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Eine ökosoziale Wirtschaftsdemokratie

Das Erwachen des ökologischen Bewusstseins

Das ökologische Bewusstsein über die akute Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen menschlicher Zivilisation hielt erst seit den 70er Jahren Einzug in die politische Öffentlichkeit, zuerst in Teilen der USA, dann in einigen europäischen Industrieländern, leidenschaftlich in der Bundesrepublik Deutschland, und allmählich in sehr unterschiedlicher Intensität fast überall auf der Welt. Nahezu schlagartig wurde in den letzten Jahrzehnten durch eine Reihe von einander akzentuierenden Umweltkatastrophen und bahnbrechenden Publikationen sichtbar, dass das lineare technologische Fortschrittsverständnis, das bis dahin mit seiner Fixierung auf quantitatives Wirtschaftswachstum als eine Art kulturelle Selbstverständlichkeit der Moderne galt, mit den Gesetzen der Natur auf ganzer Linie erbarmungslos in Konflikt geriet. Eine Reihe lebensbedrohender Katastrophen im Herzen der industriellen Zivilisation, so die nicht mehr endende Verdüsterung des Himmels über den großen Industriegebieten, die bis dahin kategorisch ausgeschlossene Kernschmelze in den Atomkraftwerken Harrisburg/USA und Tschernobyl/Sowjetunion, das immer sichtbarer werdende massenhafte Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt, die Vergiftung von Flüssen, Seen und Böden mit ihren Krankheitsfolgen für viele Menschen, das Siechtum großer Waldflächen – all das drang über Jahre hinweg als eine Folge von Paukenschlägen ins öffentliche Bewusstsein. Aufrüttelnde ökologische Dystopien wie Der stumme Frühling von Rachel Carson, geschrieben bereits 1962, als Taschenbuch Anfang der 70er Jahre weit verbreitet, vor allem aber bedeutende wissenschaftliche Studien über die Folgen dieser Entwicklung fanden in dieser Atmosphäre mit einem Mal weltweit aufmerksames Gehör.

Den Blick auf die Welt veränderte schlagartig und unumkehrbar der historisch gewordene Bericht von Dennis und Donella Meadows über Die Grenzen des Wachstums an den Club of Rome im Jahr 1972. Er brachte das sich rasch steigernde Unbehagen mittels nüchterner Berechnungen, Projektionen und Computermodellen amerikanischer Eliteuniversitäten auf einen erschreckenden Begriff: Die Verschmutzung der Natur mit den Ausscheidungen der bisherigen industriellen Produktion und Lebensweise sowie der hemmungslose Verbrauch der natürlichen Ressourcen würden bei Fortsetzung der bisherigen Praxis eines naturvergessenen Industrialismus spätestens bis zum Jahr 2100 dem menschlichen Leben auf dem blauen Planeten die Existenzgrundlage entziehen. Es ging also nicht mehr um »Umweltverschmutzung«, sondern um Leben und Tod. 2004 korrigierten die Autoren dann mit Blick auf das inzwischen weiter vorangeschrittene Zerstörungswerk die finale Grenze auf das Jahr 2030 – sofern nicht sofort entschieden umgesteuert wird. Schon 1970 hatte in den USA Gordon Taylor den selbstzufriedenen Fortschrittsglauben der westlichen Zivilisation in seinem Beststeller Das Selbstmordprogramm faktenreich mit seinen erschreckenden Folgen konfrontiert. Der Funke zündete nun – das neue ökologische Bewusstsein, besonders die von den Atomkraftwerken ausgehende nahe Gefahr, beflügelte einen beispiellosen rasch anwachsenden Bürgerprotest gegen die Fortsetzung des industriellen »Selbstmordprogramms«, das bis dahin als Fortschritt galt.

