Diese Bundestagswahl hat es in sich, denn es geht bei ihr um mehr als um die Realisierungschancen für einzelne Reformvorhaben – etwa in den Bereichen Steuerpolitik oder Rentenreform, wie wichtig diese für sich genommen tatsächlich auch sind. Außer über die Möglichkeiten der Bildung einer neuen Regierung entscheiden die Wählerinnen und Wähler dieses Mal nämlich auch noch über etwas für die Zukunft der Republik wohl Bedeutenderes, das auf längere Zeit die Koordinaten der Politik im Lande bestimmen könnte. Es geht diesmal auch darum, ob sich in der Bundesrepublik weiterhin zwei – bei allen Schwankungen und Überlappungen – annähernd gleich starke politisch-kulturelle »Lager« gegenüberstehen und einander ausbalancieren, nämlich das Rot-rot-grüne von Mitte-links und das Bürgerliche aus CDU/CSU und FDP rechts der Mitte. Oder ob sich, im Falle der Bildung einer schwarz-grünen, erst recht bei einer Jamaika-Koalition, ein erweitertes gesamtbürgerliches »Lager« herausbildet und in einer hegemonialen Position auf längere Zeit einrichten kann, zu dem dann auch die nach rechts gerückten Kretschmann-GRÜNEN gehören. Ihm stünden auf der geschrumpften Position links der Mitte nur noch eine geschwächte SPD und eine unentschiedene Linkspartei gegenüber, in der dann wohl angesichts der erwiesenen Aussichtslosigkeit einer Regierungsbeteiligung im Bund der radikale Flügel zunehmend den Ton angäbe. Schon auf ihrem Parteitag Mitte Juni zeichnete sich diese Logik ab, nach der die auf prinzipielle Opposition festgelegten Kräfte in der Partei DIE LINKE umso stärker werden, je aussichtsloser in der Wirklichkeit das Projekt einer Regierungsbeteiligung im Bund erscheint, was den Radikalen dann weiteren Auftrieb verschafft.
Obgleich mit der bürgerlichen Wende der grünen Mehrheit von einem »Lager« links der Mitte eigentlich schon seit einigen Jahren nicht mehr so recht gesprochen werden konnte, herrschte doch weiterhin eine gewisse politisch-kulturelle Affinität zwischen den Mehrheitsströmungen aller Parteien im rot-rot-grünen Feld vor, die in der Gesellschaft und im größten Teil dieser zughörigen Parteien auch deutlich empfunden wurde. Eine Regierungsbildung auf dieser Basis schien nie ausgeschlossen und sie ist es auch heute nicht. Sicherlich hätte sie eine deutliche Abkehr der Linkspartei von ihren unausgegorenen außen- und europapolitischen Vorstellungen zur Voraussetzung, die sie auf ihrem Parteitag im Juni stattdessen aufs Neue bekräftigt hat. Aber es gab und gibt dort stets auch eine gewichtige Reformströmung in diesen Fragen, die selbst durch die nur vage Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung im Bund gestärkt wird. Die einzig richtige Antwort der Sozialdemokratie auf diese perspektivlose Einigelung ist ihr seit einigen Jahren gültiger »Doppelbeschluss«, auf die zuvor praktizierte »Ausschließeritis« ganz zu verzichten, aber bei den Bedingungen für eine mögliche Zusammenarbeit eindeutige Maßstäbe zu setzen.
Mit der Bildung einer schwarz-grünen oder einer Jamaika-Koalition würde eine Art gesamtbürgerliches Bündnis die Regierung des Landes übernehmen, vermutlich mit weitreichenden Folgen für dessen politisch-kulturelle Tektonik. Diese könnte sich in grundlegender Weise verändern. Dabei würde sich das traditionelle Wirtschaftsbürgertum mit Teilen des aufgeschlossenen Kulturbürgertums unter dem gemeinsamen Nenner des entschiedenen »(Besitz-)Bürgerlichen« vereinen. Die Macht des Wirtschaftsbürgertums wäre zusätzlich gestärkt, wenn seine libertäre Fraktion, die gewerkschaftsfernste Variante, in Gestalt der FDP diesem Regierungsbündnis beiträte. Ein solches Bündnis könnte sich auf die gesamte Palette der bürgerlichen Sozialmilieus in all ihren kulturellen Schattierungen stützen. Aber nicht nur das. Die politisch-kulturellen Milieus, die eigentlichen Heimstätten der Bildung und Stabilisierung längerfristiger politischer Einstellungen, erhalten sich durch verdichtete Kommunikation, in der Mediengesellschaft unter maßgeblicher Mitwirkung der Massenmedien. Die Vorstellung, die großen überwölbenden Massenmedien hätten im Zeitalter des schwer zu überschauenden Systems der kleinstteiligen und gegeneinander weitgehend abgeschotteten Echokammern der sozialen Medien ihren zentralen Einfluss so gut wie verloren, ist eher eine Schutzbehauptung der Betroffenen als eine triftige Analyse der neuen Lage. Sie mischen weiterhin mit großem Einfluss mit.
