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Lehren aus der Europawahl Eine neue Zeit

Manchmal fängt das Dilemma ja schon mit dem Oberbegriff an. War das Ende Mai nun, im besten Sinne des Wortes, erstmals eine echte Europawahl? Eine mit europäischen Themen und europäischer Botschaft? Einige Kommentatoren meinten das, auf den allerersten Blick. Und doch hat schon das genauere Hinsehen wieder die Zweifel verstärkt, weil die Nachbereitung allerorten wieder so unsäglich national beschränkt daher kam, in Politik wie Medien. Und auf EU-Ebene reden im Prozess von Mehrheitsbildung und Personenauswahl die Nationalstaaten nach wie vor viel zu viel mit. Mehr sogar noch, so zeigt es sich inzwischen, als vor fünf Jahren.

Wenn man das Positive herausheben will, lässt sich immerhin aus dem Wahlergebnis selbst ein europäisches Zwischenfazit ziehen: Die Gewichtsverteilung zwischen pro- und antieuropäischen Kräften im neuen Parlament beträgt etwa 85:15 %. Das sollte keine schlechte Basis sein, vom Zerfall der europäischen Idee jedenfalls kann bei dieser Sichtweise nicht die Rede sein. Und: Die Menschen hatten sehr wohl verstanden, dass diese Grundsatzauseinandersetzung über allem stand. Deshalb ja die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung. So gesehen: Grund zur Hoffnung. Nur: Hoffnung auf was? Und wie stark wird dieses Parlament wirklich werden?

Was inzwischen wieder sträflich fehlt, ist die Übersetzung der europäischen Grundbotschaft in reale gemeinsame Politik. Im Europaparlament selbst gibt es da immerhin erste Ansätze. Die Besetzung der Spitzenposten sollte zumindest im Mitte-links-Spektrum diesmal mit politischen Themen verknüpft werden, es sollte erstmals so etwas wie eine inhaltliche Koalitionsbildung werden.

Aber auch einige nationale Regierungschefs, die dazu hätten Bündnispartner sein müssen (vor allem die aus Spanien, Portugal und Frankreich), begannen nach der Wahl ein anderes, eigenes Spiel. Und in den meisten nationalen Öffentlichkeiten – da war Deutschland eher positive Ausnahme – wurde so etwas wie eine neue europäische Ernsthaftigkeit schon gar nicht gespiegelt. Zugegeben: Europäische Koalitionsbildung ist diesmal ungemein kompliziert. Aber diese Vielfalt wollten die Menschen.

Es ist auch und gerade eine inhaltliche Vielfalt. Die seit dem Wahltag verbreitete These zum Abschmelzen der alten Volksparteien, dass man – siehe die Populisten, aber auch die deutschen Grünen – nur mit klaren und einfachen Botschaften durchdringen könne, bleibt sehr oberflächlich. Schon bei der Frage, welche Bedeutung klassische materielle Themen im Vergleich zu stärker wertebasierten, eher postmateriellen überhaupt (noch) haben, wird es kompliziert. Denn ist die gedankliche Trennung materiell/postmateriell nicht auch schon wieder von gestern?

Vieles spricht dafür, dass der Umbruch, den diese Europawahlen belegen, mit solchen klassischen Kategorien kaum mehr zu beschreiben ist. Es gelingt in dieser neuen Zeit ja nicht einmal mehr, mit dem Rechts-links-Schema klare Trends festzumachen, seit die extreme Rechte mit Erfolg linke Gerechtigkeitsthemen ausschlachtet und selbst im linken Parteienspektrum mancherorts in Europa die Angst vor Flüchtlingen bedeutsamer zu sein scheint als die klassischen Fragen sozialer Sicherheit.

Jedenfalls war im Europawahlkampf schon abzulesen, was sich verändert hat: Die gewohnten politischen Ortungs- und Orientierungssysteme funktionieren nicht mehr – und die daraus folgende Diffusion beginnt bei den Medien. Gut gemeinte Europa-Talks erweisen sich ausgerechnet dann als Langweiler, wenn sie sich auf Sachthemen reduzieren und Emotionen aus dem Weg gehen, während im Wahlvolk immer mehr nach Eindruck und Gefühl statt nach Wahlprogramm geurteilt wird.