Pioniere der ökologischen Wende

Zu den Pionieren der neuen Umweltbewegung gehörten in Deutschland ein klarsichtiger Spitzenpolitiker und eine linke Industriegewerkschaft. Es war Willy Brandt, der schon im Wahlkampf 1961 mit seinem Programm »Blauer Himmel über der Ruhr« die Weichen für eine ökologische Wende der Sozialdemokratie stellte. Die IG Metall mit Franz Steinkühler griff diesen Ball 1972 auf ihrem legendären Zukunftskongress in Oberhausen für die Neubestimmung des Fortschritts auf. Erhart Eppler gab dort mit einer wegweisenden Rede dem programmatischen Wandel der Sozialdemokratie weg vom quantitativen Wachstum hin zu einem naturverträglichen Fortschritt der »Lebensqualität« Auftrieb. Ein Schritt, der entscheidend über die bis dahin übliche Kapitalismuskritik hinausging. Zu Lebzeiten der Sowjetunion und ihres auf ungehemmtes Industriewachstum programmierten sozialökonomischen Systems in Osteuropa stand ja der Welt vor Augen, dass nicht allein die vom Privateigentum gesteuerten kapitalistischen Märkte zum Feind der natürlichen Umwelt der Menschen geworden waren. Ein vom Geist des bedenkenlosen Wachstums getriebenes Verständnis von Fortschritt beherrschte die kommunistische Welt unter dem Druck ihres Nachholbedarfs noch rücksichtsloser, während der wachsende Bürgerprotest in den »kapitalistischen Demokratien« allmählich Wirkung zeigte. Es ging nun also um etwas Grundsätzlicheres als die gewohnte sozialistische Kapitalismuskritik.

Wie ihre Schwesterparteien überall auf der Welt war auch die deutsche Sozialdemokratie bis zum Beginn der 70er Jahre noch vollständig im Bann der linearen Fortschrittshoffnungen, begründet in der von Karl Marx verkündeten Gewissheit, dass nur vom beständigen Wachstum der Produktivkräfte der entscheidende Beitrag zur Entstehung einer Überflussgesellschaft zu erwarten sei, in der Gleichheit und Freiheit jenseits aller Knappheit und Verteilungskämpfe möglich sind. Eine kleine Randbemerkung von Marx war allen, die sich auf ihn beriefen, komplett entgangen: »Selbst eine ganze Gesellschaft, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias (gute Familienväter) den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«

Schon in den Anfängen der Bürgerinitiativen für Umweltschutz in der Bundesrepublik zu Beginn der 70er Jahre gab es an maßgeblichen Stellen innerhalb dieser alternativen Bewegungen aktive Sozialdemokaten, oft als treibende Kraft, die rasch begannen, die Impulse, Energien und Einsichten dieser Neuen Sozialen Bewegung in die politische Organisation der alten Arbeiterbewegung, die SPD, teils auch die Gewerkschaften mit Vehemenz hineinzutragen, eine sehr wirksame Variante von »Doppelstrategie«. Jo Leinen, später saarländischer Umweltminister, gehörte zum Vorstand des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz, Erhard Eppler entwickelte sich rasch zu einem ökologischen Experten, der sowohl in der Umwelt- und Friedensbewegung Gehör fand, zumal ihrem überaus aktiven evangelisch-kirchlichen Zweig, wie auch durch seine verschiedenen Führungsfunktionen in der SPD.

Eppler formulierte in dieser Situation am offensivsten, dass es sich bei dem zunächst scharfen Konflikt zwischen den auf den Erhalt der momentanen Arbeitsplätze und Sozialsysteme fixierten Gewerkschaftsinteressen und der radikalen Kritik der Speerspitzen der Umweltbewegung an ihnen in Wahrheit um einen Scheingegensatz handelte. Dieser könne in einem intensiven, von der Tagespolitik abgelösten Dialog zwischen repräsentativen Sprechern der beiden rivalisierenden Positionen überwunden werden. Er und etwas vorsichtiger auch Willy Brandt glaubten in dieser Zeit, dass eine separate ökologische Partei entbehrlich bliebe, wenn sich die Sozialdemokratie die von Eppler und seinen Mitstreitern in der Umweltbewegung Zug um Zug ausgearbeitete Politik eines »nachhaltigen und selektiven Wachstums« ohne Kernenergie zügig zu eigen macht. Parallel dazu entfaltete sich am Ende der 70er Jahre im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz eine Strategiedebatte darüber, ob die Umweltbewegung für die konsequente Durchsetzung ihrer Ziele langfristig auf die Gründung einer eigenen grünen Partei setzen müsse oder auf die Verstärkung der grünen Lobbyarbeit innerhalb der dafür offenen Parlamentsparteien setzen könne. Die erste Option fand schließlich das Gehör der Mehrheit. Die zweite Alternative wurde nach der Gründung der Grünen 1980 von einer zunehmenden Zahl von Umweltaktivisten in der SPD mit wachsendem Erfolg verfochten.

