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Was erwartet Frankreich von der neuen Bundesregierung? Eine späte Antwort auf Macrons Sorbonne-Rede

Das Ergebnis der Bundestagswahlen vom 26. September hat in Frankreich zunächst eine gewisse Besorgnis ausgelöst. Dies nicht wegen des bevorstehenden Endes der Merkel-Ära, sondern wegen der anhaltenden Schwächung der Volksparteien und einer weiteren Fragmentierung der Parteienlandschaft in Deutschland.

Aus der Perspektive einer unitären politischen Kultur, die ungeübt ist in der Praxis des politischen Kompromisses und des Regierens in Koalitionen, erschien die Notwendigkeit, die neue Bundesregierung aus einem Zusammenschluss von nunmehr drei Parteien zu bilden als »schlechte Nachricht«, wie es der Präsident der Robert-Schuman-Stiftung, Jean-Dominique Giuliani formulierte. Befürchtet wurden langwierige Koalitionsverhandlungen mit einem Regierungsprogramm an deren Ende, das aufgrund der notwendigen internen Interessenabwägung eher Stillstand anstatt der nun notwendigen Handlungsfähigkeit auf europäischer Ebene produziert.

Umso positiver überraschte dann, dass die Verhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP doch recht zügig und ohne dissonante Nebengeräusche vorankamen und – anders eben als 2017 – die neue Koalition bereits nach zwei Monaten stand. Nun wird die »Singularität« dieser Drei-Parteien-Koalition betont und als Beginn einer neuen politischen Ära in Deutschland gewürdigt. Dabei wird das schnelle Zustandekommen der aus französischer Sicht schwierigen »Ampelkoalition« als erster Sieg auf der Habenseite des neuen Kanzlers Olaf Scholz verbucht.

Modernisierung statt Stillstand

Gerne vernommen wird auf der anderen Seite des Rheins hingegen das Motiv dieser Regierung: »Mehr Fortschritt wagen«. Denn angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit und eines gewissen Stillstands während der letzten Jahre wünschen sich französische Beobachter/innen aus Berlin endlich mehr Entschlossenheit und Wagemut.

Um, wie es die neue Bundesregierung verspricht, Deutschland – und auch Europa – wieder in Bewegung zu bringen und die drückenden Zukunftsfragen voranzutreiben, wird eine Zäsur zur Merkel-Ära für unabdingbar gehalten. Zwar wurde an Merkels Politikstil sehr wohl die Fähigkeit zur Kompromissfindung geschätzt, doch hat dies aus französischer Sicht nicht dazu geführt, Deutschland und die Europäische Union besser aufzustellen, besonders für jene Herausforderungen, vor denen der Kontinent offensichtlich steht. Im Gegenteil, die letzten Jahre der Merkel-Ära werden als »verlorenes Jahrzehnt« für Europa angesehen.

Gegenüber Angela Merkel mit ihrem in Frankreich oft beklagten Mangel an reformerischen Ambitionen erscheint Olaf Scholz heute als Modernisierer. Es wird sehr genau registriert, dass im Koalitionsvertrag immer wieder Bezug genommen wird auf die Notwendigkeit, Deutschlands Modernisierung voranzutreiben und dass darin die Erneuerung des Staates explizit eingeschlossen ist.

Eine solche Modernisierungsambition wünschen sich viele Französinnen und Franzosen auch für ihr eigenes Land. Und vor allem im progressiven Lager wird gerne notiert, dass an die Stelle des Konzepts der sozialen Marktwirtschaft nun die sozialökologische Marktwirtschaft getreten ist. Mit Interesse wird verfolgt werden, wie dieses Konzept mit konkretem politischen Handeln gefüllt wird.

