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Internationale Zusammenarbeit nach dem Machtwechsel in Afghanistan Eine Chance zur Klärung

Als am 15. August die Taliban faktisch kampflos in der afghanischen Hauptstadt Kabul einrückten, räumten auch viele Afghanistan-Experten ein, dass sie von der schnellen Machtübernahme ziemlich überrascht waren. Die Entwicklung im Land seit dem Abschluss der Abzugsvereinbarung zwischen der Trump-Administration und den Taliban unterstreicht in gewisser Weise eindrucksvoll, wie schwierig konkrete Prognosen sind, wenn sie sich mit der Wirkmächtigkeit einer neuen Staatlichkeit, dem Aufbau von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und staatlichen Strukturen beschäftigen. Das Fazit des amtierenden US-Präsidenten Joe Biden anlässlich seiner Rede am 30. August 2021 in Washington D.C. ist in diesem Kontext präzise: Er will mit dem Abzug den Fehler korrigieren, mithilfe größerer Militäreinsätze andere Länder zu ändern.

Insofern kann es zu diesem frühen Zeitpunkt kaum darum gehen, bereits umfassende Lehren aus dem Einsatz in Afghanistan mit Blick auf andere Länder zu ziehen oder gar generell Ziele und Instrumente der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit einem vergleichenden Blick auf Afghanistan zu bewerten. Gerade Afghanistan lehrt uns zuallererst: Es geht immer um einen spezifischen Kontext, mit spezifischen Akteuren und spezifischen Herausforderungen. Es geht zuvorderst um Afghanistan und seine Geschichte, seine internationalen Verflechtungen, seine ethnischen Gruppen und Landesgrenzen, seinen Glauben und seine Schicksale in all ihrer Vielschichtigkeit und ihren Erfordernissen.

Herausfordernd wirkt sich zudem der Umstand aus, dass der militärische Einsatz in den letzten 20 Jahren auf der Grundlage eines NATO-Mandats basierte. Die Herausforderungen und Konsequenzen dieses Umstands lassen sich schon allein deshalb nur sehr begrenzt auf andere fragile Staaten und Regionen übertragen. Doch aus diesem Grund dominieren sicherheitspolitische Fragen die öffentliche Diskussion. Das ist verständlich, vielleicht sogar notwendig, aber eben auch nicht hinreichend. Gerade bei der Wirkmächtigkeit lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Selbst wenn andere Fragen die Nachrichtenlage derzeit bestimmen.

In Afghanistan hat die Entwicklungszusammenarbeit gemeinsam mit vielen engagierten Afghaninnen und Afghanen in den letzten 20 Jahren dazu beigetragen, dass die Lebensgrundlagen der Menschen an vielen Stellen verändert und verbessert wurden. Die Gesellschaft von heute ist nicht mehr dieselbe wie damals.

Die gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Entwicklung stand in den letzten Jahren im Zentrum der Zusammenarbeit Deutschlands mit Afghanistan. Nichtregierungsorganisationen, die KfW Entwicklungsbank und die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) haben im Auftrag der Bundesregierung bis zuletzt gewirkt. Gerade die sogenannte technische Zusammenarbeit der GIZ war für Schwerpunkte wie »Gute Regierungsführung«, »Nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigungsförderung«, »Stadtentwicklung und kommunale Infrastruktur« sowie »Soziale Entwicklung« (z. B. Grundbildung) verantwortlich und hat in diesem Kontext gemeinsam mit afghanischen Partnern Veränderungen herbeigeführt.

Entwicklungszusammenarbeit wirkt

Was hat gewirkt? Die Wirksamkeit dieser Ansätze zeigt sich bei Projekten auf lokaler Ebene, also eingebettet in Städten und Gemeinden und mit einem unmittelbaren, greifbaren Nutzen für die Menschen vor Ort. Hierbei konnten deutliche Fortschritte in den Bereichen Bildung und Verbesserung der Lebensgrundlagen verzeichnet werden.

Ohne Bildung keine Entwicklung. Eine qualifizierte Grundbildung sowie eine praxisnahe berufliche Bildung sollten den Menschen bessere Möglichkeiten eröffnen, ihr Leben zu gestalten. Die Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern war und ist deshalb eine wichtige Aufgabe der GIZ. Grundschulen, weiterführende Schulen, berufsbildende Schulen und Universitäten wurden saniert oder gebaut. Rund drei Millionen Schülerinnen und Schüler konnten dadurch von einer verbesserten Schulbildung profitieren. Dabei hat die GIZ – im Bereich berufliche Bildung – auf bestehenden funktionierenden Strukturen wie der traditionellen Lehrlingsausbildung aufgebaut und diese weiterentwickelt.