Moderatoren sind von der komplexen internationalen Dimension der Themen völlig überfordert. Betroffenheitstriefende Publikumssendungen mit den üblichen Bürgerfragen sind so weit weg von den realen europapolitischen Entscheidungsalternativen in den Brüsseler Gremien wie der Mond von der Erde (ohne dass das im Studio jemand merken würde). Der Printjournalismus hechelt nur noch hinter Fernsehen und Internet her, seine meinungsbildende Kraft ist verloren, von Insidergeschichten über das politische Personal einmal abgesehen.

Das sind Symptome für Verwerfungen, die sehr tief gehen und auf der nationalen Politikebene beginnen. Bis hin zu der Frage, welchen aus der Zeit gefallenen Typ Mensch die alten Volksparteien in ihren Führungsgremien hervorbringen und dann den Wählern anbieten: Speziell die deutsche SPD erlebt das immer wieder aufs Neue. Ohne auch nur zu verstehen, wie sie bereits damit – also: mit sich selbst – das Fremdheitserlebnis im Wahlvolk anlegt. Funktionärs- und Apparatsprech punktet nicht mehr. Ferne zur Lebenswelt fällt sofort auf. Es ist das neue Grundproblem professioneller Politik, das sich da spiegelt. Sie verliert ihre Anschlussfähigkeit.

Man kann es etwas abstrakter so ausdrücken, europa- und teils weltweit deutlich sichtbar: Wer als Systempartei erscheint, hat schon verloren, bevor der Wahlkampf überhaupt beginnt. Offenheit und Zugewandtheit, Werteklarheit und dennoch Flexibilität, Lockerheit und Neugierde. All das ist unabdingbar geworden und doch unendlich schwer für Parteien, innerhalb derer permanent reale Macht- und Existenzkämpfe ausgetragen werden, zumal bei schwindender Akzeptanz. Die Hilflosigkeit, mit der CDU und SPD nach der Europawahl in existenzielle Personaldebatten hineinschlitterten, weil innerparteiliche Gruppen sich davon Vorteile versprachen oder sich auch nur an alten Aversionen abarbeiteten, spricht Bände.

Was sich jetzt aber besonders deutlich zeigt: Die bisher praktizierte Art Wahlkampfprofessionalität ist an ihrem Ende angelangt. Seit rund zwei Jahrzehnten galt es als zwingend – und war anfangs auch erfolgreich –, dass im Jahr vor wichtigen Wahlen die Parteikommunikation an Profiagenturen übergeben wird, die dann auf der Basis demoskopischen Abtestens die Wahlkampagnen detailliert planen, Slogans setzen, entlang von Masterplänen die Kampagnen abwickeln. Um den Preis, dass die realen politischen Parteigremien eher zu Anhängseln werden als noch Steuerungszentren zu sein.

Das funktioniert nicht mehr. Es ist viel zu unflexibel, viel zu unauthentisch – und es passt nicht mehr zur digitalen individualisierten Medienwelt, die jetzt erstmals ihre eigene Dynamik und Prägekraft gegen die der eingekauften Wahlkampfagenturen durchsetzte. Die CDU wurde kalt erwischt von einem simplen, politisch und handwerklich wahrlich wenig professionellen YouTube-Video, das dank hoher Klickzahlen schließlich sogar in den klassischen Medien als stimmungsprägend gespiegelt wurde. Die Netzszene zog nach mit einem krachenden Negativ-Wahlaufruf gegen Union und SPD gleichermaßen, was nichts anderes war als die Ansage eines Kulturkampfes. Die beiden alten Parteien waren sprachlos, der Schock sitzt tief.

