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Ein neuer, vollständiger Blick auf den West-Journalismus in der DDR Eine Legende namens Baum

Nach 30 Jahren werden Zeitzeugen wieder wichtig. Menschen, die berichten können, wie es wirklich war – aus ihrer Erinnerung. So ist das inzwischen auch mit der DDR. Diejenigen, die mit wachen Sinnen und erwachsenem Urteilsvermögen miterlebt haben, wie es war in dieser untergegangenen, spießig-repressiven Welt, erzählen heute Geschichten, die sich niemand mehr vorstellen kann, der nicht dabei war.

Ein besonderer unter diesen Zeitzeugen war schon immer Karl-Heinz Baum. Beschrieben hat er die DDR schon damals, als westdeutscher Zeitungskorrespondent der Frankfurter Rundschau. Und wer ihm persönlich begegnet ist, weiß aus seinen bildreichen Erzählungen, dass es Aspekte gab, die in den Zeitungstexten bestenfalls angedeutet waren. Aus Selbstschutz, zum Informantenschutz oder ganz einfach, um auch am nächsten Tag noch Quellen und Zugänge zu haben. Spannende Aspekte: menschliche Seiten abstrakter Themen, Alltagswitz und Alltagsqual, Chuzpe und Zufall, Durchwursteln und – auf Staatsseite – ein manchmal schier unglaubliches Maß an Unfähigkeit.

Jetzt gibt es das alles schwarz auf weiß. Karl-Heinz Baum hat ein Buch zusammengestellt, das auf originelle, lehrreiche und unterhaltsame Weise seine alten Reportagen aus 13 Jahren DDR-Berichterstattung mit aus heutiger Sicht hinzugefügten Ergänzungen und Erläuterungen anreichert. Was man deshalb nun sieht, ist das Gesamtbild eines engagierten, hartnäckigen, umständehalber stets auch subversiven Journalismus in journalismusfeindlichem Umfeld. Ein Panoptikum des Irrealen, aus heutiger Sicht. Damals war es die Realität.

Kein Indianerspiel hat er das Buch genannt. Es ist ein etwas blasser Titel für eine Sammlung von hoher geschichtlicher Erklärkraft. »Katz und Maus« wäre als Titel auch nicht verkehrt gewesen. Denn wer jetzt die alten Zeitungstexte nochmal liest und gleich anschließend – nach Zwischentiteln wie »Hintergrund« oder »Anmerkung« oder »Nachspiel« – immer wieder das, was er damals lieber nicht geschrieben hat, wird doch unwillkürlich an all die vielen Gleichnisse erinnert, in denen wendige Einzelgänger den großen Mächtigen ihre Schnippchen schlagen.

Die wendige Maus namens Baum hat in der Korrespondentenrolle auch deshalb so lange überlebt, weil er mindestens so findig im Austricksen der Katze namens Stasi war wie diese seine Aufpasser beim Beobachten des Lebenskünstlers Baum. Mal kam er schon Stunden vorher, also mitten in der Nacht, an den Ort (Havelberg), wo die offizielle DDR ihn ab morgens um 8 Uhr erwartete, um seine Recherchen zu überwachen. So konnte er sich vorher frei umschauen. Mal hatte er es seiner »Faulheit und einem Quäntchen Glück« zu verdanken, dass er einen spannenden Gesprächspartner traf und ungehindert ankam, nachdem er erst Stunden nach der anbefohlenen Uhrzeit zum Ziel (der Gedenkstätte Buchenwald) aufgebrochen war.

Es gab ein paar eingespielte Tricks gegen die Stasi-Späher. Linksabbiegen zum Beispiel an einer bestimmten Ostberliner Ampel, an der nachfolgende Autos wegen des Gegenverkehrs nicht mehr über die Kreuzung kamen. Manchmal waren es aber auch Zufallstreffer, wie die Beobachtungen am Flughafen Schönefeld zum Thema Flüchtlinge. Die DDR schleuste – gegen Devisen – Menschen über Ostberlin nach Westdeutschland. Baum wollte in Schönefeld eigentlich die Aussteigenden aus einem Flugzeug aus Beirut beobachten, dann kam aber noch eines aus Damaskus und dank eines Schlitzes irgendwo am Airport ließ sich der Umstieg von Flüchtlingen in Stadtbusse Richtung Friedrichstraße beobachten. Diesmal verfolgte dann das Auto mit Baum und einem Journalistenkollegen mühsam einen Stadtbus.

