Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, in Königsberg aufgewachsen und Ende 1975 in New York gestorben, war ein »Star«. Und das sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland. Sie hat sich nach dieser Rolle nicht gedrängt, sie wuchs ihr vielmehr durch öffentliches Auftreten und Argumentieren einfach zu. Ihre Nachwirkung hält bis heute an, wie die ununterbrochene Flut von Veröffentlichungen in vielen Ländern zeigt. Dabei fällt auf, dass ihre Bücher, Artikel und Interviews im Mittelpunkt stehen, Biografisches wurde und wird eher in Ergänzung dazu betrachtet. Noch immer gilt die Biografie von Elisabeth Young-Bruehl von 1982 als maßgeblich, vielleicht auch deshalb, weil die Autorin viel aus ihrer persönlichen Bekanntschaft mit Hannah Arendt einfließen ließ.
Der an der Universität München lehrende Philosoph Thomas Meyer ist Herausgeber einer auf zwölf Bände geplanten Studienausgabe der Werke Hannah Arendts im Piper Verlag. Ergänzend dazu hat er im vergangenen Herbst eine 500-Seiten-Biografie vorgelegt, die, wie er schreibt, gegenüber bisherigen Darstellungen eigenständig und »gänzlich neu« ist. Zahlreiche bisher nicht bekannte Texte seien gesichtet und hier eingearbeitet, manche Phasen aus der ersten Lebenshälfte seiner Protagonistin seien erstmals ausführlich dargestellt worden.
Neues auch für Arendt-Kenner
Umfang und Anspruch des Buches sichern ihm wohl von vorneherein einige Aufmerksamkeit. Diese wird für die erste Lebensphase auch wirklich eingelöst. Der Autor berichtet mit spürbarer Empathie über das gutsituierte Königsberger Judentum, dem die Familien der Eltern – väterlicherseits die Arendts, mütterlicherseits die Cohns – angehörten. Etwas knapper fallen die Studienjahre bei Heidegger (»ein katholisch geprägter Entschiedenheitsvertreter«) in Marburg und Jaspers in Heidelberg aus, dafür aber umso ausführlicher die ersten Jahre im Exil nach 1933, die Hannah Arendt nach Paris verschlugen. Dieses Kapitel dürfte selbst für Arendt-Kenner Neuland sein, denn die von der Philosophie kommende und eigentlich eine wissenschaftliche Laufbahn anstrebende junge Frau wurde in Paris notgedrungen zur Managerin; bis 1939 arbeitete sie für die Jugend-Alijah, eine Organisation, die geflohenen jüdischen Jugendlichen eine Weiterreise nach Palästina und dort ein neues Leben meist in handwerklichen Berufen (»Muskeljuden statt Nervenjuden«) ermöglichte.
Mit knapper Not gelang Hannah Arendt und ihrem ein Jahr zuvor geheirateten zweiten Mann Heinrich Blücher (von Günter Stern, alias Anders war sie 1938 geschieden worden) die Flucht nach New York, wo das Paar als Staatenlose lebte, bevor beide 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielten. In den USA wurden sie schnell heimisch, erhielten Lehraufträge an Universitäten und Colleges und machten sich rasch einen Namen. Anschaulich schildert Meyer die zahllosen Kontakte und langjährigen Freundschaften; ihre Partner waren durchweg in Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaft versierte Wissenschaftler oder Journalisten, und als Leser staunt man einmal mehr, wie viele dieser New York Intellectuals ihren Ursprung im europäischen Judentum hatten.
Auflösung des Gegensatzes von Wahrheit und Lüge durch die Machthaber.
