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Zwischenruf zum SPD-Bundesparteitag 2019 Eine neue Etappe

Eine Etappe, an die man sich erinnern wird, war der SPD-Parteitag im Dezember 2019 allemal. Was für eine Art der Erinnerung das sein wird, ist aber noch ganz offen. In den Wissenschaften werden seit einiger Zeit sogenannte »Disruptionen«, scharfe Kontinuitätsbrüche als Fortschrittsindikatoren gefeiert, weil sie immer zum Überdenken des Standes der bisherigen Entwicklung von Grund auf zwingen. Ob diese Vorstellung auch für politische Parteien gilt, ist bezogen auf die SPD nicht ganz so sicher. Eine echte und faire Bilanz der letzten Jahre hat der Parteitag nicht gezogen und das Neue, das geboten wurde, war nicht wirklich umfassend und gilt sowieso erst mal auf Bewährung. Viele fragten sich auch, wieso das alte Personal mit den bekannten Gesichtern und seinen unstrittigen Verdiensten derart komplett »entsorgt« wurde. Immerhin, die neuen Vorsitzenden haben sich solide präsentiert und eine Reihe wegweisender Beschlüsse ermöglicht. Letzteres gilt vorwiegend für die Sozialpolitik, maßgeblich für das von Andrea Nahles auf den Weg gebrachte Projekt Bürgergeld, mit dem nach über einem Jahrzehnt qualvoller Selbstgeißelung der Partei das Thema Hartz IV zu den Akten gelegt werden kann. Nimmt man die richtigen Entscheidungen für die Wiedereinführung der Vermögensteuer, die Kindergrundsicherung und das großangelegte Investitionsprogramm hinzu, ist damit die fällige linke Neuakzentuierung der SPD in einem wichtigen politischen Segment durchaus gelungen.

In seinem gesamten Personaltableau zeichnete sich dieser Parteitag durch eine an Kühnheit grenzende Risikofreude aus. Sie hat, kaum überraschend, bei etlichen Betrachtern die erstaunte Frage aufgeworfen, welche Gedanken das nahezu plötzliche und fast völlige Verschwinden aller Führungspersonen, die bis dahin der deutschen Sozialdemokratie ein vertrautes Gesicht verliehen hatten, beim großen Publikum der Republik auslösen dürfte. Das ist keine Nebensache. Wie in dieser Zeitschrift immer wieder betont wurde, tragen zum Wahlerfolg politischer Parteien ja drei Faktoren etwa im gleichen Maße bei: das Programm (bzw. das, was davon in die Öffentlichkeit nachhaltig durchdringt), ihre repräsentativen Führungspersonen, die als Verkörperung des Programms (im Positiven oder Negativen) wahrgenommen werden, und ihre »Performance«, verstanden als eine Kombination aus ihrer tatsächlichen Leistungsbilanz und deren öffentlicher Darstellung. Die Defizite der SPD, die ihren deprimierenden Abstieg der letzten Jahre verursacht haben, lagen zum geringsten Teil im Bereich der Programmatik, allenfalls an der fehlenden Bereitschaft und Fähigkeit der Spitzenleute, das umfangreiche, überwiegend aktuelle und durchaus konkrete vorliegende Material gekonnt zu nutzen, das in Wahrheit für fast alle Themenbereiche vorliegt und für die wichtigsten von ihnen in vielen Parteikommissionen und der Bundestagsfraktion zeitnah weiterentwickelt wird. Und dass die Führungspersonen – von Sigmar Gabriel über Martin Schulz bis zu Andrea Nahles – zuletzt keine nachhaltig wirksame Strahlkraft entfalten konnten, lag nicht nur an ihnen selbst, sondern oft auch am mangelnden Unterstützungswillen der Partei, von oben bis unten. Vergessen wurde nicht selten, dass sogar einem späteren sozialdemokratischen Leuchtturm wie Willy Brandt erst im dritten Anlauf der entscheidende Wahlerfolg gelang – auf dem einhellig mitschwingenden Resonanzboden einer verlässlichen Partei.

Das größte Defizit der letzten Jahre lag im Bereich der »Performance«, im sachlichen Sinne der mitreißenden Vermittlung erbrachter Leistungen, ebenso wie im personellen Sinn der ansteckenden Verkörperung der sozialdemokratischen Idee und des Willens zu ihrer Verwirklichung – und zwar, was für die nachhaltige öffentliche Wirkung vorausgesetzt ist, auf längerer Strecke. Vielleicht gelingt das dem neuen Führungsteam. Das Kunststück, das sie dafür vollbringen müssen, ist eine überzeugende Synthese (also keine Addition) von sozialem Fortschritt, ökologisch nachhaltiger und auf dieser Basis innovativer Wirtschaftspolitik mit einer überzeugenden Migrations- und Integrationspolitik. Letztere könnte in Verbindung mit der sehr viel stärkeren Betonung der uralten sozialdemokratischen Idee sozialer und wirtschaftlicher Grundrechte neue Überzeugungskraft auf den beiden Feldern der sozial-ökonomischen und der sozial-kulturellen Sicherheit verleihen. Bei beiden handelt es sich ja um die Schlüsselbereiche, in denen die sozialdemokratische Orientierungskraft und Handlungsfähigkeit in einer Zeit der populistischen Versuchung in besonderer Weise herausgefordert ist, weil dort besonders rasch und gründlich Vertrauen verspielt und Wähler verloren gehen können. Hinzukommen sollte noch die Einsicht, dass es nicht die Teilnahme an einer Koalition an sich ist, auch nicht die an einer sogenannten »Großen«, was die Sozialdemokratie Vertrauen und Stimmen kostet, sondern der Verzicht darauf, auf zuträgliche Weise öffentlich bewusst zu halten, was ihre eigenen Ziele und die jetzt möglichen Schritte dorthin sind.

Wenn die neue Führung diese Chance ergreift und die Partei sie dabei loyal und mit dem zu Beginn nötigen Maß an Fehlertoleranz unterstützt, könnte sich dieser Parteitag als eine wichtige Etappe auf dem Weg ihrer Genesung erweisen.

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