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Die Bilanz der Rüstungskontrolle ist ernüchternd Eine Menschheitsaufgabe

»Putins nukleare Drohungen zeigen Wirkung.«

Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ist der deutschen Öffentlichkeit eine Gefahr wieder bewusst geworden, die viele – völlig zu Unrecht – einzig mit dem längst zu Ende gegangenen Kalten Krieg verknüpften: die Möglichkeit eines Atomkrieges. Immer wieder droht Russlands Präsident Putin mit dem Einsatz von Kernwaffen, sollte sich der Westen der russischen Aggression in den Weg stellen. Damit verfolgt er drei Ziele: die Verhinderung einer direkten militärischen Intervention der NATO in der Ukraine, die Abschreckung von Unterstützungsleistungen für die Ukraine und die Verängstigung der westlichen Öffentlichkeit. Auch wenn westliche Staaten ihre Waffenlieferungen an die Ukraine schrittweise immer mehr ausweiteten, kann nicht geleugnet werden, dass Putins Drohungen Wirkung zeigen. Der Westen tut nicht alles, was er tun könnte, um die Ukraine zu unterstützen, aus Angst vor einer nuklearen Eskalation.

Eine solche Eskalation zu verhindern ist wichtigstes Ziel der nuklearen Rüstungskontrolle. Während des Kalten Krieges wurden durch Verhandlungen und Verträge, aber auch durch nichtvertragliche Initiativen, die nuklearen Arsenale der USA und der Sowjetunion, später Russlands, eingeschränkt. Die Grundidee war, strategische Stabilität auf einem möglichst niedrigen zahlenmäßigen Niveau herzustellen. Dabei wurden vorzeigbare Erfolge erzielt. Das erfolgreichste Abkommen war der INF-Vertrag von 1987 über das vollständige Verbot amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenwaffen. Zu Beginn der 80er Jahre hatte die Stationierung von Pershing-II-Raketen in der Bundesrepublik noch Hunderttausende auf die Straße gebracht – nun wurden die Mittelstreckenraketen in Ost und West einvernehmlich und unter gegenseitiger Kontrolle zerstört. In Moskau wurden Armbanduhren angeboten, die aus dem Metall der einst bedrohlichen sowjetischen SS-20-Raketen gefertigt waren.

Heute ist der INF-Vertrag Geschichte. Er wurde im Februar 2019 vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump gekündigt. Dies war indes kein Alleingang. Zuvor hatten die NATO-Außenminister unisono festgestellt, dass Russland mit der Stationierung eines neuen Marschflugkörpers gegen den Vertrag verstieß. Die Entwicklung einer solchen neuen russischen Waffe war bereits zu Zeiten der Obama-Administration bekannt geworden. Diese hatte mehrfach versucht, Moskau von der Einstellung des Projektes zu überzeugen – erfolglos.

»Russland hat an Rüstungskontrolle kein Interesse mehr.«

Das Ende des INF-Vertrages illustriert das Kernproblem für die Zukunft der nuklearen Rüstungskontrolle: Russland hat daran kein Interesse mehr. Die Sowjetunion war Anfang der 60er Jahre jedenfalls in Europa zu einer Status-quo-Macht geworden. Moskau war nun an Entspannung interessiert, um das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Erreichte abzusichern. Rüstungskontrolle sah die sowjetische Führung als Teil der Entspannungspolitik sowie als Chance, sich als gleichrangige Supermacht neben den USA zu inszenieren.

Heute strebt Moskau danach, den westlichen Einfluss mit militärischen Mitteln zurückzudrängen. Russland ist zu einer revisionistischen Macht geworden. Nukleare Drohungen spielen eine wichtige Rolle. Dieses Verhalten passt nicht zur Rüstungskontrolle, die nur gelingen kann, wenn die Beteiligten ein Interesse an einem nuklearen Ausgleich haben.

