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Hedwig Richters Demokratiegeschichte Eine deutsche Affäre?

Es kommt selten vor, dass ein Buch eines Historikers bzw. einer Historikerin, sofern es nicht vom Nationalsozialismus handelt, große öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt. Das ist indessen Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München, mit ihrem 2020 erschienenen preisgekrönten Band Demokratie. Eine deutsche Affäre gelungen. Eine Art Debatte entzündete sich daran wohl auch nicht zuletzt deshalb, weil sich 2021 die Gründung des 2. Kaiserreiches, des ersten deutschen Nationalstaats, zum 150. Mal jährt, anlässlich dessen auch einige andere Historiker gehoben-populäre Darstellungen vorlegten, so Eckart Conze und Christoph Nonn. Insofern waren Anja Kruke und Philipp Kufferath von der um das Archiv der sozialen Demokratie gebildeten Geschichtsabteilung der Friedrich-Ebert-Stiftung up to date, als sie im Rahmen ihrer gelungenen digitalen Fachtagung »Kohäsionskräfte der deutschen Sozialdemokratie vor 1914« Hedwig Richter dazu einluden, das einleitende Referat zu halten.

Vergleicht man die im engeren Sinn sachlichen, analytisch-geschichtswissenschaftlichen Aussagen aller neueren Gesamtdarstellungen zum Kaiserreich, dann fällt gegenüber den seinerzeit heftigen Auseinandersetzungen um Hans-Ulrich Wehlers Kaiserreich-Buch von 1973 und Thomas Nipperdeys voluminösen Zweibänder von 1990/92 auf, dass die Differenzen im Fach eigentlich viel kleiner geworden sind: Die ursprüngliche These vom »deutschen Sonderweg« in der neuzeitlichen Geschichte spielt schon lange keine Rolle mehr. Auch frühere Vertreter wie Wehler haben sie aufgrund der empirischen Forschung so weit relativiert, dass davon im ursprünglichen Sinne eigentlich keine Rede mehr sein kann. Dass das Deutsche Reich um 1900 trotz seiner feudalen Überhänge eine wirtschaftlich äußerst dynamische, moderne industriekapitalistische Gesellschaft barg, dabei ein Rechts- und Verfassungsstaat von hohem Rang war, wird kaum noch geleugnet. Auf die Sonderwegsthese weiter einzuprügeln, ist wenig ergiebig. Andererseits stehen auch diejenigen, denen man einen apologetischen Blick auf die bismarcksche und wilhelminische Zeit nachsagt, in aller Regel dem Kaiserreich nicht einfach unkritisch gegenüber: Die repressiven und autoritären Aspekte werden nicht übersehen, allerdings im europäisch-nordatlantischen Vergleich nicht nur realistisch relativiert, sondern manchmal auch gravierend unterschätzt. Übereinstimmung herrscht, wenn ich das richtig sehe, zudem auch darüber, dass der Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus/Faschismus weder zwangsläufig war noch zufällig zustande kam.

In der politischen Pädagogik dominiert immer noch die Vorstellung, erst die amerikanischen GIs hätten 1945 den (West-)Deutschen die Demokratie gebracht. Davor hätten Fürstenmacht und autoritäre Fixierung die tumben Teutonen jahrhundertelang im Griff gehalten; Aufbrüche zur Freiheit seien stets gescheitert. Was die positive Würdigung der freiheitlichen Traditionen Deutschlands betrifft, scheint immerhin eine Umorientierung in Gange zu sein, einschließlich eines positiveren Bezugs auf die Weimarer Republik, die lange eher als Übergangsphase zwischen Kaiserreich und »Drittem Reich«, letztlich zum Untergang verurteilt, angesehen worden ist.

Weil die Demokratie-Erzählung von Hedwig Richter die hier angedeutete und dabei grob vereinfachte Misere-Konzeption der deutschen Geschichte durch eine andere, optimistische ersetzt, wird ihr Buch vom Publikum als befreiend empfunden. Qualifiziert hat sie sich durch eine die USA und Preußen im 19. Jahrhundert vergleichende wahlhistorische Untersuchung, die namentlich auch die Wahlpraxis in den Blick nimmt. Aus der Fachwelt kamen in Reaktion auf das Demokratie-Buch einige, in zwei Fällen (von Christian Jansen auf hsozkult.de sowie Andreas Wirsching auf sehepunkte.de) extrem negative Rezensionen. Nicht wenig an der dort geäußerten Kritik, auch auf der handwerklichen Ebene, ist berechtigt; sie wirkt aber in der Massivität stark überzogen und in der Absicht, die Person zu treffen, unangemessen.