Mediales Wunschdenken
Seit dem Ende der rot-grünen Bundesregierung im Jahr 2005 verraten nicht nur Kommentare, in denen eine solche Einflussnahme legitim wäre, sondern auch auf den ersten Blick neutrale Berichte die – mal offene, mal eher verdeckte – Tendenz in zentralen Massenmedien, einer schwarz-grünen Koalition den Weg zu bereiten. Käme es zu einem solchen Bündnis und würde dieses auch von den dominanten soziokulturellen Milieus der Parteien getragen, würde sich die Machtkonstellation in der Republik nachhaltig verändern, da sich die Chancen für eine Regierungsalternative oder auch nur für einen starken Einfluss der Parteien links der Mitte auf die Politik der Republik beträchtlich verringern würden: Das reformerische Milieu der Linkspartei und das linke Milieu der GRÜNEN wären politisch marginalisiert. Besonders in der FAZ und in der ZEIT kann man zwischen den Zeilen oder in förmlichen Plädoyers immer wieder lesen, wie überlegen und innovativ ein schwarz-grünes Bündnis doch wäre. Die illusionsfixierte Linke hat man ohnehin ins Abseits gestellt, die SPD wird regelmäßig als verbraucht und überholt charakterisiert, was die Partei mit jeder programmatischen Initiative – egal, worum es im Einzelnen geht – unbeabsichtigt selbst bestätige. Gerade DIE ZEIT klebt Regierungen mit SPD-Beteiligung gerne das Etikett des Perspektivlosen, unhaltbar Gestrigen, prinzipiell Erlahmten auf. Man hat den Eindruck, als umwehe nur noch Grün-Schwarz ein Hauch des Neuen, Unerprobten, Innovativen. Wer die Berichterstattung zur Landtagswahl in Hessen Anfang 2013 verfolgte, konnte förmlich spüren, mit welchem Nachdruck das schwarz-grüne Bündnis geradezu herbeigeschrieben werden sollte. Wo sonst Inkonsequenzen und Wortbrüche regelmäßig mit aller Schärfe angeprangert werden, konnten DIE GRÜNEN in diesem Fall gar nicht schnell genug mit der CDU ins Koalitionsbett hüpfen, auch wenn dies einen Bruch mit den im Wahlkampf vehement vertretenen Positionen (namentlich im Hinblick auf den Ausbau des Frankfurter Flughafens) bedeutete. Die Journalisten stellten derartig einseitig darauf ab, welcher Segen eine solche Koalition langfristig für das Machtgefüge der Republik wäre, dass die grünen Parteiführer sich sicher sein konnten, in diesem Fall für ihren Gesinnungswandel nicht abgewatscht, sondern sogar belobigt zu werden. Sie hatten sozusagen eine mediale Versicherungspolice in der Tasche.
Kernthema Steuerpolitik
Für welches politische Leitbild steht eine solche »bürgerlich-bürgerliche« Koalition, sei es in der schwarz-grünen Variante oder mit »gelber« Ergänzung? Was sich zwanglos vereinen könnte, sind das klassische Bürgertum, das sich von der liberal-konservativen Kern-CDU erhofft, dass Besitzstände gewahrt werden in vollem Einklang mit den ausgeprägt marktseligen Teilen der Freien Demokraten, das eher besitzbürgerliche grüne Milieu und das neubürgerliche Milieu der tonangebenden Journalisten, für welche DIE GRÜNEN mittlerweile die beliebteste Partei darstellen, allerdings nicht deren »linker Flügel«. Man wünscht sich eine Koalition, die einerseits einen (post)modernen kulturellen Anstrich hat, Umweltthemen und kulturelle Liberalisierung einbezieht, andererseits jedoch den »Räuber-Staat« und den linken Umverteilungswahn wirtschafts- und sozialpolitisch eng im Zaum hält. Ein solches Jamaika-Bündnis wäre sich in einem einig: Eine Politik der Sicherung und des Ausbaus sozialstaatlicher Standards wäre mit ihm kaum zu machen, das Credo der gleichen steuerlichen Entlastung aller, was besonders den Reichen nützt und die Vermögensschere weiter auseinandergehen lässt, würde wieder vorherrschend werden.
