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Eine sozialdemokratische Erzählung gegen die wiederkehrende Klassengesellschaft

Jeder ernsthafte Versuch der SPD, mit ihren in Europa auch heute noch erfolgreichen Schwesterparteien (in Schweden oder Portugal) bei rund 30 % Wählerstimmen wieder gleichzuziehen, muss ohne die in einer erneuten Großen Koalition wieder so naheliegende Selbstverschonung zunächst eine Frage beantworten: Wie konnten ihre großen Erfolge vom Beginn des Wahljahres 2017 in so kurzer Zeit so gründlich verspielt werden? Zu den Ursachen gehören sicher: Der Spitzenkandidat konnte sein großes Versprechen der ersten Wochen, mit ihm breche eine Zeit der Gleichheit an, nicht durch eine glaubhafte Erzählung einlösen. Das richtige Thema zerbröselte ihm ebenso zwischen den Fingern wie der Ausweis einer Machtperspektive für dessen Verwirklichung. Medien und Wähler nahmen das als Orientierungsmangel und Realitätsverlust wahr. Das nagte an der Glaubwürdigkeit von Partei und Kandidat, weil es schon vor der Wahl wie ein Abrücken vom großen Versprechen wirkte. Die halb vernarbte Wunde »Agenda 2010« brach wieder auf. Die Konturen des sozialdemokratischen Gegenentwurfs zur gegebenen Gesellschaft verblassten, verstärkt durch die beiden Leerstellen des Wahlkampfes, die die geheimen Kernthemen waren, aber zu Angstthemen der SPD geworden sind: Migration und Europa.

Diese Defizite resultieren nicht aus einem Mangel an programmatischer Substanz. Auf fast allen Politikfeldern – Gleichheit, Bildung, Familie, Rente, Sozialpolitik, Umwelt, Digitalisierung, Europa, Migration – liegen ja die in jahrelanger und aktueller Programmarbeit von kompetenten Teams erarbeiteten Handlungskonzepte vor. Es waren aber zu viele Spiegelstriche und zu wenig Sinnstiftung. Ohne eine für den gegenwärtigen historischen Augenblick erneuerte sozialdemokratische Erzählung ist die Rettung der Partei aus der Gefahrenzone zwischen 15 und 20 % unwahrscheinlich. Worin aber könnte eine solche Erzählung bestehen, wie entsteht sie und was ist ihr Verhältnis zu den unverzichtbaren Spiegelstrichen des Konkreten? Die Große Koalition ist jetzt nicht die Rettung, aber ein kleiner Zeitgewinn. Während sie amtiert, schon in den ersten ein, zwei Jahren, muss die Schärfung des sozialdemokratischen Profils gelingen, und zwar über Meldungen sozialdemokratischer Regierungserfolge hinaus. Denn nach der letzten Wahl steht fest: Die Qualität dieser Erfolge ist zwar eine absolut notwendige, aber eben nicht die hinreichende Bedingung für Wahlerfolge.

Die Betonung des sozialdemokratischen Überschusses muss ja den Wert des Erreichten nicht schmälern, sofern die Erzählung davon mit der selbstbewussten Formel beginnt: »Wir haben viel erreicht, aber größere Reformschritte sind nötig.« Von der literarischen unterscheidet die politische Erzählung zweierlei: Bei ihr kann die sinnstiftende Schilderung von Herkunft, Absichten, Leistungen und Schicksal nicht in der besinnlichen Reflexion enden, sie muss von einem glaubwürdigen Handlungsprogramm gekrönt sein, das viele mitreißt. Und: der/die Erzähler(in) muss mit seiner (ihrer) Person die Glaubwürdigkeit der Geschichte und die Realisierung ihres Versprechens verkörpern. Die klassische Sozialdemokratie hat die Idee einer solchen Erzählung sowohl in ihrer frühen Phase, als diese sich aus der Gesellschaft heraus aufdrängte, in der Gestalt August Bebels schlicht und überzeugend verkörpert – und in den späten 60er Jahren mit Willy Brandt noch einmal in überzeugender Weise mit Leben gefüllt.

In beiden klassischen Vorbildern lassen sich die Bausteine einer erfolgreichen sozialdemokratischen Erzählung deutlich erkennen: Erstens: der mobilisierende sozialdemokratische Grundimpuls für die gesellschaftliche Veränderung: gleiche, materiell gesicherte Freiheit in einer solidarischen Gesellschaft – bezogen auf die offensichtlichsten Defizite der Zeit. Zweitens: überzeugende Lösungen für die Kernprobleme der Gesellschaft, verbunden mit dem Bild einer besseren Gesellschaft. Drittens: zwei, drei mitreißende Leuchtturmprojekte (nicht mehr!), die dafür stehen. Viertens: eine substanzielle Synthese zwischen den Werten und Interessen des »aufgeklärten Bürgertums« und denen der »Arbeitsklasse«, Fünftens: eine oder einige Symbolpersonen, die für den Anspruch der Sozialen Demokratie in der gegebenen Lage einstehen.