Europapolitische Initiative

In vielen Kommentaren hervorgehoben wird die »pro-europäische« Tonalität des Koalitionsvertrages. Dass die neue Bundesregierung Deutschlands besondere Verantwortung für die EU betont und diese »in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes« wahrnehmen will, wird als Versprechen interpretiert, dass Deutschland nun endlich die seiner Macht entsprechende Rolle annimmt und auf europäischer Ebene mehr Initiative zeigen will.

Manche sehen darin eine verspätete Antwort auf Macrons Sorbonne-Rede von 2017. Erst jetzt, mit vier Jahren Verspätung, scheint Deutschland diese Einladung, gemeinsam an einer Reform der EU zu arbeiten, aufzunehmen. Mehr noch: War Macron in den letzten Jahren eindeutig der Motor europäischer Reformambitionen, könnte die Initiative in den nächsten Jahren eher der Bundesregierung zufallen. Denn die im Koalitionsvertrag zum Ausdruck gebrachten europapolitischen Reformüberlegungen gehen in vielen Aspekten weit über das hinaus, was sich Emmanuel Macron vorgestellt hatte.

Auch wenn Veränderungen an den EU-Verträgen nicht ausgeschlossen werden, so war die Absicht, die Konferenz zur Zukunft Europas zu einem verfassungsgebenden Konvent weiterführen zu wollen, niemals von Macron beabsichtigt. Dass die Bundesregierung nun schwarz auf weiß formuliert hat, dass sie die EU zu einem föderalen europäischen Bundesstaat weiterentwickeln möchte, erschreckt Frankreich mit seiner zentralstaatlichen politischen Kultur.

Auch die Stärkung des Europäischen Parlaments durch die Gewährung eines Initiativrechts stößt in der »Grande Nation« nicht unbedingt auf Zustimmung. Überhaupt steht der neue europapolitische Reformelan aus Deutschland in heftigem Kontrast zu dem von »souveränistischen« Tönen geprägten Vorwahlkampf in Frankreich.

Schon seit Langem drängt Frankreich darauf, dass die EU zu einem geopolitischen Akteur werden müsse. Anlässlich der Verkündung seiner Schwerpunkte für die französische EU-Ratspräsidentschaft hatte Macron erneut hervorgehoben, dass sich die Union zu einem »starken Europa« (une Europe puissante) in der Welt wandeln müsse.

Gerne vernommen wird dann, dass im Koalitionsvertrag mehrmals Deutschlands globale Verantwortung betont wird. Und mit einer gewissen Genugtuung wird zur Kenntnis genommen, dass die neue Bundesregierung sich das Ziel setzt, die strategische Souveränität der Union zu erhöhen und ein souveränes Europa als »starken Akteur« in einer von Unsicherheit und Systemkonkurrenz geprägten Welt anstrebt.

Nachdem sich Angela Merkel bei diesem, Macron so besonders wichtigen Thema wenig enthusiastisch gezeigt hatte, wird die Aufnahme des Begriffs »strategische Souveränität« in das Narrativ der neuen Regierung als klares Zeichen einer Annäherung an Frankreich gewertet. Allerdings ist auch nicht unbemerkt geblieben, dass der Rückgriff auf Souveränität im Koalitionsvertrag eine deutlich »zivile« Färbung hat, indem er vornehmlich auf die Handlungsfähigkeit in Bereichen wie Energieversorgung, Gesundheit oder Digitalisierung bezogen wird. Eine explizite Verwendung im Kontext militärischer Handlungsfähigkeit – und gerade dies ist das besondere Anliegen Frankreichs – vermeidet die Ampelkoalition dagegen.

Mehr Erleichterung als Sorge in der Außen- und Verteidigungspolitik

Der Ausbau der militärischen Fähigkeiten der EU ist eines der zentralen Anliegen von Emmanuel Macron. Von daher gab es mit Blick auf die pazifistischen Traditionen der SPD zunächst eine gewisse Sorge, dass das deutsche Engagement für Abschreckung und Krisenmanagement nachlassen könnte. Das klare Bekenntnis im Koalitionsvertrag zur Stärkung der Verteidigungsfähigkeit und zur – auch nuklearen – Abschreckung sorgte diesbezüglich jedoch für Erleichterung.