Kein Wunder also, dass die links-grüne Symbolfigur Jürgen Trittin, die es gewagt hatte, höhere Steuern für Reiche zu fordern, im Bundestagswahlkampf 2013 massiv und erfolgreich angegriffen wurde; und nach dem Wahltag legte man den GRÜNEN nahe, sich in Reaktion auf die Niederlage in Richtung Kretschmann zu bewegen und zum neubürgerlichen Zünglein an der Waage zwischen Schwarz und Rot zu mutieren. Es sieht so aus, als würde der stete Tropfen auch dieses Mal zuverlässig den Stein höhlen. Diese Lektion scheint die gegenwärtige grüne Mehrheit samt ihren Spitzenkandidaten getreulich zu beherzigen.
Das ist das Spielfeld, auf dem der Bundestagswahlkampf gegenwärtig ausgetragen wird, und das ist der Preis, um den es geht. Dazu quer stehen Person und Programm des sozialdemokratischen Spitzenkandidaten. Insofern geht es bei der Bundestagswahl tatsächlich um eine Richtungsentscheidung. Der Tag war abzusehen, an dem der anfänglich halb spielerisch überzogene Schulz-Hype mitsamt seiner erstaunlichen medialen Wirkung gebremst würde. Nun ist das Pendel aus der Phase der Übertreibung zurückgeschnellt und die Massenmedien haben früh und eifrig begonnen, das Sterbeglöckchen für den Kandidaten und seine Partei zu läuten, nicht selten mit einer guten Portion Häme. Nun müssen beide wieder wie gewohnt gegen erheblichen medialen Gegenwind ankämpfen, natürlich mit besserer Ausrüstung als zu Beginn, denn jetzt verfügen sie über ein solides Programm, das ihre begeisternde Einstandsforderung nach mehr Gerechtigkeit in den wichtigsten Punkten glaubwürdig einlöst und mit den beiden zusätzlichen Richtwerten Zukunftsinvestitionen und Europa die fällige Ergänzung nachliefert. Diese Botschaft wird nun auf vielen Kanälen in die Gesellschaft gelangen. Und, was dabei genauso wichtig ist, dieser Kandidat verficht nicht nur das Gerechtigkeitsprogramm seiner Partei, er verkörpert es auch glaubhaft.
Selbstverständlich und gut ist es natürlich, dass der Kandidat samt allem, was er programmatisch präsentiert, von seinen journalistischen Beobachtern sorgfältig unter die Lupe genommen wird. Darin besteht der unverzichtbare Dienst an der Demokratie, den der Qualitätsjournalismus der Gesellschaft leistet. Dabei wird sich mehr und mehr zeigen, dass sich die gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Martin Schulz keineswegs in einem nebulösen Gerechtigkeitstraum erschöpfen. Schon vor Jahren hatte er beispielweise beachtliche Ideen für die soziale Gestaltung der digitalen Revolution vorgelegt und keinen Zweifel gelassen, dass sie für ihn ein gesellschaftspolitisches Zentralprojekt darstellt, vergleichbar nur der Jahrhundertaufgabe Sozialstaat als Antwort auf die industrielle Revolution. Da war noch kein Wahlkampf und das Thema gehörte nicht zu seiner tagespolitischen Amtsroutine. Zum sowohl wirtschafts- wie gesellschaftspolitisch wirksamen Zukunftsentwurf des Kandidaten gehört ein umfassendes Investitionsprogramm, mit dem unter anderem der maroden Infrastruktur des Landes – nicht nur den Schuldächern, durch die der Regen dringt – auf den Leib gerückt werden soll. Ohne Zweifel viel wichtiger, zukunftsträchtiger und viel produktiver als pauschale Steuersenkungen, die am Ende doch nur wieder die Ungleichheit vermehren.