Märchen kann fast jeder erzählen, ohne dass sie ihre Wirkung verlieren, wissenschaftliche Erzählungen auch – die Macht einer politische Erzählung im Kampf um die politische Führung eines Landes hingegen hängt ganz von der darstellenden Kraft und der persönlichen Glaubwürdigkeit der Personen ab, die damit werben. Die gute politische Rhetorik als Seele der Demokratie besteht auch heute noch in der Verschmelzung von Ethik, Argumentation und Leidenschaft, von Rednern vorgeführt, denen man glaubt. Glaubwürdigkeit bezieht sich aber nicht nur auf die Spitzenleute, sondern auf die Partei als Ganze (und nicht zu vergessen, in den Augen der Jüngeren, besonders auch auf das, was die ehemaligen Spitzenpolitiker einer Partei heute sind und tun – auch eines der arg unterschätzten Probleme der SPD).

Es waren nicht die guten Argumente, die der Sozialdemokratie im Wahljahr fehlten, sie lagen nahezu flächendeckend in hochaktuellen Texten zu allen Themen vor. Deshalb kann der Weg zu einem besser zündenden »Narrativ« der Partei nicht in erster Linie in noch mehr oder etwas besseren Texten bestehen. Was fehlte, war das klare Bild der Lage im Lande, die darauf bezogenen Leuchtturmprojekte des erstrebten Fortschritts und die leidenschaftliche Verbindung zwischen dem sozialdemokratischen Grundimpuls – also dem »Großen« (Andrea Nahles) und den Reformangeboten des Regierungsprogramms (also dem vielen »Kleinen«). Das Große konnte sich darum nicht im Kleinen zeigen. Am meisten aber fehlte am Ende des Wahlkampfes die Glaubwürdigkeit, die ihn am Anfang mit dem neuen Kandidaten so mitreißend befeuert hatte. Nun kann keine Partei den Anspruch auf fortwährende Glaubwürdigkeit erheben, das wäre selbst unglaubwürdig. Aber Personen und Parteien können dort, wo sie in ihrem Handeln von den Grundsätzen, für die sie stehen (wollen), (vielleicht aus guten Gründen) grob abgewichen sind, durch eine ehrliche und verbindliche Rechenschaft über die Motive ihres Handelns, mitunter durch eine Entschuldigung, verlorene Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Solche offenen und ehrlichen Selbstkorrekturen können dann sogar zum Baustein eines neuen Narrativs werden. Diese Chance wurde im Wahlkampf vertan, weil der Eindruck entstand, dass die bereinigende Aufarbeitung der Agenda 2010, die zu Beginn in Aussicht gestellt wurde, im Fortgang des Wahlkampfes zweifelhaft wurde.

Den schweren Mängeln bei der Darstellung des Narrativs lagen vor allem die Vernachlässigung des sozialdemokratischen Impulses und das fehlende Bild von der Gesellschaft zugrunde. Die entscheidenden Elemente dieses Bildes sind im letzten Jahrzehnt Zug um Zug zusammengetragen worden. Von der Europamalaise über den neuen Finanzkapitalismus, die digitale Revolution bis zur aktuellen umfangreichen Zuwanderung liegen viele gute Analysen vor – und haben in den Politikentwürfen der Partei ja auch ihren klaren Niederschlag gefunden. Für die Modernisierung des sozialdemokratischen Politikentwurfs und seine gesellschaftliche Verankerung spielen die Sozialstruktur der Gesellschaft sowie die Identifizierung ihrer zentralen Milieus und Klassen mitsamt ihren kulturellen und politischen Interessen die Schlüsselrolle. Kürzlich haben Oliver Nachtwey und Andreas Reckwitz dazu umfassende Analysen vorgelegt, die zusammenfassen, ergänzen und abrunden, was zuvor in aufschlussreichen Einzelstudien gezeigt worden war. Nachtweys Arbeit über die »Abstiegsgesellschaft« beweist, dass die Dynamik des gegenwärtigen Finanzkapitalismus einen langfristig wirksamen sozialen und ökonomischen Abstieg der ganzen unteren Hälfte der sozialen Pyramide bewirkt und mit dem gebrochenen Aufstiegsversprechen die Legitimation des demokratischen Kapitalismus untergräbt. Die Moderne wird regressiv. Dem »Aufbegehren«, das dadurch entsteht, fehlen noch Zusammenhalt und Richtung, um etwas Neues hervorzubringen. Es geht um die Erneuerung der sozialen Moderne. Wäre das nicht ein verlockender Ansatzpunkt für die Erneuerung der sozialdemokratischen Erzählung?

