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Wege zu einer Verbesserung des gemeinsamen europäischen Asylsystems »Eine Union, die mehr erreichen will«?

In den vergangenen Wochen hat die Corona-Pandemie von Europa Besitz ergriffen – nicht nur in viraler Form, sondern auch durch ihre Dominanz in den öffentlichen Diskursen und die verständliche Konzentration der politischen Ebene auf Fragen der Pandemiebekämpfung. Vor dieser thematischen Übermacht trat die Frage der europäischen Flüchtlingspolitik und der Weiterentwicklung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) in den Hintergrund. Das ist besonders tragisch für jene rund 40.000 Geflüchteten, die unter prekärsten Lebensbedingungen in heillos überfüllten Lagern auf den griechischen Inseln ausharren. Während sich Anfang 2020 auf EU-Ebene ein Konsens entwickelte, zumindest die minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten aus den Lagern herauszuholen und auf andere europäische Staaten zu verteilen, sind diese Ansätze durch die Corona-Pandemie fast zum Erliegen gekommen. Inzwischen wurden zwar zwölf Kinder und Jugendliche nach Luxemburg und rund 50 nach Deutschland ausgeflogen, doch das ist angesichts der Gesamtsituation in den Lagern, insbesondere für die gefährdetsten Gruppen und in Erwartung der Corona-Pandemie, erschütternd wenig.

Vor dem Hintergrund dieser seit langem bestehenden Notlage soll hier ein Rückblick auf die Wirkungsweise des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in den Jahren 2015 bis 2019 gegeben und ein Ausblick auf die Zukunft angestellt werden.

2015 erlebte die EU eine in dieser Dimension noch nie dagewesene Zuwanderung durch Asylsuchende, insbesondere über das Transitland Türkei auf der sogenannten Balkanroute. Mehr als 1,2 Millionen Menschen beantragten in jenem Jahr in einem der EU-Staaten Asyl und die Bilder von Menschenmengen, die zu Fuß über europäische Straßen zogen, beherrschten über viele Wochen die Medien. Aus Sicht der Asylsuchenden – das haben viele unserer Interviews mit Geflüchteten gezeigt – war es relativ irrelevant, in welchem europäischen Land sie um Asyl baten. Kenntnisse über die Funktionsweise des Asylverfahrens und den daraus resultierenden Zukunftsperspektiven gab es kaum. Was vielmehr zählte war die Frage, wo bereits Familienangehörige lebten, wo man vermutete, leicht Fuß fassen zu können und gut behandelt zu werden. Viele Informationen zu den Zielländern beruhten auf Hörensagen und dementsprechend strukturierten sich auch die Fluchtrouten.

Asylsuchende, die in die Europäische Union einreisten, sollten in allen Ländern Europas vergleichbare Bedingungen bezüglich ihrer Aufnahme und der Durchführung des Asylverfahrens vorfinden. Um dies zu erreichen, wurden auf EU-Ebene Standards ausgehandelt und in Form von Richtlinien verabschiedet: die Aufnahmerichtlinie (Directive 2013/33/EU), die Verfahrensrichtlinie (Directive 2013/32/EU) und die Qualifikationsrichtlinie (Directive 2011/95/EU). Diese müssen wiederum in allen Mitgliedstaaten in nationales Recht und entsprechende Verordnungen umgesetzt werden. An dieser Stelle, das haben unsere Forschungen zur Harmonisierung des GEAS gezeigt, können beträchtliche Unterschiede auftreten, z. B. was die Asylprozedur als solche, die Rechte von anerkannten Flüchtlingen oder die Aufnahmestandards betrifft. Beispielsweise werden in manchen EU-Staaten Asylsuchende während des gesamten Asylverfahrens in Gruppenunterkünften untergebracht, in anderen nicht. In manchen Ländern gibt es Vorschriften, in welchem Zeitraum nach der Einreise ein Asylantrag eingereicht werden muss, in anderen nicht. Die durchschnittliche Verfahrensdauer bis zur Asylentscheidung – angepeilt sind laut EU-Verfahrensrichtlinie sechs Monate – variierte im Jahr 2017 zwischen 1,5–2 Monaten in Ungarn und 24–36 Monaten in Zypern. Und auch die Ergebnisse des Asylverfahrens können stark variieren: So schwankte laut Eurostat der Anteil positiver Asylentscheidungen (d. h. es wurde ein Flüchtlingsstatus, ein subsidiärer Schutzstatus oder ein Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen gewährt) im Jahr 2018 innerhalb der EU zwischen 85 % (Irland) und 11 % (Tschechien).

