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Eine Heldin unserer Zeit

Anfang Oktober dieses Jahres wurde die in Paris lebende Schriftstellerin Anne Weber für ihr Buch »Annette, ein Heldinnenepos« mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Was ist das für ein sonderbares Buch, das, in Versen geschrieben, bei der Lektüre eine geradezu soghafte Wirkung entfaltet? Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus einem Gespräch, das Alexander Solloch, Redakteur bei NDR Kultur, mit Anne Weber geführt hat.

Alexander Solloch: Sie erzählen in Ihrem neuen Buch, das Sie nicht Roman nennen, sondern Epos, die Geschichte der Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir. Sie kämpfte erst in der Résistance, dann für die algerische Befreiungsbewegung gegen die französischen Besatzer. Ganz am Ende erzählen Sie, wie Sie sie kennengelernt haben, davon, wie eine große, ernste Deutsche dieser alten Dame fasziniert dabei zuschaut, wie sie sich an einer Podiumsdiskussion beteiligt und sie im Anschluss beim Abendessen nebeneinandersitzen und ins Gespräch kommen. Im Text ist dann die Rede von einem »coup de foudre« – Liebe auf den ersten Blick. Was ist da genau passiert?

Anne Weber: Es war zunächst einmal einer dieser Momente, in denen man sich ein wenig klein und dumm vorkommt. Ich saß dort und habe – wie man es bei solchen Podiumsdiskussionen manchmal tut – irgendwelchen Quatsch erzählt, zu Dingen, über die ich befragt wurde, über die ich aber wenig Ahnung hatte (lacht). Nun saß da jemand im Publikum, der die Zeit des Nationalsozialismus miterlebt hatte und viel Interessanteres dazu hätte beitragen können als ich. Aber ich war auch von Anfang an von der Person Anne Beaumanoir, von ihrer Erscheinung, ihrer Schönheit, ihrer Art zu sprechen angezogen. Das hat mich regelrecht in den Bann gezogen. Ich erzähle ihr Leben in dem Buch chronologisch von der Geburt an und komme deshalb auch ganz am Ende erst vor. Als ich sie kennengelernt habe, war sie schon weit über 90.

Solloch: Verwenden Sie den Begriff coup de foudre auch, um etwas Distanz zu stiften? Würden Sie zuletzt sagen, »Verliebtheit« sei das richtige Wort?

Weber: Ja, insofern, als »Verliebtheit« auch verwendet werden kann für eine Art Anziehung nicht sexueller Art. Aber es war und bleibt eine starke Anziehung.

Solloch: Wie kamen Sie denn zu dem Gedanken, Sie müssten über sie schreiben? Eine Autobiografie gibt es ja bereits. Man könnte meinen, es sei schon alles erzählt.

Weber: Es war nicht so, dass ich sie kennengelernt habe und mir dachte, diese Geschichte will ich in einem Buch erzählen. Ich wollte zunächst einmal diese Frau kennenlernen und mehr über ihre Geschichte erfahren. Das ist dann auch geschehen. Ich habe sie mehrfach besucht – in Südfrankreich und in der Bretagne, wo sie geboren ist und die Wintermonate verbringt. Sie hat mir dann auch von ihrem eigenen Buch erzählt. Ich fand das Buch gleich hochinteressant, aber es ist die Art Buch, die jemand für seine Kinder und Kindeskinder schreibt. Sie ist ja keine Schriftstellerin, sodass ich dachte: Da ist doch noch Raum für ein anderes Erzählen.

Solloch: Da stellt sich dann die sehr interessante Frage nach der Gestaltung. Wie erzähle ich das? Wenn man das Buch aufschlägt, fällt auf: Die Geschichte ist in Versform verfasst. Welche Gedanken haben zu dieser Entscheidung geführt?

Weber: Die Frage, die ich mir als allererstes gestellt habe, war die: Wie kann ich von einem Menschen erzählen, den es wirklich gibt, der dieses Leben wirklich gelebt hat und noch lebt? Darf ich alles mit dieser Frau machen? Darf ich ihre abenteuerliche Geschichte für meine literarischen Zwecke nutzen? Mir war relativ schnell klar, dass ich das nicht darf und dass ich nicht den klassischen Roman würde schreiben können, in dem man Details hinzufügt und ausmalt, den Protagonisten Worte in den Mund legt, die sie nie gesprochen haben. Mir wäre das anmaßend und auch unredlich erschienen. Es war im Grunde eine Gewissensfrage. Diese ist mit einer literarischen Frage nach der Gestaltung zusammengefallen. Und da ist mir eingefallen, dass es eine uralte literarische Form gibt, in der von jeher wagemutige Taten besungen werden: das Heldenepos. Und da war für mich der Weg frei für mein Heldinnenepos, durch den Rhythmus und durch die Form abzurücken von einer zu realistischen Darstellung.

Solloch: Könnte man sagen, dass diese formale Entscheidung für Sie vielleicht wichtiger war, als sie es am Ende für den Leser ist? Denn der lässt sich so vom Erzählsog davontragen, dass er diese stilistische Besonnenheit relativ schnell vergisst. Er liest es vielleicht gar nicht wie ein Gedicht, sondern wie einen langen Prosatext.

Weber: Ich denke auch, das ist eine lange Erzählung, die aber einen bestimmten Rhythmus hat. Es ist kein festes Versmaß, und es sind natürlich auch keine gereimten Verse, aber beim Schreiben habe ich diesen Rhythmus schon gespürt. Ich weiß nicht, ob der Leser ihn unbedingt spürt. Es sollte etwas sein, was den Leser untergründig trägt und auch mich getragen hat, weiter getragen hat beim Schreiben.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz, Berlin 2020, 208 S., 22 €.

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