Weiter gefasst und für die Sozialdemokratie herausfordernder ist das Porträt der »Neuen Klassengesellschaft«, das Andreas Reckwitz in seiner Gesellschaft der Singularitäten entwirft. Es klärt die Verbindungslinien zwischen den seit längerem untersuchten und in den sozialdemokratischen Strategiedebatten zentralen sozial-kulturellen Milieus und den neuen sozialökonomischen Klassen der digitalisierten Dienstleistungsgesellschaft. »Klassen« verdienen die neuen Formationen genannt zu werden, weil sie gleichzeitig sozioökonomisch und soziokulturell verfasst und voneinander geschieden sind. Sie sind die Grundlage für die Ausbildung der neuartigen politisch-kulturellen Konfliktlinie in den post-industriellen Dienstleistungsgesellschaften, die zusätzlich zum horizontalen Rechts-links-Gegensatz nun die Gesellschaft diagonal zerschneidet und in der politischen Arena Kosmopoliten und Kommunitaristen einander entgegenstellt. Diese beiden Konflikte produktiv aufeinander zu beziehen und übergreifende Antworten auf sie zu geben, ist jetzt die strategische Herausforderung für die Sozialdemokratie. Sie muss das Kernstück ihres neuen Narrativs sein.

Reckwitz’ realistisches Modell verleiht der schon länger eingespielten Redewendung von der Dreidrittelgesellschaft quantitativ und qualitativ eine klare konzeptionelle Grundlage. Sie lässt vor allem auch erkennbar werden, in welchem Sinne diese »Klassen« als politische Akteure wirksam werden und welche Bündnisse sie nahelegen. Im Spiel befinden sich die »Neue Mittelklasse« und die »Neue Unterklasse«, die gegenwärtig durch einen »Paternostereffekt« destruktiv miteinander verbunden sind. Während die erstere, bestehend aus erfolgreichen Akademikern in den Schlüsselberufen der digitalen Revolution und der globalisierten Ökonomie sich hoher und wachsender Einkommen erfreut, rutscht die letztere auf der Einkommensskala weiter nach unten, zusätzlich durch berufliche und soziale Unsicherheit belastet. Seine Brisanz aber bekommt der Gegensatz der beiden Klassen, die sich genau im Auge behalten, durch die soziokulturelle Konfrontation ihrer Einstellungen und Lebensweisen: kosmopolitisch/liberal/kulturell-avanciert/rundum bewusst lebend – die »Neue Mittelklasse«; kommunitaristisch/traditionell-eng/von Knappheit regiert – die »Neue Unterklasse«. Der kulturelle Gegensatz prägt bei beiden das ganze Leben: Geschmack, Ernährung, Kindererziehung, Freizeitgestaltung, Kultur, Kommunikation, politische Orientierungen. Die »Neue Unterklasse« wird sozial und kulturell als »minderwertig« ausgegrenzt. Sie bekommt die Verachtung täglich zu spüren, weil alle Einflusspositionen in Politik, Kultur und Kommunikation von jenen Eliten besetzt sind, die auf sie herabblicken. Zwischen beiden hält sich die »Alte Mittelklasse« aus kleinen Selbstständigen und Teilen der Facharbeiterschaft mit ihren ebenfalls eher kommunitaristisch-traditionellen Prägungen. Die eigentliche »Oberklasse«, so groß ihr Einfluss in Ökonomie und Politik auch sein mag, fällt zahlenmäßig nicht ins Gewicht. Der soziale Aufstieg ist weitgehend blockiert, eher droht bis in die »Neue Mitteklasse« hinein der weitere Abstieg (Nachtwey).