Nun geht die Entwicklung in der Branche Profikommunikation schon seit einigen Jahren hin zu derartiger Netzpropaganda – via »Influencer«, wie die (häufig gut bezahlten) Internet-Promis mit großer Followergemeinde genannt werden. Ihr Job: Meinungsmache im Direktvertrieb, ohne journalistische Kuratierung. Der Zerfall einer transparenten allgemeinen Öffentlichkeit durch diese Trends im Netz ist offenkundig und jetzt erstmals auch in Europa massiv spürbar. Das berührt die Demokratie und ihre Meinungsbildungsprozesse unmittelbar. Und die digitale Spaltung in der Gesellschaft lässt sich anhand der Wahlergebnisse nachverfolgen.

Ob das nur beängstigend ist oder auch im positiven Sinn herausfordernd, lässt sich noch schwer abschätzen. Kaum vorstellbar, dass sich analoge Parteimenschen in dieser neuen digitalen Meinungswelt überhaupt zielgerichtet und zudem noch einigermaßen inhaltlich abgestimmt bewegen können, von Selbstvermarktung zu Karrierezwecken einmal abgesehen.

Der Trend zum Selbsttwittern, verstanden meist eher als Kommunikation in eine fremde Welt hinein, führt ständig zu politischen Peinlichkeiten. Während die Hybris im Internet weiter wächst, im Bündnis nicht selten sogar mit verunsicherten und deshalb publikumsuchenden alten Medien. Und für viele Jüngere ist das Internet aber längst zur eigenen, regelarmen Welt geworden, die sie im Namen der Meinungsfreiheit unbedingt verteidigen wollen. Dieses Gegeneinander muss dringend aufgelöst werden. Wofür man aber zunächst mal überhaupt Diskursfähigkeit miteinander bräuchte.

Der Zerfall der Kommunikationskraft der Parteien an der Basis hat mit diesem digitalen Spaltungsprozess viel zu tun. Und dieser Trend wird weitergehen, schon weil die Meinungsführer in der digitalen Welt der Jungen inzwischen einen hohen kommunikativen Machtanspruch entwickeln. Nach der alten Methode »Profis einkaufen« wird da für die alten Parteizentralen nicht mehr viel gehen.

Die Verlagerung der Kommunikation, im ersten Schritt von der persönlichen Begegnung hin zu PR-gesteuerten Medienwahlkämpfen und in einem zweiten Schritt nun vor dort ins unüberschaubare Internet, verändert Schritt für Schritt auch die Tonlage. Negativwerbung wie die der YouTuber hat es in Verantwortung von Parteien bislang so offen nicht gegeben. Die destabilisierende Auswirkung dieses Publizitätserfolgs wird immens sein.

Insgesamt ist aber auch die Tonlage schärfer, aggressiver geworden. Die Kompromissunfähigkeit der britischen Parteien, vorgeführt im Londoner Parlament, könnte ein Fanal weit über Britannien hinaus gewesen sein. Wenn im eigenen Publikum nur noch klare Kante zählt, sind schrumpfende Parteien stets in Versuchung, sich an genau dieser Erwartung zu orientieren. Die deutsche SPD erlebte es rund um die »Kühnert-Debatte«: An der Parteibasis gab es viel Zustimmung für den Juso-Vorsitzenden, in der allgemeinen Öffentlichkeit viel Unverständnis. Wenn vor allem Ersteres zählt, war der Impuls objektiv erfolgreich. Mag er – wie so manches andere, was in der SPD passiert – nach außen auch nur zur weiteren Diffusion des Parteibildes beitragen.

Das alles umschreibt das veränderte Umfeld, in dem künftige Wahlkämpfe geführt werden. Und das Kuriose ist: Gefällige Parteien wie die Grünen, auf die dann die positiven Hoffnungen – speziell die der Jüngeren – projiziert werden, kommen erst einmal relativ unhinterfragt über die Runden. Bis sie irgendwann selbst, und sei es qua Wahlergebnis, in Systemrollen gedrückt werden. Man kann das als Selbsterneuerungskraft der Parteiendemokratie sehen, womöglich sogar als einzigen demokratischen Mechanismus gegen das rechte Gift, gegen Hass und Ausgrenzung. Aber die Kollateralschäden sind hoch. Der Verschleiß von politischem Personal, von Kraft und Talent, wird weiter wachsen.

