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Eine letzte große Chance für die SPD

1969, also noch bevor die von einem Autorenteam um Dennis L. Meadows verfasste Studie Die Grenzen des Wachstums im Jahre 1972 die westliche Welt in Aufregung versetzte, beschrieb Aurelio Peccei, der Gründer des Club of Rome, in seinem in New York erschienenen Buch The Chasm Ahead unsere Epoche als Umbruchzeit. Was er vor allem meinte, war die einigen von uns damals dämmernde Erkenntnis, dass es auf der begrenzten Erde kein unbegrenztes Wachstum von Produktion und Konsum geben könne. In den 70er Jahren kam es dann zu den ersten zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die ökologische Fragen aufgriffen. Die Konflikte über die Nutzung der Kernenergie eskalierten, um Erhard Eppler und Freimut Duve herum gründete sich die Gruppe der »Grünen in der SPD« und Anfang 1980 trat die Partei Die Grünen auf den Plan. Aber, wie nicht selten in der Geschichte, gab es zunächst kaum ernsthafte Versuche, der neuen Einsicht gemäß die Politik in Deutschland und Europa grundlegend zu verändern, sondern es kam, beschleunigt durch den Zerfall des Sowjetimperiums, zu einem Rückfall in marktradikale Wachstumsträume. Leider auch in der SPD.

Erst heute wächst angesichts der sich unübersehbar nähernden Klimakatastrophe und der zugleich wieder wachsenden sozialen Probleme hier und da in den politischen Parteien und Institutionen sowie unter Wissenschaftlern die Einsicht, dass nach der »großen (sozioökonomischen) Transformation« im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (Karl Polanyi) eine neue große, diesmal sozialökologische Transformation ansteht. Was unter einer solchen zweiten großen Transformation zu verstehen ist und welche zivilgesellschaftlichen Experimente und politischen Initiativen heute in diese Richtung weisen, darüber hat Rolf Reißig im Marburger Schüren Verlag eine informative Studie veröffentlicht. Normalerweise, so Reißig, erfolgt sozialer Wandel »innerhalb gegebener Prozess- und Ordnungsstrukturen, innerhalb des dominierenden Produktions- und Sozialmodells«. Aber in Umbruchzeiten geht es um einen anderen sozialen Wandel, »der auf Umwandlung dieser Prozess- und Ordnungsstrukturen, des dominierenden Produktions- und Sozialmodells, des bislang gängigen Entwicklungs- und Deutungsmusters zielt und Möglichkeiten des Übergangs zu einem neuen Entwicklungspfad, zu einem neuen Produktions- und Sozialmodell eröffnet«.

Was da so alles in unserer Gesellschaft und an anderen Stellen der Welt schon passiert und als Keim eines neuen Produktions- und Sozialmodells fruchtbar werden könnte, hat Julia Fritzsche in ihrem Buch Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung gesammelt. Sie gibt einen Überblick über das bunte Feld zivilgesellschaftlicher Initiativen und sozialer Experimente, die viele Fingerzeige darauf enthalten, wohin es gehen könnte, wenn wir endlich mit dem unvermeidlichen Umbau der Gesellschaft nach den Maßstäben der Nachhaltigkeit, der gleichen Freiheit für alle und des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen auf der einen Erde ernst machen. Das für Sozialdemokraten besonders Interessante ist, das sich unter all den als neu wahrgenommenen Ideen und Sozialexperimenten nicht wenige finden, die aus der Geschichte der eigenen Partei eigentlich bekannt sein sollten, heute aber in der Praxis parlamentarischer und gewerkschaftlicher Arbeit kaum noch eine Rolle spielen.

So gibt es heute überall auf der Welt eine Fülle von neuen Genossenschaften, Kollektiven und Betrieben mit Unternehmensverfassungen, die die Interessen aller Stakeholder berücksichtigen: Es gibt private Unternehmen, die bewusst auf Wachstum verzichten und ihre Überschüsse für soziale und kulturelle Zwecke verwenden; es gibt Initiativen und Vereine, die soziale Arbeit auf der Basis gegenseitiger Hilfe organisieren; es gibt Tauschbörsen, die zu verlängerter Nutzung von Gebrauchsgütern beitragen, und Banken, die sich bei der Kreditvergabe an Nachhaltigkeitszielen orientieren; es gibt Stadtwerke, die ganz auf regenerative Energien und auf Recycling setzen und Kommunen, die schon heute energieautark sind; es gibt europäische Großstädte, die neue Mobilitätskonzepte verwirklichen; es gibt ein Netz »gemeinwirtschaftlicher« Unternehmen und Geldinstitute, die die einschlägigen Erfahrungen der Arbeiterbewegung entsprechend den Bedingungen des 21. Jahrhunderts weiterentwickeln u. v. a. m.