Es geht im Folgenden nicht darum, den genannten Besprechungen (es gibt auch anders gerichtete) eine weitere dieser Art hinzuzufügen. Am Anfang steht deshalb die Anerkennung. Wohl aber soll deutlich gemacht werden, wo in der Sichtweise von Hedwig Richters Gesamtschau konzeptionell relevante Blindstellen und unterbelichtete Aspekte zu finden sind.

Hedwig Richter wagt etwas: Sie zeichnet die langen Linien der Demokratieentwicklung in Deutschland als einen eben nicht vorwiegend von außen – durch Nachahmung, Kriegsniederlagen und ausländische Intervention – hervorgebrachten Strang nationaler Geschichte nach und hebt darauf ab, wie sich über die vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte trotz retardierender Strukturen und Einstellungen der Fortschritt (ein Sinn der »westlich« verstandenen liberalen, rechtsstaatlich eingehegten Demokratie) langfristig durchsetzte. Das geschieht mit ständigem, allerdings unsystematisch, vergleichenden Blick auf das europäische und nordamerikanische Ausland. Der nationalsozialistische Totalitarismus habe diesen Weg aufhalten und seine Richtung zwischenzeitlich umdrehen, aber nicht dauerhaft umleiten können.

In einer oft eher assoziativen Gedankenführung leitet sie die Öffnung für die der Demokratie zugrunde liegende Vorstellung von der wesentlichen Gleichheit der Menschen von körper- und gefühlsgeschichtlichen Veränderungen im Zeitalter der Aufklärung ab, als sich der Respekt vor der Integrität des Körpers – sich niederschlagend etwa im frühen Verbot der Folter in Preußen durch Friedrich den Großen 1740 – durchzusetzen begann. Dass zudem die Herausbildung des Verfassungsstaates, insbesondere des demokratischen Verfassungsstaates, unauflöslich mit der Formierung von modernen Nationen konnotiert ist, ist für Historiker eine Binsenweisheit. Da aber dieses Verhältnis von Anfang an alles andere als unproblematisch ist und da der Nationalgedanke selbst dem gebildeten Publikum meist nur noch in seiner emanzipationsfeindlichen Variante bzw. Stufe in Umrissen bekannt ist, ist es berechtigt, diesen Zusammenhang zu betonen, auch dass die damit verbundene Problematik nicht allein Deutschland betraf. Auch die Benennung eines gewissen Wohlstandsniveaus und die Betonung der Bedeutung der Entwicklung des Sozialstaats für die feste Etablierung konstitutioneller Demokratien (jedenfalls in Europa) erfolgt völlig zu Recht.

Ein durchgehender, leitender Gesichtspunkt ist die Emanzipation der Frauen und die Frauenbewegung, deren Bedeutung insbesondere für die Zeit der europäischen Revolutionen 1848/49 und für die »Reformzeit« um 1900 verdeutlicht wird. Die Autorin stellt die eingeschränkte freie Verfügung von Frauen über ihren Körper und begrenzte Freizügigkeit in Beziehung zu einer Gesellschaft dar, die auf Privateigentum beruhte und die Gewährung auch von politischen Rechten ursprünglich daraus ableitete. Ebenso wie bei der Demokratisierung hebt Hedwig Richter im Hinblick auf die Überwindung der Genderungerechtigkeit auf die langen Linien der Entwicklung ab, wobei sie plausiblerweise auch ideologisch konservative Aktivitäten, wenngleich bei diesen nicht beabsichtigt, als Teil der realen Bewegung einbezieht. Man erfährt über das Wirken bekannter und weniger bekannter Parlamentarierinnen der Weimarer Republik Etliches, was man nicht überall nachlesen kann.

Wer ein Buch dieser Art schreibt, geht ein höheres Risiko ein als beim Verfassen einer (sofern ordentlich erarbeiteten) thematisch eingegrenzten Untersuchung, weil er oder sie naturgemäß stärker angreifbar ist: Die Kenntnis des Stoffs und des Forschungsstandes kann, je größer der Darstellungsbereich, nicht gleichermaßen fundiert sein, und die Gefahr, kleinere oder weniger kleinere Fehler zu begehen, wird mit der Darstellungsbreite größer.

