Kommunale Heimaten durch Teilhabe öffnen und stärken
Das Wort »Heimat« löst immer wieder politischen Streit aus. Oft verbindet man damit Vorstellungen von einem Ort in einer Welt, die noch heil war, wo man geboren wurde, zusammengehörte und sich zugehörig fühlte, wo alles vertraut war, wo man sich kannte, wo keine Fremden herumliefen, die einem beunruhigend vorkamen, ein Ort, über den man schöne Jugenderinnerungen pflegt und der sich eigentlich nicht ändern darf, weil er dann nicht mehr richtig Heimat wäre. Heimat – ein Ort, den es nie gab und nicht geben kann? Im Christentum verbindet man mit dem Wort auch den Begriff »Das Himmlische Jerusalem«. Er steht für Frieden, Gerechtigkeit, für Paradies oder Utopie.
Viele Menschen haben im 20. Jahrhundert vor allem in der Folge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat verloren. Das wurde – jedenfalls in Deutschland – zu einem lang andauernden und emotional aufgeladenen politischen Thema. Es berührte die Beziehungen zu Polen und zur damaligen Tschechoslowakei grundlegend. Dieser Streit ist jetzt abgeklungen. Die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als westliche Grenze Polens ist in Deutschland nicht mehr umstritten, Flucht und Vertreibung wurden zu Themen vielfältiger geschichtspolitischer Diskussionen und Ausstellungen.
Zwei Frustrationen, dieselbe Sehnsucht
Seit einigen Jahren hat die Kontroverse um das Wort Heimat allerdings neue Bedeutungen angenommen. Es geht um die Veränderung unserer Länder und Kommunen durch die Migration, auch aus fernen Ländern. Viele nahmen sie am Anfang als vorübergehende Erscheinung wahr, aber mehr und mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass viele Menschen, die von weither kommen, in Deutschland oder Europa bleiben und zu mehr sichtbarer Vielfalt aus sehr unterschiedlichen Herkünften führen. Spontan reagieren darauf viele Bürgerinnen und Bürger verunsichert, weil sie zum Beispiel in einer abends verwaisten Innenstadt nur noch »Fremde« sehen und sich fragen, ob ihre Stadt noch ihnen gehört, noch ihre Heimat ist.
Umgekehrt leiden viele Geflüchtete oder Arbeitsmigranten darunter, dass sie ihre Heimat verlassen mussten. Sie sehnen sich eben auch nach ihrer Heimat. Und wenn sie sich abends in einem verwaisten deutschen Stadtzentrum befinden, fühlen sie sich ebenfalls nicht wohl. So stoßen zwei Frustrationen aufeinander, deren Ursprung dieselbe Sehnsucht nach Heimat ist.
Das hat inzwischen in Deutschland und in Europa zu einer spürbaren, auch aggressiven politischen Bewegung geführt, deren Anführer und Anhänger auf eine erneute Trennung, eine Segregation der verschiedenen Herkünfte und nationalen Zugehörigkeiten pochen. Sie rufen »Deutschland den Deutschen« und in Anlehnung an Donald Trump: »Deutschland zuerst«. Sie fühlen sich im eigenen Land nicht mehr als »Herr im Haus« – »Frau im Haus« oder gar »Hausfrau im Haus« hört man hingegen weniger…
»Manche meinen, man müsse das Wort Heimat aus dem Verkehr ziehen, um zur Ruhe zu kommen.«
Die Aggressivität nimmt zu, manche meinen, man müsse dagegen das Wort Heimat aus dem Verkehr ziehen, um zur Ruhe zu kommen und rechten Antidemokraten nicht das Feld zu überlassen. Ich teile diese Meinung nicht. Vielmehr führt es uns weiter, wenn wir die Ängste und Enttäuschungen auf allen Seiten ernst nehmen: Viele Einheimische sorgen sich vor den Fremden, weil sie sie nicht kennen und auch rein sprachlich oft nicht verstehen. Wenn sie sich nicht mehr in der klaren Mehrheit fühlen, reagieren sie verstört, abweisend oder aggressiv. Die Fremden spüren diese Abwehr, die sich ja auch oft massiv manifestiert, und reagieren ihrerseits negativ, weil sie sich als Menschen nicht anerkannt fühlen.
Ich glaube, es gibt eine Möglichkeit, diese Hürden zwischen Menschen, die sich alle nach Heimat sehnen, zu überwinden. Sie liegt darin, dass die Einheimischen mehr daran teilhaben können, wo und wie Migranten aufgenommen werden, und dass Migranten darüber mitbestimmen können, an welchem neuen Ort sie ihr Leben fortführen wollen. Damit würde ein bedeutsamer Stolperstein, der Ärger darüber, eine wichtige Entscheidung einfach übergestülpt zu bekommen, weggeräumt. Menschen könnten sich kennenlernen, gemeinsam essen und trinken, sportliche oder kulturelle Unternehmungen starten, voneinander lernen.
Ein gemeinsames Werk verbindet
Wenn sie dann in einem zweiten Schritt gemeinsam über die Zukunft dieses Ortes beraten, lernen sie sich noch besser kennen und treffen sich in ihrem Engagement und ihrer Verantwortung für ihren Wohnort. Heimat ist dann nicht nur der Ort, aus dem man kommt, wo man seine Kindheit verbracht hat, sondern mehr und mehr auch der Ort, der einem vertraut ist und mit dem man sich identifiziert, weil man ihn gemeinsam gestaltet. Seit der antiken Philosophie wissen wir, dass ein gemeinsames Werk verbindet; denn man hat seine Ideen, seine Energien und seine Fantasien in dieses Werk gesetzt, man identifiziert sich mit ihm.