Dialog mit der Zivilgesellschaft

Leider wird das Meiste davon in den Chefetagen der SPD und der Gewerkschaften so gut wie gar nicht wahrgenommen, selbst dann, wenn aus ihren Reihen Mitglieder daran aktiv beteiligt sind. Für eine Partei, die sich ausweislich ihres geltenden Grundsatzprogramms zur »stolzen Tradition des demokratischen Sozialismus« bekennt, müsste eigentlich spätestens nun, da sie verzweifelt um ihr Überleben als Volkspartei ringt, klar sein, dass sie sich so viel Ignoranz nicht länger leisten kann. Sie müsste dringend in den Dialog mit einer Zivilgesellschaft treten, die in mancher Hinsicht die Ziele sozialdemokratischer Politik nachdrücklicher vertritt, als die SPD selbst. Sie müsste sich auch als Interessenvertreterin der Menschen in den zahlreich sich neu bildenden Genossenschaften, landwirtschaftlichen Kooperativen und den vielen anderen Einrichtungen kümmern, die sich den Nachhaltigkeitszielen verschrieben haben. Sie sollte kommunalpolitische Initiativen zur Erlangung von Energieautarkie auch gegen die Interessen der großen Energieversorger unterstützen. Und sie sollte auf der Ebene der Gesetze und Verordnungen alles tun, was die zahlreichen Schritte hin zu einer wirklich nachhaltigen und selbstbestimmten Produktions- und Lebensweise erleichtert. Wenn die SPD jetzt nicht die Zeichen der Zeit erkennt und sich nicht zu einer aktiv gestaltenden sozialökologischen Partei wandelt, die in der Bundesrepublik und in der EU mutig die Weichen für eine nachhaltige Zukunft stellt, könnte sie tatsächlich bedeutungslos werden.

Was hindert die SPD und die Gewerkschaften daran, diesen Weg entschlossen anzutreten? Es ist vor allem die aus dem Nachkriegskompromiss zwischen Kapital und Arbeit erwachsene und lange Zeit erfolgreich praktizierte Strategie, die kapitalistische Erzeugung von Wachstum mit allen Mitteln zu fördern und aus den Wachstumsgewinnen einen möglichst großen Teil für die sozialen und kulturellen Ziele der Sozialdemokratie abzuzweigen. Ohne ständiges Wachstum des Bruttoinlandsproduktes kann sich ein gelernter Sozialdemokrat, kann sich ein Gewerkschafter heute zumeist eine annähernde Vollbeschäftigung und ein relativ hohes Niveau sozialer Sicherheit und damit zugleich Zivilität, Rechtsstaatlichkeit und sozialen Frieden gar nicht mehr vorstellen. Dass dieser als so segensreich angesehene Wachstumsprozess, wenn man seine destruktiven Auswirkungen ehrlich bilanziert, längst zu einem riesigen monetären und menschlichen Zuschussgeschäft geworden ist, dass er unseren Kindern die Zukunft verbaut und den Weltfrieden gefährdet, wird immer noch verdrängt. Aber die drohende Klimakatastrophe lässt keinen Zweifel mehr daran, dass das, was wir immer noch als Gewinn verbuchen, in großen Teilen eine gigantische Zerstörung ist und die verzweifelten Anstrengungen, den sich abzeichnenden Kollaps doch noch abzuwenden, schon bald alle Wachstumsgewinne aufbrauchen werden.

Heißt dies, dass damit die Marktwirtschaft ausgespielt hat und die Modellplatonisten und Planungsenthusiasten nun, 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems, eine überraschende neue Chance bekommen? Reißig, der die DDR am eigenen Leib erfahren hat, warnt vor einer solchen allzu simplen Schlussfolgerung. Die Doppelrolle des Marktes als Instrument einer realistischen Preisbildung und der Rückkopplung von Verbraucherwünschen mit den Produzenten ist für ihn nicht ersetzbar. Was seiner Ansicht nach auf der Tagesordnung der Geschichte steht, ist nicht eine gewaltsame Revolution der Besitz- und Machtverhältnisse mit dem Ziel der Verstaatlichung aller gesellschaftlichen Bereiche, sondern die deutliche Verlagerung der Gewichte innerhalb des »hybriden« Systems, das in Deutschland meist ein wenig zu optimistisch »soziale Marktwirtschaft« genannt wird, zugunsten von gleicher Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Dass das nicht ohne erhebliche Anstrengungen zur Umverteilung von Einkommen, Besitz und Macht erfolgen kann, sollte allerdings klar sein.