Nun vollziehen sich solche Prozesse in Europa nie parallel, sondern ungleichzeitig – jedenfalls in ihrer Relevanz und Prägekraft für die jeweiligen Länder. Entsprechend unterschiedlich ist das Maß an Verunsicherung der nationalen Politikeliten. Das aber macht es eher noch schwerer, nicht nur eine politische Mehrheitsbildung im neuen Europaparlament zu allerlei Sachfragen hinzubekommen, sondern so etwas wie eine politisch-kulturelle Verständigung dieser Mehrheit. Denn für einen solchen habituellen Konsens, auch für eine Haltung gegenüber der Kommunikationsverschiebung ins Internet, sind die Akteure des demokratischen Europa noch viel unvorbereiteter als politisch-inhaltlich.

Dies ist der vielleicht spannendste Punkt beim Blick in die Zukunft. Die Demokratieinsel Europa, vergleichsweise stabil mitten in einer immer unkalkulierbareren Weltpolitik, muss den Konsens der Demokraten neu vermessen. Inklusive der Frage, wie sich in Zukunft überhaupt demokratische Meinungsbildung vollziehen kann.

Vertrauen auf Zeit: Die Währung, aus der Wahlergebnisse entstehen, wird es immer geben. Aber es ist eine sehr weiche Währung geworden. Mit vielen Kursschwankungen, beeinflussbar. Umso wichtiger wäre es eigentlich gewesen, dass das neue Europaparlament schnell lernt, mit seiner gewachsenen inneren Vielfalt produktiv umzugehen. Und Antworten entwickelt zur ganzen Breite der Herausforderung in dieser neuen Zeit.

Doch was fand tatsächlich statt? In allen Parteifamilien wurden die »Europäer« zugunsten machtpolitischer Statthalter zurückgedrängt. Fast als laute nun die Parole: Nur ein schwaches Parlament garantiert politische Einigungsfähigkeit im Europäischen Rat. Und in den nationalen Öffentlichkeiten zählt wieder einmal nur, wer aus dem eigenen Land in Europa was wird. Der Impuls der Wahl, der ein europäischer war, droht systemisch kleingeraspelt zu werden.

Für die nationalen Wahlgewinner – zum Beispiel die Sozialisten in Spanien – ist das logisch, wenn auch europäisch fatal. Für die nationalen Wahlverlierer beginnt der Überlebenskampf zu Hause. Das gilt auf deutscher Ebene in gewisser Weise sogar für die CDU, die nun erstmals selbst in jenen Abgrund blickt, den die SPD so gut kennt. Spaltung des Wählerpotenzials, strategische Uneinigkeit zwischen Anpassung nach rechts und Widerstand, Zweifel am Führungspersonal – zumal in Richtung Kanzlerkandidatur: Die Verunsicherung ist mit Händen zu greifen.

Wogegen die Traumatisierung in der SPD mittlerweile das nächste Level erreicht hat. Andrea Nahles wurde ziemlich zielgerichtet gestürzt, aber etwas Besseres als den Tod muss sich erst noch finden. Eine politische Idee, zumal eine europäische, ist im jetzt beginnenden Quartal der Personalrochaden schwer erkennbar. Es ist einzig und alleine die wiederholte Faszination des Rezepts Neustart, aus der heraus sich nun das sozialdemokratische Drehbuch erklären lässt. Wenig genug – und ganz nach innen gerichtet.

Nur zur Erinnerung: Die Botschaft der Europawahl war, dass eine große Mehrheit den europäischen Horizont will – und dort eine engagiertere, ambitioniertere Politik. Mit Personen, die nach außen wirken können und zugleich nach innen verbinden. Dies ist genau die Herausforderung, über die nun auch Perspektive und Schicksal der großen deutschen Parteien entschieden wird.

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