Völlig zu Recht weist Hedwig Richter darauf hin, dass ohne das Vorhandensein einer weiter zurückreichenden Rechtsstaats-, konstitutionellen und, wenngleich weniger eindeutig, auch demokratischen Tradition die erfolgreiche Bonner Demokratiegründung der späten 40er Jahre nicht vorstellbar wäre. Die Bundesrepublik wird nicht unkritisch in den Blick genommen; und wesentliche soziale Trends werden wie an anderen Stellen benannt. Doch die heftigen gesellschafts- und deutschlandpolitischen Kontroversen der 40er und 50er Jahre kommen ebenso wenig vor wie der Druck, der seit den späten 70er Jahren vom »neoliberal« entfesselten, globalen Finanzmarktkapitalismus auf die regulierte und sozialstaatlich gezähmte kontinentale Marktwirtschaft, den »Rheinischen Kapitalismus« ausgeübt wird. Damit ist aber bekanntlich auch ein Demokratieproblem verbunden.

Zu begrüßen ist, dass die Autorin plausibel die immer noch weit verbreitete Vorstellung widerlegen kann, es gäbe hierzulande keine relevanten autochthonen Ideen- und Handlungsstränge hin zur Demokratie. Stets hebt sie auf ähnliche, wenn auch nicht identische Entwicklungen in der nordatlantischen Hemisphäre ab; in der Tat lässt der internationale Vergleich manches in einem anderen Licht erscheinen. So gab es beispielsweise in den USA zwar kein Ausnahmegesetz gegen die aufstrebende Sozialdemokratie wie im Deutschen Reich, aber unvergleichlich brutale, nicht selten bewaffnete Einsätze von Polizei, Militär und von den von Fabrikherren gedungenen Privattruppen gegen Arbeitsstreiks.

Zweierlei ist in der europäischen Verfassungsgeschichte verankert: die Demokratisierung des Wahlrechts und die Parlamentarisierung der Regierungsweise, letztere in der Regel zeitlich vorangehend. Im Deutschen Kaiserreich konnten die bestimmenden Kräfte des preußischen Hegemonialstaates bis 1918 indessen den Durchbruch zum Parlamentarismus blockieren, wenngleich es ab 1890 eine Tendenz in diese Richtung gab, und ebenso die substanzielle Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts, das das bei seiner Einführung 1867/71 ungewöhnlich fortschrittliche Reichstagswahlrecht (allgemein und gleich für Männer ab 25) in seinem Effekt gewissermaßen ausbalancierte. Wie diese Hürden ohne massiven Druck von unten – nicht unbedingt durch einen Staatsumsturz – hätten überwunden werden können, ist nicht zu erkennen, und in der Tat waren Wahlrechtsausweitung und Parlamentarisierung in Europa kein selbstläufiger, sondern ein von Massenbewegungen und -streiks zumindest forcierter Prozess.

Die Autorin meint, der Weg zur Demokratie sei in Deutschland wie anderswo hauptsächlich durch Eliten und ihre Reformen von oben gebahnt worden, während sich Revolutionen eher negativ ausgewirkt hätten. (Die von ihr genannten Ausnahmen 1848/49 und 1989/90 machen immerhin einen erheblichen Teil der Geschichte der deutschen Revolutionen aus.) Generell werden die Kategorien »Revolution« und »Reform« von ihr viel zu pauschal und ohne Berücksichtigung ihres komplexen Wechselverhältnisses benutzt, ebenso wie der Begriff »Eliten« im Unterschied zu den breiten Volksschichten. Wichtig ist allerdings der Hinweis im Buch auf die disziplinierende und herrschaftslegitimierende Funktion gerade der frühen Wahlen im 19. Jahrhundert.

Richters Demokratiegeschichte wird von einer teleologischen Perspektive geleitet, in der auch die kapitalistische Produktionsweise nur als Fortschrittsfaktor vorkommt. Dabei war der zweifelsfrei große materielle und kulturelle Fortschritt für die Volksmassen in den sechs Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg (wobei die Wirkung der bismarckschen Sozialpolitik überschätzt wird) von einer klassenmäßigen Polarisierung begleitet, die dem Aufstieg der sozialistischen Arbeiterbewegung zugrunde lag. Nicht zuletzt die nahezu unaufhörlich wachsende Organisations- und Wählerstärke der SPD (fast 35 % der Stimmen bei der Reichstagswahl 1912), der einzigen ohne Einschränkung für Demokratisierung eintretenden Partei, bremste dann die bürgerlichen Mitteparteien dabei, eine Weiterentwicklung der Reichsverfassung in Richtung einer parlamentarischen Monarchie energischer zu betreiben. Womit wir wieder bei der Dialektik wären. Widerstrebende Interessen sozialer Klassen und Schichten, unter denen die dominierenden wesentlich den Staat beeinflussten, tauchen bei Hedwig Richter als treibende Kräfte nicht auf: Es sind bei ihr gute, humane Gedanken und Gefühle, die sich Bahn brechen.