Viele der seit langem am heftigsten umkämpften Themen sind jedoch noch gar nicht durch EU-Direktiven geregelt, sondern unterliegen einem andauernden politischen Aushandlungsprozess. Hierzu gehören die Frage von Umsiedlung und Umverteilung von Geflüchteten, die Einrichtung von Hotspots an (oder womöglich vor) den EU-Außengrenzen, der weitere Umgang mit dem EU-Türkei-Abkommen sowie die Seenotrettung. Verhandlungen zu diesen Themen werden stark durch die Qualität der Beziehungen zwischen den einzelnen EU-Staaten beeinflusst und es gibt eine Vielzahl an Akteuren, die in dem Prozess Einfluss nehmen.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Evaluierung des GEAS haben wir im Jahr 2019 auf der Basis unserer empirischen Ergebnisse verschiedene Zukunftsszenarien für das GEAS entwickelt und politischen Akteuren zur Diskussion vorgelegt. In der Diskussion der verschiedenen Szenarien (souveräne nationale Asylsysteme; Kooperation zwischen souveränen Asylsystemen; Weiterbestehen des GEAS; Mini-Schengen) kristallisierten sich zwei wesentliche Problempunkte heraus, die in ihrer Kombination gleichsam einen gordischen Knoten darstellen: das Dublin-Verfahren, welches die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens auf Basis des ersten EU-Einreiselandes festlegt, und die Schengen-Vereinbarung, die die Aufhebung von Grenzkontrollen und somit freie Mobilität innerhalb der EU garantiert.

Dublin und Verantwortungsteilung: Da die überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden an einer EU-Außengrenze einreist, haben Staaten an eben diesen Außengrenzen wie Griechenland oder Italien die größte Last in der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens zu tragen. Zugleich kann durch die Schengen-Verordnung eine Weiterreise von Geflüchteten nicht verhindert werden. Die daraus resultierenden Dublin-Verfahren, die bei der Asylantragstellung zunächst das zuständige Land der Ersteinreise identifizieren und gegebenenfalls eine Rücküberstellung in das entsprechende Land veranlassen, binden viele Kapazitäten und sind wenig effektiv: So stellte z. B. Deutschland im Jahr 2017 rund 64.000 Übernahmeersuche an andere EU-Staaten; dies resultierte jedoch nur in rund 7.000 tatsächlichen Rücküberstellungen von Asylsuchenden. In demselben Jahr wurden rund 27.000 Übernahmeersuche anderer Staaten an Deutschland gestellt; davon wurden rund 8.700 realisiert (Quelle: AIDA Datenbank). Trotz vielfacher Bemühungen hat es bislang in der EU noch keine Einigung über einen effektiven Umverteilungsmechanismus von Asylsuchenden im Falle der Überlastung eines Mitgliedstaates gegeben. Konkrete Vorschläge dazu wurden zuletzt während der bulgarischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2018 unterbreitet. Während unserer Szenarien-Diskussion bestand Einigkeit unter den beteiligten Akteuren, dass auch auf lange Sicht eine europäische Einigung auf einen verbindlichen Umverteilungsmechanismus nicht zu erreichen sei. Als wahrscheinlicher wurde die Herausbildung einer »Koalition der Willigen« angesehen, die sich unabhängig von einer EU-Mitgliedschaft auf Aktivitäten zur Verantwortungsteilung bei der Aufnahme von Asylsuchenden verständigt.