Die Rüstungskontrollarchitektur bröckelt

Von der während des Kalten Krieges errichteten nuklearen Rüstungskontrollarchitektur ist nur noch das »New-START-Abkommen« übriggeblieben. Es begrenzt die stationierten strategischen Kernwaffen Washingtons und Moskaus und läuft im Februar 2026 aus. Eine Verlängerung ist vertraglich nicht vorgesehen. Obgleich Jake Sullivan, nationaler Sicherheitsberater von Präsident Joe Biden, Amerikas Bereitschaft zu Rüstungskontrollverhandlungen ohne Vorbedingungen signalisierte, finden solche nicht statt. Moskau ist nicht interessiert.

Selbst falls sich dies änderte, stünde Rüstungskontrolle vor vielen großen Hürden. China stellt eine neue Herausforderung dar. Es legt seine jahrzehntelang gepflegte nukleare Zurückhaltung derzeit ab und rüstet massiv bei Kernwaffen auf. Zugleich sperrt sich Peking gegen jegliche Beteiligung an der Rüstungskontrolle. Es verweist auf die Verantwortung der USA und Russlands, die momentan noch sehr viel größere nukleare Arsenale ihr Eigen nennen. Zudem sieht die chinesische Führung Rüstungskontrolle als Falle an, die den USA dazu dienen soll, Chinas Aufstieg zu behindern. Transparenz, die im Rahmen von Rüstungskontrolle notwendig ist, ist der kommunistischen Diktatur ferner wesensfremd.

Doch nicht nur die politische Komplexität wächst: Rüstungskontrolle kann heute nicht mehr bilateral amerikanisch-russisch angelegt werden, sondern müsste China einbeziehen. Hinzu kommen technologische Faktoren, die Rüstungskontrolle sehr viel schwieriger machen. Nicht-nukleare Fähigkeiten werden immer bedeutsamer. Für den Einsatz von Nuklearwaffen vorgesehene Kommando- und Kontrollzentralen könnten mittels Cyberangriffen funktionsuntüchtig gemacht werden. Maschinelles Lernen könnte es künftig ermöglichen, mit Atomwaffen bestückte strategische U-Boote in den Weiten der Ozeane aufzuspüren und mit Drohnen zu zerstören. Künftige Rüstungskontrollverhandlungen müssten daher komplexe nicht-nukleare Technologien einbeziehen. Die Überprüfung entsprechender Vereinbarungen wäre schwierig.

»Auch der Nukleare Nichtverbreitungsvertrag befindet sich in einer fundamentalen Krise.«

Wir müssen also einstweilen davon ausgehen, dass der nuklearen Rüstungskontrolle zwischen Großmächten keine große Zukunft beschert ist. Will man auch künftig Atomkriege verhindern, gilt es indes nicht nur, die Arsenale der Atommächte zu begrenzen, sondern die Anzahl derjenigen Staaten, die über solche Waffen verfügen, möglichst klein zu halten. Diesem Ziel dient der 1970 in Kraft getretene Nukleare Nichtverbreitungsvertrag (NVV). Fast alle Staaten gehören diesem Abkommen an. Damit setzt er die zentrale Norm gegen die nukleare Weiterverbreitung.

Frustration der nuklearen Habenichtse

Seit geraumer Zeit befindet sich jedoch auch dieses Vertragsregime in einer fundamentalen Krise. Das hat zum Teil mit der Frustration vieler derjenigen Staaten zu tun, die im Kontext des NVV für immer auf eigene Atomwaffen verzichteten. Sie erwarten von den vom Vertrag als Kernwaffenstaaten anerkannten Mächten USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China massive nukleare Reduzierungen bis hin zu einer vollständigen nuklearen Abrüstung. Stattdessen sehen sie sich mit einer Welt der erneuten Zunahme der Bedeutung von Nuklearwaffen konfrontiert. Ferner existieren außerhalb des NVV vier Atomwaffenbesitzer: Indien, Pakistan und Israel (die dem NVV nie beitraten), sowie Nordkorea (das den NVV kündigte).