Bekenntnis zu den Transformationszielen, Vorrang der Daseinsvorsorge

Für die Sozialdemokratie muss es in dieser Perspektive vor allem um zweierlei gehen: Sie muss sich zum einen klar zu den weitreichenden Transformationszielen bekennen. Dazu gehört, alle Energiedienstleistungen mit regenerierbaren Primärenergien, letztlich mit Sonnenenergie, zu bewerkstelligen; alle verwendeten Stoffe im Sinne einer möglichst emissionsfreien Kreislaufwirtschaft der Wiederverwertung im Techniksystem oder als Nährstoff dem Biosystem zuzuführen; die Energie- und Stoffeffizienz so weit wie möglich zu erhöhen; Schäden nach Möglichkeit vorbeugend zu vermeiden, statt sie nachträglich zu kompensieren; die Rationalisierungsgewinne nicht mehr vorrangig zur ständig beschleunigten Produktinnovation, sondern vor allem zur Schaffung von mehr frei verfügbarer Zeit für alle zu verwenden; die materiellen Güter, die Erwerbsarbeit und die Lebenschancen insgesamt möglichst gleich zu verteilen; den öffentlichen Sektor – den staatlichen und den zivilgesellschaftlichen – zu rehabilitieren und die Bereitstellung öffentlicher Güter und den Zugang zu ihnen zu erleichtern sowie die Arbeitsbedingungen im monetären und im nicht-monetären Sektor kontinuierlich zu verbessern.

Und die SPD sollte zum zweiten der öffentlich (nicht notwendig staatlich!) organisierten Daseinsvorsorge den Vorrang vor dem privaten Konsum einräumen. Denn für die Lebensqualität der großen Mehrheit der Menschen ist die zuverlässige Bereitstellung von Gemeingütern wie frischer Luft, trinkbarem Wasser, Schulen, Kindergärten, Kitas und Sportanlagen, ist eine gute Gesundheitsversorgung, sind leistungsfähige öffentliche Verkehrssysteme in Stadt und Land, ist der möglichst barrierefreie Zugang zu kulturellen Einrichtungen und Naherholungsgebieten wichtiger als immer mehr privater Konsum. Dazu kommt, dass heute ein erheblicher Teil des modernen Konsums auf einer Statuskonkurrenz beruht, bei der die große Mehrheit der Menschen ohnehin nichts zu gewinnen hat, wie der britische Ökonom Fred Hirsch schon in den 70er Jahren in Die sozialen Grenzen des Wachstums nachgewiesen hat. Das gerade unter Sozialdemokraten oft gehörte Argument, das wirtschaftliche Wachstum müsse unter allen Umständen weitergehen, damit die »kleinen Leute« sich auch einmal das gönnen könnten, was heute nur den Reichen zugutekomme, ist auf fatale Weise falsch. Die große Mehrheit kann ihre Lebenssituation in der vermeintlichen Aufholjagd des Statuskonsums gar nicht verbessern, weil mit der »Demokratisierung« des Statuskonsums zugleich die damit verbundenen Gratifikationen verschwinden.

Die große Mehrheit kann nur gewinnen, wenn sie in gemeinsamer – politischer! – Anstrengung ihre Lebens- und Arbeitswelt nach ihren Bedürfnissen gestaltet und dabei die Grenzen respektiert, die uns Menschen als Teil des Naturzusammenhangs gesetzt sind. Eine entsprechende klare Positionierung könnte die SPD wieder zu einer Kraft machen, die Hoffnung weckt – auch und gerade bei der jungen Generation. Und wenn sie dann auch noch dem Beispiel der Bremer Genossen folgt und als Machtoption auf der Bundesebene eine rot-grün-rote Koalition ansteuert, könnte sie schon bald den Beweis antreten, dass ihre Tage allen Unkenrufen zum Trotz noch lang nicht gezählt sind.

Julia Fritzsche: Tiefrot und radikal bunt. Für eine neue linke Erzählung. Nautilus Flugschrift, Hamburg 2019, 192 S., 16 €. – Rolf Reißig: Transformation von Gesellschaften. Eine vergleichende Betrachtung von Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Schüren, Marburg 2019, 240 S., 19,90 €.

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