Schengen Verordnung und die Mobilität von Flüchtlingen: Die Durchsetzung der Dublin-Verordnung oder effektiver Umverteilungsverfahren kann nicht getrennt von der Schengen-Verordnung diskutiert werden, die freie Mobilität innerhalb der EU garantiert und hierzu auf Grenzkontrollen verzichtet. Auf diese Weise wird auch eine Weiterreise von Asylsuchenden erleichtert, auch wenn ihr Aufenthaltsstatus oder die Zuständigkeitsregeln im Asylverfahren dies formal nicht erlauben würde. Bemühungen zur Eindämmung dieser – im Fachdiskurs auch »Sekundärmobilität« genannten – Weiterreisen sind aufwändig und oft nicht von Erfolg gekrönt. Aus Sicht der Teilnehmer*innen unserer Szenarien-Diskussion wurde Sekundärmobilität jedoch nicht verteufelt, ganz im Gegenteil: Sie sahen Sekundärmobilität als einen Weg zur Verbesserung von Integrationsmöglichkeiten, da Flüchtlinge in der Regel – so wie andere Migrant*innen auch – Wanderungsentscheidungen unter Abwägung ihrer Potenziale und Ressourcen treffen und am selbst gewählten Zielort bessere Integrationschancen hätten, als an einem aufgezwungenen Lebensmittelpunkt. Idealerweise sollten daher Asylsuchende unter Berücksichtigung ihrer Integrationsvoraussetzungen und der Integrationsmöglichkeiten der Zielorte verteilt werden. Nach Abschluss des Asylverfahrens sollten anerkannte Flüchtlinge ebenso an der arbeitsmarktbezogenen Mobilität im Schengen-Raum teilnehmen dürfen wie EU-Bürger*innen.

Die Rolle der Kommunen: Ein letzter wichtiger Aspekt in unserer Szenarien-Diskussion war die Debatte über die Rollenverteilung zwischen nationaler und subnationaler Ebene im Sinne einer Verantwortungsteilung. Die lokale Ebene, also die Städte und Gemeinden, in denen Asylsuchende und Flüchtlinge nach der Ankunft leben, leisten die tatsächliche Integrationsarbeit. Ihre Stimme sollte, so die einhellige Meinung unserer Expert*innen, in den europäischen Aushandlungen zur Asylpolitik mehr Gehör finden.

Überall in Europa gründen sich Städtenetzwerke, die für sich eine größere Rolle in der Asylpolitik reklamieren und konkrete Angebote machen. Im Sommer 2018, als private Rettungsmissionen im Mittelmeer zunehmend an den Blockaden von Seehäfen scheiterten, traten mehr als 50 deutsche Städte der Organisation »Seebrücke« bei und erklärten sich selbst zu »Städten sicherer Häfen«. Damit wollten sie ihre Bereitschaft zur Aufnahme der Bootsflüchtlinge signalisieren und damit den unwürdigen politischen Ränkespielen auf nationaler und EU-Ebene ein Ende setzen. Inzwischen sind mehr als 120 Städte Mitglied in dem Netzwerk und haben ihre Angebote zur Flüchtlingsaufnahme auch auf die unbegleiteten Minderjährigen, die auf den griechischen Inseln festsitzen, ausgedehnt. In vielen Städten und Gemeinden, die zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit sind, herrscht Frustration über mangelnde Gestaltungsmöglichkeiten im Aufnahmeprozess, mangelhafte Ressourcen und fehlende politische Unterstützung auf nationaler Ebene. Eine Verbesserung der Einflussmöglichkeiten und eine Aufstockung von Integrationsressourcen könnten durch direkte Unterstützung seitens der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments gelingen. Diese Ressourcen würden die Integrationskapazitäten der Aufnahmegesellschaft stärken und damit auch langfristig die Bereitschaft zur Flüchtlingsaufnahme erhöhen.

Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen, die unter dem Motto »A union that strives for more« angetreten ist, sowie die Periode der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hätten damit bereits mehrere vielversprechende Ansätze, wie geteilte Verantwortung und Solidarität in der Europäischen Asylpolitik besser realisiert werden können.

(Der Beitrag basiert auf Ergebnissen aus einem Forschungsprojekt zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, das durch die Europäische Kommission im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms HORIZON2020 gefördert wurde.)

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