Zudem wird mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, dass die Koalition den europäischen Pfeiler in der NATO stärken will. Dies wird in Paris ebenso wie die Zustimmung zu bewaffneten Drohnen und die Ankündigung einer Cybersicherheitspolitik als das Entgegenkommen gegenüber den französischen Positionen gewertet.

Nicht gern gesehen wird dagegen, dass im Koalitionsvertrag eine restriktive Rüstungsexportpolitik angekündigt wird sowie die Absicht, dass mit den europäischen Partnern eine EU-Rüstungsverordnung mit verbindlicheren Regeln abgestimmt werden soll. Solche verbindlicheren Regeln sind nicht im französischen Interesse.

An dieser Stelle sind auch in Zukunft Spannungen im deutsch-französischen Verhältnis zu erwarten. Zumal dann, wenn bei gemeinsamen Rüstungsprojekten von deutscher Seite ein Veto gegenüber Exporten der gemeinsam produzierten Güter erhoben werden könnte.

Auf ein positives Echo fallen in Paris hingegen die neuen Töne aus dem Koalitionsvertrag zum Verhältnis mit China. Nachdem sich Deutschland lange Zeit – gerade in den Merkel-Jahren – aus französischer Sicht geradezu euphorisch gegenüber dem »Partner« China gezeigt habe, wird die neue realistischere Haltung, die der »Systemrivalität« mehr Rechnung trägt, mit Aufmerksamkeit und Sympathie verfolgt.

Frankreich drängt auf eine Reform der Fiskalregeln der EU und auf die Schaffung eines gemeinsamen Stabilitäts- und Investitionshaushaltes. Den Budgetrahmen »neu zu überdenken«, um in der Post-COVID-Zeit den Spielraum für die notwendigen Investitionen zu schaffen, ist eine der Prioritäten, die sich die französische Regierung für Ihre Ratspräsidentschaft vorgenommen hat.

Weiterentwicklung fiskalpolitischer Regeln

Mit Bangen wurde deshalb verfolgt, wie sich die Liberalen diesbezüglich in die Koalitionsverhandlungen einbrachten und wie das Ringen um die Besetzung des Finanzministeriums ausging. Pessimistische Stimmen interpretieren nun die vorsichtigen Formulierungen im Koalitionsvertrag und die Tatsache, dass Christian Lindner Finanzminister geworden ist, als die Durchsetzung einer in Frankreich als obsolet geltenden fiskalischen Orthodoxie, und befürchten, dass diese die wirkliche Ausrichtung der neuen Regierung prägen werde.

Optimistische Stimmen verweisen dagegen darauf, dass sich in Deutschland die akademische und politische Debatte zu diesen Themen in den letzten Jahren weiterentwickelt habe, und sehen in den einschlägigen Formulierungen des Koalitionsvertrages durchaus die erforderliche Flexibilität zu einer pragmatischen Weiterentwicklung der fiskalpolitischen Regeln. Diese wäre nicht nur für Frankreich ein Symbol der gegenseitigen Annäherung, sondern auch für andere Länder der EU. In der Formulierung, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt »einfacher und transparenter« gestaltet und ein tragfähiges Schuldenniveau garantiert werden soll, wird der offene Türspalt erkannt, der eine Anpassung der Fiskalregeln an die Realität erwartbar macht.

Für Frankreich ist es vor allem wichtig, dass der Übergang in die Post-Merkel-Ära in Deutschland zügig und ohne eine Schwächung der politischen Handlungsfähigkeit eingeleitet wurde. Mit der neuen Drei-Parteien-Regierung unter der Führung von Olaf Scholz hat Frankreich den handlungsfähigen und pro-europäischen Partner, mit dem es gleichgerichtet auf ein »starkes Europa« hinarbeiten kann.

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