Mit Unterstützung der GIZ wurden zudem 29 Krankenhäuser und Gesundheitszentren saniert beziehungsweise gebaut, die mehr als eine Million Menschen in den umliegenden Regionen medizinisch versorgen. Mit Blick auf die gesamte deutsche Entwicklungszusammenarbeit sind die Fortschritte noch deutlicher: Insgesamt erhielten 87 % der Menschen einen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen (2001: 8 %). Die Müttersterblichkeit wurde auf ein Drittel gesenkt (396 statt 1.050 Fälle pro 100.000 Lebendgeburten in 2001). 70.000 neue Trinkwasser-Haushaltsanschlüsse konnten gelegt werden und durch den Aufbau der Stromversorgung wurden mehr als eine Million Menschen mit Energie versorgt.

Diese Ausschnitte zeigen: Entwicklungszusammenarbeit wirkt und macht einen Unterschied, auch in fragilen Kontexten. Und das gilt auch und gerade für Afghanistan. Dabei ist sehr beeindruckend, mit welcher Klarheit und Standfestigkeit afghanische Partnerinnen und Partner der verschiedenen Projekte aufgetreten sind und sich für eine fortschrittliche Entwicklung persönlich eingesetzt haben – und das, obwohl die Sicherheitslage und die Unsicherheit vor dem, was die Zukunft bringen mag, als Belastung bei diesen Menschen durchaus spürbar waren.

Konzept der vernetzten Sicherheit

Ohne Bildung keine Entwicklung. Was für die Bildung gilt, gilt ebenso für die Sicherheit. Denn ohne ein Mindestmaß an Sicherheit ist Entwicklung nicht möglich. Das Zusammenwirken von Sicherheit und Entwicklung spielt in allen Entwicklungskontexten eine bedeutende Rolle, in fragilen Kontexten wird sie elementar. Sicherheit in diesem Sinne muss umfassender verstanden werden. Eine Beschränkung auf die militärische Perspektive führt zu Fehlschlüssen.

In Afghanistan fand Entwicklungszusammenarbeit frühzeitig gemäß dem Konzept der vernetzten Sicherheit statt. Dieses sieht von der Grundidee eine Verzahnung von militärischem und zivilen Engagement vor, in Kombination mit einer vertrauensvollen Abstimmung und Zusammenarbeit aller Akteure. Für ein solches Konzept ist es zentral, dass die involvierten Akteure sich über ihre außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Ziele klar sind und diese wirklich gut verzahnt sind. Die Diskussion in Fachkreisen nimmt Fahrt auf, inwieweit das im Kontext Afghanistan der internationalen Gemeinschaft gemeinsam mit den afghanischen Partnern wirklich gelungen ist.

Die GIZ hat bis zuletzt unter sehr schwierigen Sicherheitsbedingungen in Afghanistan gearbeitet. Ein etabliertes Sicherheitsrisikomanagement kombiniert mit Ansätzen der Fernsteuerung und hohem Engagement der lokal angestellten Mitarbeitenden haben es ermöglicht, dass Projektaktivitäten nahezu durchgehend umgesetzt wurden.

Das Wirken der Ortskräfte für viele internationale Akteure, aber auch Militärs und Sicherheitsinstitutionen war konstitutiv für das Gelingen all dieser Implementierungsansätze. Genau dies hat übrigens erheblich dazu beigetragen, dass Deutschland und die Staatengemeinschaft die Evakuierung dieser Mitarbeitenden beschlossen hat.

Den bereits in den letzten Wochen über die Luftbrücke Evakuierten werden voraussichtlich viele weitere Menschen folgen. Über den Landweg und nun auch wieder über den Luftweg, mit Linienflügen. Es sind (hoch-)qualifizierte Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, sich auskennen mit digitalen Techniken und zum Teil Kontakte in alle Welt haben. IT-Fachleute, Ingenieure, Pflegepersonal und Lehrkräfte. Es sind Menschen, mit denen sich eine Staatlichkeit in Afghanistan aufbauen ließe – Köpfe und Talente, die dem Land künftig fehlen werden.

