Menü

Über die Münchner Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Akademiker Eine Art deutsche Fabian Society?

Zu den in der Parteigeschichte der Sozialdemokratie fast vergessenen Phänomenen, die eine andere Zeit charakterisieren und doch Fragen an die Gegenwart implizieren, gehört die von Waldemar von Knoeringen initiierte Münchner Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Akademiker während der 50er und 60er Jahre. In ihr spielten neben von Knoeringen, der stellvertretender Parteivorsitzender war, der junge Hans-Jochen Vogel, die Historikerin Helga Grebing und schließlich auch Peter Glotz eine Rolle; ihre Veranstaltungen und Aktivitäten erreichten, wie die informative Abschlussarbeit von Caroline Lorenz an der Ludwig-Maximilians-Universität München zeigt, bundesweit Beachtung.

Gewiss ging es bei der Arbeitsgemeinschaft auch darum, die traditionelle Distanz zwischen Akademikern und Sozialdemokraten abzubauen und diese für die Sozialdemokratie zu gewinnen. Nicht dass es in der Sozialdemokratie keine akademisch gebildeten Menschen gegeben hätte. Von Anfang an gab es Intellektuelle und bürgerliche Randexistenzen, im Kaiserreich zunehmend jüdische Rechtsanwälte und in der Weimarer Zeit durchaus namhafte Intellektuelle mit akademischem Hintergrund. Und doch war im 20. Jahrhundert in Deutschland akademische Bildung geradezu ein klassenbildender Faktor, der zudem berufsständisch überhöht wurde. In den 50er Jahren kam es dem Reformer von Knoeringen und seinen Mitstreitern darauf an, die Distanz zwischen Universität und Wissenschaft einerseits und sozialdemokratischer Arbeiterbewegung andererseits zu überwinden, akademisch gebildete Menschen für die SPD zu gewinnen, die Demokratie zu stabilisieren und die teilweise sehr traditionalistische SPD zu modernisieren.

Die Arbeitsgemeinschaft gründete für verschiedene Wissenschaften Arbeitskreise, die nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse für die Öffentlichkeit präsentierten, sondern auch ihre politische Relevanz – zusammen mit Akteuren der Partei – erörterten. Dabei ging es etwa um die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der neueren Geschichte, um die Bedeutung der friedlichen Nutzung der Kernenergie, um die sogenannte zweite industrielle Revolution und die Automatisierung, um rechtspolitische Fragen, doch auch um das Menschenbild der modernen Medizin und um politische Bildung. Es gab in den Jahren 1954–58 große Vortragsreihen, bei denen führende politische Köpfe Vorträge zu grundlegenden Fragen der geistigen Auseinandersetzung der Zeit hielten, die im Rundfunk übertragen wurden und zu Buchpublikationen führten, etwa über das »Weltbild unserer Zeit«, über Themen wie »Christlicher Glaube und politische Entscheidung« oder »Der wiederentdeckte Mensch«, bei der am Ende Max Horkheimer »Zum Begriff des Menschen heute« sprach. Angestrebt wurde nichts weniger als eine philosophisch-politische Ortsbestimmung der Deutschen – vor dem Hintergrund der NS-Zeit und des Kalten Krieges.

Zugleich aber beteiligte sich die Arbeitsgemeinschaft an den politischen Diskussionen, die zur Klärung des Selbstverständnisses der Sozialdemokratie, zur Erarbeitung des Godesberger Programms sowie seiner Präsentation und Durchsetzung in Partei und Öffentlichkeit führten. Zweifellos hat der Arbeitskreis den Prozess der Neuorientierung in den 50er und 60er Jahren mitgetragen; er stand auf der Seite der Reformer. Wissenschaftliche Arbeit und politische Willensbildung traten in ein neues Verhältnis. Beobachtern erschien die Arbeitsgemeinschaft wie eine deutsche Variante der Fabian Society.

Sicherlich ist inzwischen die Verwissenschaftlichung und Differenzierung der Diskussionen im politischen Raum deutlich vorangeschritten, auch haben sich die Formen des Diskurses verändert. Dennoch kann man fragen, ob nicht gerade in der Gegenwart – in der sich mancherorts eine populistische Wissenschaftsfeindlichkeit beobachten lässt – das Gespräch zwischen Politik und Wissenschaften (Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und technischen Disziplinen) neu gesucht werden und dabei eine grundsätzliche geistige Ortsbestimmung mit führenden Wissenschaftlern angestrebt werden müsste. Gerade auch im Hinblick auf die vielfältigen Konsequenzen der Digitalisierung, die erhebliche politische Herausforderungen für viele Bereiche enthält, weit über die bloße Verbreitung hinaus.

Und auch der Sozialdemokratie könnte es guttun, wenn – zusätzlich zu den mancherorts tätigen Wissenschaftsforen – wieder wissenschaftlich-politische Arbeitszusammenhänge entstünden, die gesamtgesellschaftliche Zukunftsfragen der Politik aufgriffen. Gerade im Hinblick auf einen als Ziel gesteckten umfassenden Gestaltungsanspruch ist die Sozialdemokratie vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen gezwungen, die Spezifika der heutigen Konstellation zu erfassen, um zukunftsfähig zu werden. Die Sozialdemokratie muss wieder lernen, statt sich bloß den Trends des Zeitgeistes anzupassen, ihn mit eigenen Impulsen zu beeinflussen; sie muss über enge Fragen praktischer Politik hinaus wieder im umfassenderen Sinn dialogfähig werden.

Caroline Christina Lorenz: Die Münchner Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Akademiker (Überarbeitete universitäre Abschlussarbeit). Ludwig-Maximilians-Universität, München 2017.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben