftler saßen sich dort gegenüber.
»Das Bild soll aus der Stellung als bloßes menschliches Objekt befreit werden.«
Bredekamp ist aber nicht deswegen unerlässlich, um ein aktuelles Bild vom Bild in den Wissenschaften zu denken, sondern weil er umfassend versucht, dem Bild sein Eigenleben zurückzuschenken. Das Bild soll aus der Stellung als bloßes menschliches Objekt befreit werden. Unter der Voraussetzung eines eigenständigen Bildlebens ist das Bild überall dort zu Hause, wo es sich niederlässt. Das gilt damit auch für die Wissenschaften, des Geistes und der Natur. Dem Philosophen Wolfram Hogrebe zufolge seien für Bredekamp alle Wissenschaften und ja, sogar der Sport, nur »bildblinde« Teile einer universalen Bildwissenschaft, die als Fundament aller anderen Wissenschaften fungiert. Alle Wissenschaften übersähen nämlich, »daß sie essentiell auf einem bildgebundenen Unterbau aufruhen, den sie als Voraussetzungen ihrer Möglichkeit aus dem Blick verloren haben oder verleugnen.«
Im naturwissenschaftlichen Bereich etwa macht Bredekamp daher Galileo zum Künstler. Im Technischen fragt er nach den Gemeinsamkeiten zwischen der bewundernden Betrachtung antiker Skulpturen und der Faszination für moderne Maschinen. In den Rechtswissenschaften werden bei ihm schließlich die Begnadigungen von Künstlern wie Benini, deren übernatürliches Genie zur Bildschaffung sie aus dem Rechtsrahmen gewöhnlicher, sterblicher Verbrecher heraushebt, zum Element einer frühmodernen Rechts- und Staatstheorie.
Dieser Bildakt, den Bredekamp vollbringt, bedeutet ein neues erkenntnistheoretisches Selbstbewusstsein der Bilder. Erkenntnis ist damit nicht erst dann wahre Erkenntnis, wenn sie nicht mehr wachsartig in unserer Hand zerschmilzt. Bilder bedeuten selbstständige Erkenntnis.
»Wenn aber Bilder Erkenntnis bedeuten, welchen Grund hätte dann die Wissenschaft, sich dieser zu verschließen?«
Wenn aber Bilder Erkenntnis bedeuten, welchen Grund hätte dann die Wissenschaft, sich dieser zu verschließen? Abgesehen davon, dass es auch bildtheoretische Ansätze gibt, die keine strikte Grenze zwischen Naturwerk einerseits und menschlichem Bildwerk andererseits ziehen, sollte sogenannte wissenschaftliche Rationalität in ästhetischer Hinsicht heute nicht mehr einfach nur entzaubernd sein. Das Beispiel der COVID-19-Pandemie zeigt, dass die Diagramme der Fallzahlen oder die Visualisierungen des Virus durch bildgebende Verfahren mehr als darstellerisches Beiwerk sind. Sie sind vielmehr als ein produktives Sichtbarmachen zu begreifen. Dass eine solche Sichtweise sogar notwendig ist, wird deutlich, wenn es um unsichtbare naturwissenschaftliche Phänomene geht. Dazu zählen Schallwellen ebenso wie das Leben selbst. Die DNA wird zur Doppelhelix, der Fötus erstmalig im Ultraschallbild erkennbar. Diese Logik funktioniert auch in die andere Richtung. Naturwissenschaftliches Wissen kann dabei helfen, das klassische kunstgeschichtliche Sujet des Landschaftsbildes realitätsnäher zu malen. Diese Idee ist keineswegs neu. Goethe bat gerade Caspar David Friedrich, die Wolken ihrer neuen wissenschaftlichen Einteilung entsprechend in all den zungenbrechenden Formen von Stratus bis Cumulu-cirrostratus zu malen. Friedrich lehnte aber ab.
Unabhängig vom menschlichen Einfluss auf werdendes Leben kann man vor diesem Hintergrund durchaus die Frage stellen, ob der naturwissenschaftliche Forschungsgegenstand reines Naturwerk darstellt, wenn grundlegende naturwissenschaftliche Gegebenheiten vollständig erst in ihrer Bildlichkeit zu erkennen sind. Insoweit passt also auch für die Naturwissenschaften die grundlegende Definition eines Bildes als jede Form der menschlichen Gestaltung. Das relativiert jedenfalls die ikonische Differenz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften.
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