Die Ökologisierung der Sozialen Demokratie

Nicht die SPD als Ganze, aber herausragende linke Sozialdemokraten und Gewerkschafter in wichtigen Funktionen gehörten zu den ersten, die mit der fälligen Wende nun Ernst machen wollten. Eppler verfasste gemeinsam mit Experten und politischen Aktivisten ökologische Gutachten, Bücher und Anträge auf Parteitagen, prägte Begriffe und beeinflusste damit wirkungsvoll vor allem die jüngere Generation innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie. In den 70er und 80er Jahren bildete sich infolgedessen innerhalb der SPD rasch eine leidenschaftliche Umweltfraktion, deren Unterstützung auf den Bundesparteitagen in großen Schritten wuchs, bis sie in den 80er Jahren die Mehrheit gewann, die von da an auf programmatisch-konzeptioneller Ebene Bestand hatte und in der praktischen Politik immerhin erhebliches Gewicht. Zur Gruppe der ökologischen Vorreiter gehörten in unterschiedlichen politischen Schlüsselfunktionen außer den Genannten vor allem Reinhard Ueberhorst, Hermann Scheer, Michael Müller, Johano Strasser und Ernst Ulrich von Weizsäcker, die innerhalb und außerhalb der SPD unermüdlich die Ökologisierung der Sozialen Demokratie vorantrieben. Mit ihnen und vielen weiteren engagierten Mitgliedern war die Umweltbewegung mitten in der Sozialdemokratie aktiv – ebenso allerdings wie harte Kerne ihrer industriegesellschaftlichen Gegner aus der Wirtschaft und den großen Gewerkschaften. Die ökologische Neuorientierung von Grund auf gelang dieser Strömung ohne großen Gegenwind 1989 mit der einhelligen Verabschiedung des Berliner Grundsatzprogramms.

Das war nicht nur ein Erfolg auf dem Papier, denn Eppler und seine Mitstreiter hatten seit den 70er Jahren im Rahmen der Grundwertekommission das Projekt eines historischen Bündnisses zwischen den Neuen Sozialen Bewegungen und der klassischen Arbeiterbewegung als Synthese von Sozialer Demokratie und politischer Ökologie verfolgt. Dabei zeigte sich, dass sich die Konflikte zwischen ihnen letztlich auf Fragen des Zeithorizonts für die konsequente Ökologisierung und deren überzeugende Verbindung mit umfassender sozialer Sicherung – und Arbeitsplatzsicherung – bezog. Ihr standen sowohl eine Politik der radikalen Ökologisierung in kurzer Frist entgegen, wie sie von nicht wenigen Repräsentanten der produktionsfernen Sozial- und Kulturberufe sowie des Staatssektors verfochten wurde, als auch die bedingungslose Verteidigung aller vorhandenen Arbeitsplätze durch viele Gewerkschaftsvertreter. Im Dialog mit den beiden profiliertesten Vertretern des Industriesektors, Hermann Rappe, Vorsitzender der IG Chemie-Papier-Keramik und Franz Steinkühler, Vorsitzender der IG Metall, wurde ab 1980 auf der Grundlage des voranschreitenden ökologischen Wissens ein Konzept für die wichtigsten Politikbereiche erarbeitet, das die ökologischen und die sozialen Interessen überzeugend zusammenführte. Diese Synthese nicht nur aus abstrakten Ideen sondern konkreten Interessen wurde zum Fundament des neuen Grundsatzprogramms der Sozialdemokratie, mit dessen Ausarbeitung 1984 unter der engagierten Moderation von Willy Brandt begonnen wurde.