Auf eine etwas überraschende Weise werden auch die faschistischen wie die sowjetkommunistischen Diktaturen in die Erfolgsgeschichte der Weltdemokratie integriert (ohne dass die negative Positionierung der Autorin hier irgendwie zweifelhaft wäre), denn – ein richtiger und wichtiger Gedanke – die modernen Weltanschauungsdiktaturen, die den Demos faktisch entmündigten, mussten sich im Zeitalter der Massenpolitik als eigentliche und artgemäße Volksherrschaft bzw. »Volksdemokratie« pseudoplebiszitär in Abstimmungen legitimieren.

Etwas kümmerlich angesichts des tiefsten Bruchs in der deutschen Demokratiegeschichte ist aber die Passage zur Machtübernahme der NSDAP 1933: »Nicht die Bedingungen des Versailler Friedensvertrags, sondern die Nationalsozialisten und die willigen Deutschen zerstörten die Weimarer Republik.« Der erste Teil des Satzes wäre ganz zutreffend, wenn das Wort »automatisch« ergänzt würde. Viel gravierender ist hier der fehlende Hinweis auf die aktive Rolle großer Teile der »Eliten« bei der systematischen Zerstörung der Republik und bei der Machtübertragung an Adolf Hitler, die zunächst als Koalitionsregierung und Bündnis zustande kam. Im Reichstag war aufgrund der Wahlergebnisse bis März 1933 die NSDAP selbst zusammen mit der Deutschnationalen Volkspartei von einer Mehrheit weit entfernt; sie hatte im November 1932 sogar zwei Millionen Stimmen verloren. Die »willigen Deutschen« wären somit etwas genauer zu benennen.

Hedwig Richter plädiert dafür, mit der »Exotisierung« des Deutschen Kaiserreichs, das erklärtermaßen im Mittelpunkt ihres Interesses steht, Schluss zu machen. Dem kann man nur zustimmen: Heinrich Manns Untertan von 1914 ist eine – vielleicht gelungene – Karikatur, aber eben eine Karikatur, vor allem im Hinblick auf die Stellung des Bürgertums im Reich. Der semiautoritäre, monarchisch-konstitutionelle Staat, Obrigkeitsstaat und Rechtsstaat in einem, bildete die Organisationsform einer spezifischen kapitalistischen Klassengesellschaft mit andauernd starkem Einfluss des in den Spitzen immer noch aristokratischen Großgrundbesitzes, wie er sich in jeweils besonderer Weise auch für andere vergleichbare Länder der Periode aufzeigen lässt. Dass die Zeitströmungen der europäischen Moderne, diverse Reformbewegungen und partizipatorische Strömungen, nicht zuletzt die Sozialdemokratie, sich in diesem Gehäuse entfalten konnten wie in den liberaleren, schon parlamentarisierten Verfassungsstaaten, muss betont werden, aber die verschiedenen sozialen und politischen Kräfte standen nicht im harmonischen, sondern in einem konflikthaften, teilweise antagonistischen Verhältnis zueinander. Dabei ging es nicht allein um Beharrung versus Weiterentwicklung der Herrschafts- und Machtstrukturen. Dynamik entfaltete nicht nur die vor allem von der Arbeiterbewegung vorangetriebene Demokratisierungstendenz, sondern auch der Radikal-Nationalismus einer klein- und mittelbürgerliche Massen erfassenden Neuen Rechten, der schon auf eine plebiszitär abgestützte Diktatur neuen Typs hindeutete. Auch für diese durchaus »moderne« Zeitströmung gab es mehr oder weniger weit gediehene Entsprechungen im europäischen Ausland, was aber kein Grund sein kann, die deutschen Verhältnisse zu harmonisieren.

Hedwig Richter: Demokratie. Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. C.H.Beck, München 2020, 400 S., 26,95 €.

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