Für das sozialdemokratische Politikverständnis ist dabei weniger die fortbestehende sozioökonomische Ungleichheit zwischen den Klassen das Neue, sondern die anhaltende Tendenz ihrer Verschärfung und der hinzutretende neuartige soziokulturelle Konflikt. Nichts davon ist völlig überraschend, denn zu fast allem gab es seit einiger Zeit aktuelle Analysen. Aber die nun gewonnene Deutlichkeit des kompletten Bildes liefert produktive Vorgaben für die Neuprofilierung des sozialdemokratischen Narrativs, für seine Inhalte und dafür, wie und wem – vor allem wem – es erzählt werden muss. Die Formel Willy Brandts vom Bündnis zwischen aufgeklärtem Bürgertum und Arbeiterklasse kann nun auf den neuesten Stand gebracht werden. Als Hauptadressaten drängen sich im Hinblick auf Tradition und politisches Profil der Sozialdemokratie sowie die Gesamtheit der in ihren aktuellen Programmen formulierten Politik die »Neue Arbeiterklasse«, die »untere Fraktion« der »Neuen Mittelklasse« und der aufgeklärte Teil der »Alten Mittelklasse« auf. Im sozialökonomischen Profil der Erzählung muss dafür eine schlüssige Verbindung zwischen innovativer Wachstumspolitik, aktiver Einkommenspolitik zur Beendigung der sozialen Regression und ein hohes Maß an sozialer Sockelgleichheit zur Absicherung der prekär Beschäftigten und Armutsgefährdeten enthalten sein. Der Brückenschlag im heiklen soziokulturellen Konflikt kann nur durch den Abbau der sozialen Ungleichheit und besonders der Unsicherheit in Verbindung mit einer konsequenten Migrationspolitik gelingen, die auf einer humanen Grundorientierung und der Maßgabe der Integrationsfähigkeit der Gesellschaft beruht. Lupenreine Exemplare gibt es bei den Kosmopoliten in der Realität so wenig wie bei den Kommunitaristen. In beiden Gruppen überwiegen bei Weitem die Gemäßigten zwischen den extremen Polen der Statistiken, denen eine Balance zwischen kultureller Liberalität, kontrollierter Migration und Förderung intakter Lebenswelten am liebsten wäre.

Eine solche Synthese würde die Attraktion der Rechtspopulisten schwächen. Politische Leuchtturmprojekte einer entsprechenden Synthese wären:

  • eine Arbeitsplätze schaffende und international wettbewerbsfähige Förderung und humane Gestaltung der digitalen Revolution,
  • die rechtliche Garantie einer die Inklusion aller gewährleistenden sozialen Sicherheit,
  • Aufstiegschancen durch Bildungs- und Weiterbildungsangebote bei gleichzeitiger Verbesserung der Einkommen und Arbeitsbedingungen sowie der gesellschaftlichen Anerkennung der geringqualifizierten Dienstleistungsberufe,
  • die Verringerung der Einkommensungleichheit durch eine deutlich stärkere Steuerprogression bei den Spitzeneinkommen und Anhebung der Mindesteinkommen,
  • eine Neuprofilierung der Migrations- und Integrationspolitik mit einem zugleich humanen und realistischen Prinzip der Unterscheidung zwischen persönlich verfolgten Asylbewerbern mit längerfristigem Bleiberecht, subsidiär geschützten Kriegsflüchtlingen mit zeitlich begrenztem Aufenthalt und einem nach wirtschafts- und sozialverträglichen Kriterien gestalteten Einwanderungsrecht (vergl. dazu die Fortsetzungsreihe Soziale Demokratie im 21. Jahrhundert in dieser Zeitschrift).

Andreas Reckwitz, dem wir die aktuellste und genaueste Analyse der neuen Klassenkonflikte und der ihnen zugrunde liegenden Werte- und Interessendivergenzen verdanken, hat das Profil einer solchen Synthese mit Blick auf die Rolle der Sozialdemokratie informativ umrissen:

»Ausgangspunkt ist die konsequente Revision des vorherrschenden ›neuen Liberalismus‹, der die sozialdemokratische Politik der Neuen Mitte (Dritter Weg) mitgeprägt hat. Diese müsste dessen Errungenschaften der Öffnung – von den Emanzipationsgewinnen bis zur innovationsfreundlichen Wirtschaftspolitik – fortentwickeln und zugleich das Soziale und das Kulturelle stärker regulieren und unter die Imperative des Gemeinwohls stellen. Das reicht von der Wohnungspolitik und der guten Arbeit für alle bis zur Integration von Einheimischen und Migranten, den allgemeinen Bildungsstandards und der Garantie einer sozialen Zivilität. Eigentlich könnte die Sozialdemokratie ein zentraler Akteur sein, der eine solche Balance zwischen liberaler Öffnung und normativer Regulierung formuliert und die Konfliktlinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen produktiv verarbeitet. Sie müsste dabei auf Unterstützung aus allen Großgruppen abzielen. Aber werden die sozialdemokratischen Parteien Europas noch die Kraft dazu haben? Oder wird der Paradigmenwechsel eher von den Konservativen formuliert?«

Es ist wahr: Diese Frage ist offen. Aber die Chancen, darauf eine überzeugende sozialdemokratische Antwort zu geben, sind besser als ihr Ruf.

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