Die Frustration der nuklearen Habenichtse wurde mittlerweile kanalisiert, indem sie Verhandlungen über einen neuen Vertrag zum vollständigen Verbot von Atomwaffen initiierten. Dieser Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) trat im Januar 2021 in Kraft. Doch sämtliche Atomwaffenstaaten wie auch diejenigen, die sich auf den Schutz nuklear bewaffneter Alliierter verlassen, darunter auch Deutschland, bleiben diesem Abkommen fern. Hauptgrund: Ein Atomwaffenverbot ist derzeit nicht ausreichend überprüfbar. Zudem spielt die von den Vertragsbefürwortern angestrebte Delegitimierung atomarer Abschreckung den autokratischen Kernwaffenbesitzern Russland und China in die Hände. Dort werden – anders als in Demokratien – öffentliche Debatten über das Für und Wider der eigenen Nuklearbewaffnung gar nicht erst zugelassen. Der AVV wird daher nichts zur nuklearen Abrüstung beitragen.

»Zu befürchten ist, dass der nukleare Klub in den kommenden Jahren größer wird.«

Zu befürchten ist vielmehr, dass der nukleare Klub in den kommenden Jahren größer wird. Dies hätte indes weniger mit enttäuschten Abrüstungserwartungen zu tun, als mit sich ändernden Sicherheitskalkülen. Sollte Iran, das als NVV-Mitglied eigentlich auf Atomwaffen dauerhaft verzichtete, die atomare Schwelle überschreiten, könnte dies andere Staaten in der Region dazu verleiten, ebenfalls Kernwaffen zu entwickeln. Auch könnten Staaten wie Japan oder Südkorea mit eigenen Nuklearwaffen liebäugeln, sollten sie zu dem Ergebnis kommen, dass auf die USA kein Verlass mehr ist. Angesichts von Bedrohungen seitens der Atomwaffenstaaten China, Russland und Nordkorea könnten Tokio und Seoul sich für einen Bruch mit der nuklearen Nichtverbreitungsnorm entscheiden.

Fortschritte bei biologischen und chemischen Waffen?

Angesichts der Krise der Rüstungskontrolle werden wir noch auf sehr lange Zeit mit Atomwaffen leben müssen. Indes gelang es der internationalen Staatengemeinschaft, chemische und biologische Waffen durch entsprechende Vertragsregime, denen sich die allermeisten Staaten anschlossen, vollständig zu verbieten. Doch auch diese Vertragswerke sind krisengeschüttelt. Im Juli 2023 konnte die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OVCW) die Vernichtung der letzten deklarierten Chemiewaffenbestände verkünden.

Dennoch steht das Chemiewaffenverbot vor großen Herausforderungen. Zwar wurden umfassende Inspektionsregime vereinbart, die auch Besuche in der chemischen Industrie zulassen. Auch erwies sich das Vertragsregime als sehr flexibel und robust, als es darum ging, ungeachtet des dortigen Bürgerkriegs Chemiewaffen aus Syrien abzutransportieren und zu vernichten. Aber auch hier ist Russland ein großes Problem. Offensichtlich hat es sein Programm zur Herstellung und womöglich auch Lagerung seines sehr potenten Nowitschok-Kampfstoffes nicht gemeldet.

Währenddessen ist das bereits 1975 in Kraft getretene Biologiewaffenverbot sehr viel schwächer ausgebildet als das C-Waffen-Verbot. Die Sowjetunion war damals nicht zu Inspektionen vor Ort bereit. Bemühungen, Verifikationsmaßnahmen im Rahmen eines Zusatzprotokolls zu vereinbaren, scheiterten. Immerhin soll darüber nun wieder gesprochen werden. Eine Stärkung des Biologie-, aber auch des Chemiewaffenverbots ist angesichts des rasanten wissenschaftlichen Fortschritt in der Tat dringend geboten. Die wissenschaftlichen Disziplinen Chemie und Biologie verschmelzen immer mehr und im Kontext neuer Möglichkeiten des maschinellen Lernens könnten Optionen entstehen, neuartige und wirksamere biologische und chemische Kampfstoffe zu entwickeln.

Die Einhegung der von atomaren, biologischen und chemischen Waffen ausge­henden Gefahren bleibt eine große Menschheitsaufgabe. Die Umsetzung und Stärkung entsprechender Verträge stehen dabei im Zentrum. Angesichts der geo­politischen Großwetterlage und dem unkooperativen Verhalten der revisionistischen Diktaturen Russland und China ist es an den Demokratien dieser Welt, ihr Gewicht in die Waagschale zu werfen.

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