Gerechtigkeit, Zukunft, Europa
Der auf den Einstiegshype folgende Strategiefehler übermäßiger Zurückhaltung ist mittlerweile höchst respektabel wettgemacht: etwa mit den Plänen zur Renten- und Steuerpolitik, zur Bildungspolitik, zur politischen Gestaltung der digitalen Revolution. Die SPD präsentiert sich wieder als realistische, aber prinzipienorientierte Reformpartei des Ausgleichs und Augenmaßes zwischen linkspopulistischen Versprechungen und arroganter Verwaltung der bestehenden Verhältnisse und der Macht. Besonders in der Renten- und Steuerpolitik wurden präzise durchgerechnete und gegenfinanzierte Konzepte vorgelegt, die soziale Verschlechterungen abwehren (wie die weitere Erhöhung des Renteneintrittsalters, worauf es bei der Expertenkommission der Union nach der Wahl herauslaufen dürfte), die Verteilungsgerechtigkeit neu buchstabieren (wie die später einsetzende und reduzierte Belastung kleiner und mittlerer Einkommen, wie die Reichen- und Erbschaftsteuer) und die der Verarmung entgegenwirken (wie die Entlastung der Geringverdiener bei den Sozialbeiträgen und die Solidarrente).
All diese Projekte, wie auch die paritätische Bürgerversicherung für alle, eine Mietpreisbremse, die endlich wirkt, eine von der Kita über die Ausbildung und das Erststudium bis zum Master und zur Meisterprüfung gebührenfreie Bildung oder das neue Arbeitslosengeld Q, mit dem man sich auf den Weg macht, aus der Arbeitslosenversicherung eine qualifizierende Arbeitsversicherung zu entwickeln, sind solide Bausteine für eine Gesellschaft mit deutlich weniger Ungleichheit, mehr sozialer Teilhabe und der Gewährleistung von Sicherheit und Freiheit. Gewiss, viele hätten sich an einigen Stellen noch mehr gewünscht, etwa bei der Vermögensteuer, aber das Vorgelegte beschreibt viele einander ergänzende Schritte in die richtige Richtung. Kaum vorzustellen, dass der Hauptrivale CDU/CSU sich auf diesem zentralen Feld zu wirksamen Gegenstrategien durchringen kann.
Zur sozialdemokratischen Trias, für die Schulz steht, gehört neben der Gerechtigkeitspolitik und dem Thema Zukunft natürlich vor allem auch Europa. Wer wollte diesem Kandidaten, was Kompetenz, Erfahrung und Glaubwürdigkeit betrifft, da den Rang ablaufen. Er weiß wie kaum ein Zweiter, dass ein Kernstück der überall eingeforderten neuen Erzählung zur Belebung des unvollendeten Einigungswerks in der überzeugenden Begründung der teils vernachlässigten, teils aktiv verdrängten Wahrheit bestehen muss, dass keines der Mitgliedsländer der Union auf Dauer prosperieren kann, wenn es nicht allen gut geht. Und dass Investitionen in einen allen zugutekommenden Wohlstand, vor allem auch in die soziale Sicherheit und Teilhabe, schon mittelfristig Investitionen in die Sicherung des eigenen Wohlstands sind. Eine Lektion, die Deutschland noch lernen muss. Das wissen, über das hinaus, was in Programmen steht, wenige besser als dieser sozialdemokratische Kanzlerkandidat. Mit dem Tandem Angela Merkel/Wolfgang Schäuble kaum vorstellbar.
Nun wird immer wieder behauptet, auf all das käme es gar nicht an, denn alle Kritik und alle großen Entwürfe würden an der Kanzlerin abprallen, weil jeder wüsste, dass auf sie einfach Verlass sei. Angesichts der wiederholten abrupten Wendemanöver, in U-Kurven weg von dem, wofür sie gewählt worden war (voran beim Atomausstieg und in der Flüchtlingspolitik), gehört eine solche Zuschreibung eindeutig in den Bereich der wirklichen »Fake News«. Es ist nur zu hoffen, dass dem deutschen Journalismus zur Arroganz einer autokratischen Geste der Kanzlerin wie jener am Ende des letzten Wahlkampfes – »Sie kennen mich« –, diesmal ein paar kritische Nachfragen einfallen, statt der »Heldin« abermals bloß bewundernd zu Füßen zu liegen.
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