Diese Fluchtbewegungen werden, sofern sie in dem derzeit geschätzten Maße stattfinden werden, wahrscheinlich einen lange fortwirkenden Fachkräftemangel in Afghanistan nach sich ziehen. Gleichzeitig vermindern sich damit die Chancen eines zivilgesellschaftlichen Engagements, seiner gesellschaftlichen Wirkung und auf positiv-gestalterische Veränderungen für das Land und eine gute Regierungsführung nochmal mehr. Mit dieser Abwanderung muss sich die Internationale Gemeinschaft im speziellen Kontext Afghanistans nicht alleine beschäftigen, sondern auch mit den Folgen eines solchen Verfahrens für die Erwartungshaltung anderer Länder mit fragilen Kontexten.

Kooperation oder nicht?

Wie soll es nun im Speziellen mit der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan weitergehen? Isolation der neuen afghanischen Regierung und Einstellung der Hilfen für das Land – mit den möglichen Folgen einer humanitären Katastrophe? Kooperation mit den Taliban und falls ja, unter welchen Rahmenbedingungen oder roten Linien? Zwischen diesen beiden Polen wird sich die Debatte auch für die Bundesregierung in den kommenden Wochen bewegen (müssen).

Die ersten Signale der Taliban bei der Bildung einer Übergangsregierung machen es noch schwerer als es ohnehin ist. Diese Übergangsregierung besteht vornehmlich aus Hardlinern inklusive international gesuchten Terrorverdächtigen; bei der Beteiligung von Frauen und ethnischen Minderheiten: Fehlanzeige. Die Regierung besteht allein aus Taliban. Prognosen, dass die »neuen« Taliban 20 Jahre jünger sind und durch die Globalisierung und Digitalisierung ihre Sichtweise verändert haben, sind angesichts der Entscheidung Frauen und Mädchen aus weiterführenden Schulen auszuschließen wenig überzeugend. Die Taliban sind dabei, das öffentliche Leben immer stärker zu kontrollieren und zu beschränken. Die Liste der Bedingungen der EU-Außenminister für eine Zusammenarbeit liest sich dazu wie das Programm einer Gegenregierung.

Die wirtschaftliche und soziale Lage des Landes versetzt die Europäische Union in erhöhte Alarmbereitschaft. Sie will in jedem Fall eine Wiederholung der Flüchtlingskrise aus dem Jahr 2015 verhindern und gleichzeitig sicherheitspolitische Interessen wie Terrorbekämpfung und Bekämpfung des Drogenhandels durchsetzen.

Gleichzeitig steht Afghanistan kurz vor einer humanitären Katastrophe. Dürren herrschen schon seit Längerem, hinzu kommen die Auswirkungen der Coronapandemie. Zusätzlich hängt der Staatshaushalt Afghanistans vor allem am Tropf der internationalen Gemeinschaft. Verschärft wird die Lage dadurch, dass die finanzielle Unterstützung aus der Diaspora derzeit aufgrund des zusammengebrochenen Bankensystems nicht mehr sicher fließt. Im Jahr 2020 machten diese sogenannten Rücküberweisungen der Weltbank zufolge 789 Millionen Dollar aus; das entspricht in etwa 4 % der Wirtschaftsleistung des Landes. Hilfsorganisationen sind alarmiert und warnen eindringlich davor, dass bereits jede*r Dritte in Afghanistan unter Hunger leidet und sich die Lage weiter verschärft. Erste Regionen unter Taliban-Führung haben Deutschland bereits um humanitäre Hilfe gebeten. Eine humanitäre Katastrophe wäre auch eine Herausforderung für die neuen Machthaber, deshalb suchen sie Kooperation.

Die Prognose scheint klar: Die internationale Staatengemeinschaft wird Gespräche mit den Taliban führen (müssen), nicht zuletzt auch wegen der moralischen Verantwortung gegenüber den ca. 38 Millionen Menschen in Afghanistan, die sich nicht den 200.000 Taliban zugehörig fühlen.

Auf der nationalen Geberkonferenz in Genf Anfang September hat der deutsche Außenminister Heiko Maas bereits angekündigt, dass Afghanistan Nothilfe erhalten wird. Dabei müssten, so die Forderung, die Taliban das Wohlergehen und die Sicherheit der Hilfsorganisationen und deren Beschäftigten gewährleisten. Weitere Hilfen wurden in Aussicht gestellt, sollten die Taliban ihre Zusagen für Sicherheit und weitere Bedingungen einhalten.

Nach dem Ende des Einsatzes in Afghanistan ist vor dem Einsatz in Afghanistan – eine Chance für alle Akteure, Klarheit über Zielsetzungen, Rahmenbedingungen, Wirkungen und Grenzen zu gewinnen.

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