Es war ein durch und durch analoger, ein primär persönlicher Journalismus fast ohne die Chance zur Anwendung irgendeines Hilfsmittels. Nicht einmal das Telefon war ja bei heiklen Themen benutzbar, weil alles abgehört wurde. Persönliche Kontakte zu finden und zu halten, das war das Rezept. Bei Baum waren es vor allem die Kontakte in das kirchennahe Oppositionsmilieu hinein, mit denen er nach und nach selbst sehr nah heranrückte an diesen sonst so verdeckten Teil der DDR-Gesellschaft.

Tarnen und antäuschen war das Handwerkszeug, zudem Schutz für die Gesprächspartner. Und mitunter klingt durch, wie sehr sich selbst die offiziellen bundesdeutschen Repräsentanten in der DDR auf die eine oder andere Beobachtung oder Anregung glaubwürdiger West-Journalisten verließen. Denn die bekamen viel mehr an Alltagsrealität mit als die Diplomaten in ihren abgeschotteten Büros. Journalismus als Informationsquelle: Selbst für Westdeutschland war er das.

Wer diese DDR-Welt (noch einmal) mit all ihren Versteinerungen und Selbstbetrügereien vor sich sehen will, muss diese alten Reportagen samt neuer Einordnung lesen. Das löst ein Fremdheitsgefühl aus, wie es so nur gegenüber untergegangenen Systemen möglich ist, mit denen auch Situationen und Lebensgefühle verschwanden, die in ihnen eine zentrale Rolle spielten.

Man liest es heute mit einem ständigen inneren Kopfschütteln. Wie war so etwas überhaupt möglich? Es ist historisch nicht das erste Mal, dass Nachgeborene etwas ratlos vor dieser Frage stehen – und die meisten der Älteren, die sich seitdem über viele Jahre neu einrichteten, nicht mehr wirklich viel zur Antwort beitragen können. Das hat es wirklich gegeben? Es war sogar einmal die Normalität, vor eigentlich doch noch gar nicht so langer Zeit.

Eine Gehorsamskultur mit skrupellosen Technikern der Repression. Viel Mitläufertum, nicht selten naives, und die träge Routine des Durchwurstelns. Großer Mut bei Einzelnen, die am Leben hielten und neu aufbauten, was man heute Zivilgesellschaft nennt. Immer wieder fatale Alternativen zwischen Bleiben oder vielleicht doch Abhauen-wollen, existenzbedrohende Situationen. Menschliche Grenzerfahrungen, in denen uralte Mechanismen aus vergangenen Unterdrückungsgesellschaften stets wieder auftauchen. Dachte man doch, sie wären überwunden.

Der Autor Baum schreibt sich so in die Rolle einer lebenden Legende. Fremden von der DDR zu erzählen, ist längst sein Lebensthema geworden. Selbst wenn diese Erzählungen – was ihm bewusst ist – immer aus der Perspektive eines Privilegierten kommen. Privater Wohnsitz in Westberlin, ständiges Zutrittsrecht zum Osten, Themenrecherche dort nach vorheriger Anmeldung und – soweit sie es schafften – unter Stasi-Kontrolle.

Man lernt in diesem Fall etwas sehr Grundlegendes über Gratwanderungen im politischen Journalismus: Auf die ganzheitliche Wahrnehmung kommt es an. Auf das Eintauchen in eine Gesellschaft und ihre Wahrnehmungsweisen, damit aber auch ins machtpolitische Magnetfeld, was Haltung erfordert. Themen und Termine sind oft nur der äußere Rahmen, wenn es ums Verstehen geht. Gutes Berichten setzt Verstehen voraus. Und Verstehen lässt sich in keinem Staat der Welt kontrollieren.

Karl-Heinz Baum: Kein Indianerspiel – DDR-Reportagen eines Westjournalisten. Ch. Links, Berlin 2017, 240 S., 15 €.

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