Es ist im Kern das neue politische Programm einer »ökosozialen Wirtschaftsdemokratie«. Seine vier Pfeiler sind:

Erstens: Die Verankerung der politischen Grundwerte im Imperativ der Sicherung der Grundvoraussetzung der menschlichen Zivilisation. Dieser gilt ebenso fundamental wie die Grundwerte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität selbst, denn sobald eine vermeintlich grundwertorientierte Politik die Integrität der natürlichen Mitwelt verletzt, untergräbt sie ihre eigenen Voraussetzungen. Zugleich muss aber jede Politik der ökologischen Nachhaltigkeit die Prinzipien der gleichen Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit respektieren. Langfristig und insgesamt gesehen kann kein Handeln ökonomisch sinnvoll sein, das nicht zugleich ökologisch richtig ist. Je später Umweltschäden repariert werden (soweit dann noch möglich), desto stärker übersteigen die Kosten dafür die scheinbaren Einsparungen bei ihrer umweltfeindlichen Herstellung.

Der zweite Pfeiler der sozialen Ökologiepolitik ist eine drastische Einsparung von natürlichen Ressourcen (etwa durch Wärmedämmung), die nicht zur Schmälerung der Lebensqualität und auch nicht zum Verlust von Arbeitsplätzen führt. Für sie gibt es im Bereich der neuen Umwelttechnologien nahezu unbegrenzte Potenziale. Vergleichbares zeichnet sich mit neuen Antriebstechniken auch für den großen Umweltsünder Individualverkehr ab.

Zur Durchsetzung gegen rücksichtslose kurzfristige Kapitalinteressen auf Kosten der Natur bedarf es freilich der dritten Säule einer konsequenten Vergesellschaftung der Entscheidungen über die Verwendung der Produktionsmittel. Die Spielräume des kapitalistischen Privateigentums müssen zugunsten demokratischer gesellschaftlicher Verfügungsmacht begrenzt werden. Dazu gehören eine ökologische Marksteuerung und Investitionslenkung, eine umweltschonende Industriepolitik sowie die Verankerung gesellschaftlicher Interessen (Arbeitnehmer und lokale Gemeinschaft) in den Aufsichtsräten der Unternehmen.

Auf diese Ideen bezogen sich die großen Hoffnungen innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie, die rot-grüne Koalitionsregierung von 1998 sei der Beginn eines »historischen Projekts«. Bundeskanzler Gerhard Schröder schraubte das ein wenig herunter und proklamierte immerhin die »Wende in der Umweltpolitik«. Tatsächlich wurde in dieser und den folgenden Regierungen unter sozialdemokratischer Führung, später Beteiligung, vieles auf den Weg gebracht, um der Einlösung des großen ökologischen Versprechens näher zu kommen: vor allem durch kleinere und größere Schritte in Richtung nachhaltige Energiepolitik und Klimaschutz (Ausstieg aus der Kernenergie, Ökosteuer, Erneuerbare-Energien-Gesetz, Subventionen für Wärmedämmung und Sonnenenergie, Artenschutz, Elektromobilität und sehr viel mehr in den anderen Bereichen der Nachhaltigkeit). Klar geworden ist freilich, dass all das für das notwendige Maß an Klimaschutz noch nicht ausreicht. Schröder selbst hat einen der Gründe dafür benannt: »Mit der Einigkeit ist es schnell vorbei, wenn Abstriche an Ansprüchen und Privilegien gemacht werden müssen«. Es ist offensichtlich, dass in der Klima- und Umweltpolitik das Gesetz ihres Ursprungs, die gesellschaftliche Mobilisierung, dauerhaft wirksam bleiben muss, um die nötigen Erfolge zu erzielen.

Das dargelegte sehr anspruchsvolle sozialökologische Projekt der Sozialdemokratie wurde von den Erfordernissen der deutschen Wiedervereinigung und dem neoliberalen Zeitgeist von seinem Spitzenplatz verdrängt. Wäre das Wahljahr nicht eine gute Gelegenheit für die Partei, ihre Rolle als maßgeblicher Anwalt der ökosozialen Wirtschaftsdemokratie zurückzuerobern?

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