Damit kann eine Politik, die das Bedürfnis nach Heimat in seinen verschiedenen Perspektiven und Facetten anerkennt und zeitgemäße Antworten darauf finden möchte, sehr gut anschließen an vielfache Bemühungen, für unsere Demokratie, die zunehmend an Zustimmung verliert, durch eine gut durchdachte erweiterte Partizipation besonders auf kommunaler Ebene wieder Vertrauen und Zugehörigkeitsgefühl zu gewinnen.
Umfragen zeigen weltweit, eben auch in Deutschland und in Europa, dass viele Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen in die demokratischen Institutionen – die Parteien, Parlamente, Regierungen, Medien, sogar die Gerichte – zunehmend verlieren, nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch. Der rasante Wandel, dem sie in ihrem Alltag ausgesetzt sind und dem sie sich vielfach nicht gewachsen fühlen, ruft bei Ihnen Ohnmachtsgefühle hervor. Diese werden durch die Undurchschaubarkeit komplexer demokratischer Entscheidungsprozesse und durch Erfahrungen der Ungerechtigkeit, an der sie nichts ändern können, verschärft. Steffen Mau spricht in seiner Untersuchung zu »Triggerpunkten« von Erfahrungen der »Verohnmächtigung«.
Erfahrungen der »Selbstwirksamkeit«
Dagegen werden inzwischen vielfache Formen der erweiterten Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Entscheidungen vorgeschlagen und ausprobiert, die der Ohnmacht entgegenwirken sollen. Indem sie gemeinsam über anstehende politische Probleme beraten, sollen ihnen diese Probleme und der Umgang mit ihnen vertrauter werden und sie sollen Erfahrungen der »Selbstwirksamkeit« machen können, die ihnen Sicherheit und zugleich kompetente Kritikfähigkeit vermittelt.
Oft werden dafür sogenannte »Bürgerräte« vorgeschlagen, deren Teilnehmer ausgelost werden und die die Lobbygruppen in der Regel außen vor lassen, zugunsten individueller Bürgerinnen und Bürger ohne bereits erkennbar festgelegte Interessen. Sie haben inzwischen eine erhebliche Bekanntheit und Zustimmung gewonnen.
Eine (auch ergänzende) Alternative mit einer anderen demokratiepolitischen Stoßrichtung stellen »Kommunale Entwicklungsbeiräte« dar. Sie blenden Interessen- und Lobbygruppen nicht aus, sondern versammeln sie im Gegenteil in einer sogenannten Multi-Stakeholder-Vertretung aus Politik, Wirtschaft und organisierter Zivilgesellschaft. Hier erarbeiten Vertreter der gewählten Politik (Stadtverordnetenversammlung und Bürgermeister mit Verwaltung), mit nicht gewählten Vertretern von Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen (Industrie-, Handels- sowie Handwerkskammern) gemeinsam Empfehlungen an die Politik für die langfristige Entwicklung ihrer Kommunen.
Der Unterschied zu Bürgerräten liegt darin, dass mit diesem Verfahren die aktuell größte Herausforderung von liberalen Demokratien, über die gegensätzlichen Interessengruppen und Machtpotenziale hinweg einen Grundkonsens der Gesellschaft zu erarbeiten, um zu gemeinwohlorientierten Entscheidungen und Kompromissen zu gelangen, direkt angegangen wird. Zudem beraten die zukünftigen Entscheider mit den anderen Gruppen zusammen, was die praktische Umsetzung psychologisch erleichtert.
»Migrantinnen und Migranten sowie ihre Vertreter werden zu gleichberechtigten Mitgliedern.«
Solche Kommunalen Entwicklungsbeiräte vermitteln auf diese Weise ein realistischeres Bild von Politik, als wenn die Lobbygruppen von vornherein außen vor gelassen werden. Sie fördern zudem eine Integration der kommunalen Gesellschaft und unterstützen damit, dass alle Bürgerinnen und Bürger sie als ihre Heimat, die sie mitgestaltet und weiterentwickelt haben, erfahren können. Migrantinnen und Migranten sowie ihre Vertreter werden zu gleichberechtigten Mitgliedern und bringen oft originelle Vorschläge ein. So entsteht eine neue Heimat, die Vielfalt durch Kooperation zusammenbringt.
Partizipatorische Politik zum Anfassen
Ein solches Verständnis von Heimat, das auch in die Zukunft, nicht nur in die Vergangenheit gerichtet ist, wäre einer globalen Situation angemessen, in der Migration auf absehbare Zeit zu uns gehören wird. Der Rückfall in einen aggressiven Nationalismus oder Rassismus könnte überwunden werden durch eine stärkere Rolle der Kommunen, die eine partizipatorische Politik zum Anfassen ermöglichen und die Bürgerinnen und Bürger einander näherbringen.
Auch für die Zukunft der Europäischen Union bietet diese Perspektive neue Chancen, denn es ist offensichtlich: Die EU ist von Nationalstaaten gegründet, aber diese geraten mehr und mehr in den Strudel nationaler Machttaktiken und Konkurrenzen. Das unterminiert die für die EU unverzichtbare Solidarität, die zwischen Bürgerinnen und Bürgern in Städten und Kommunen besser gedeiht als zwischen Staaten, die überwiegend auf die Interessen der jeweiligen Regierungen hin ausgerichtet sind und durch ihre jeweils nationale Wählerschaft eher gegeneinander geraten. Machen wir unsere Städte und Kommunen also zu unseren Heimaten, die sich durch Teilhabe europäisch und global öffnen und gerade dadurch füreinander großzügig Zugehörigkeit und Vertrautheit schaffen können!

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