Hannah Arendt hat in dieser zweiten Lebenshälfte alle ihre berühmt gewordenen Bücher geschrieben. Der Autor nimmt nur vereinzelt ausführliche Werkanalysen vor, so besonders intensiv zum Buch über Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dessen deutsche Ausgabe 1955 erschienen war und zu dem Karl Jaspers ein Vorwort beigesteuert hatte. Meyer geht der Trias Antisemitismus, Imperialismus und Rassismus nach und zeigt, wie sehr das Buch auch durch persönliche Erfahrungen von Flucht und Verfolgung geprägt war. Die jeden Einzelnen erfassende totale Herrschaft sowohl in Deutschland als auch in der Sowjetunion hat, so interpretiert der Autor Hannah Arendt, Täter und Opfer so zugerichtet, »dass Verantwortung kein Kriterium mehr war. Die Machthaber lösten den Gegensatz von Wahrheit und Lüge auf.«
Neben ihrer schriftstellerischen Arbeit war Hannah Arendt auch in New York gewissermaßen Managerin, nämlich mehrere Jahre bei der 1944 gegründeten Commission in European Jewish Cultural Reconstruction (JCR), die sich die Aufgabe stellte, im kriegszerstörten Europa noch erhaltenes jüdisches Kulturgut zu sammeln. Dabei kam sie 1949 zum erstenmal wieder nach Europa und Deutschland, traf Karl Jaspers in Basel und Martin Heidegger in Freiburg. Beiden ist im Buch ein längeres Kapitel gewidmet; das zu Heidegger zeigt ihre lange schwankende, zum Ende hin aber doch versöhnliche Haltung gegenüber dem einstigen Lehrer und kurzzeitigen Liebhaber; das zu Jaspers unterstreicht einmal mehr, wie der seit 1948 in Basel lebende Philosoph für Hannah Arendt neben Blücher die wichtigste Person in ihrem Leben geworden war.
Lebensthemen der streitbaren Denkerin
Der Autor wird sich an seinem Anspruch, etwas »gänzlich Neues« vorgelegt zu haben, messen lassen müssen. So wird man in dieser zweifellos bedeutenden Biografie (die vielleicht ohnehin durch ihre attraktive »Heldin« getragen wird?) neben Licht auch Schatten erkennen. Wichtig für alle künftigen Überlegungen zu Hannah Arendt sind die Kapitel über Kindheit, Studium und Pariser Exil, ferner die Schilderungen der bis zum Lebensende 1975 nie abreißenden Kontakte zu zahllosen Geistesverwandten (oder ebenbürtigen Gegnern) in den USA und Europa. Unzählige Themen lagen gleichzeitig auf dem Tisch: die Rolle des Zionismus, für den sich auch Hannah Arendt zeitweilig stark gemacht hatte, die Frage der Demokratie in einer von totalitären Gegnern bedrohten Welt, Freiheit und Unfreiheit des einzelnen in der Massengesellschaft, Bewahrung des großen literarischen Erbes von Europa und Amerika. Wie sehr Hannah Arendt immer wieder Anregungen von großen Werken etwa von Proust, Conrad, Thomas Mann oder Rilke empfand und wie sehr sie sich als Lektorin des berühmten Schocken-Verlags selbst für viele Schriftsteller einsetzte, zeigt Meyer an schönen Beispielen.
So ausführlich die »Elemente« gewürdigt werden, so vage bleibt es aber bei den meisten anderen Titeln. Über die Revolution oder vita activa werden allzu kurz abgehandelt, gerade letzteres spiegelte doch Hannah Arendts Sensibilität auf Veränderungen in den westlichen Gesellschaften in den 60er Jahren. Ihr berühmtes Buch Eichmann in Jerusalem, das erbitterte Kontroversen weltweit entfachte, wird eher kursorisch im äußeren Geschehen vorgestellt, als dass ihre heiß diskutierte These von der »Banalität des Bösen« eingehender erörtert würde.
»Die Frage der Demokratie in einer von totalitären Gegnern bedrohten Welt.«
Schließlich das, was man den human touch nennen könnte und was bei aller Nüchternheit doch auch in eine Biografie gehört: Als Mensch bleibt Hannah Arendt merkwürdig blass. Der Leser erlebt eine konzentrierte, schlagfertige und geradezu messerscharfe Denkerin, hinter die Hannah Arendt als liebende und mitunter irrende Frau zurücktritt. Das ist kein Plädoyer für Klatsch und Tratsch. Wie sensibel man gerade bei ihr mit Herzensdingen umgehen kann, hatte vor Jahren der frühere FAZ-Herausgeber Joachim Fest gezeigt, der mit Hannah Arendt viele Gespräche geführt hatte. Er hat taktvoll und sensibel geschildert, wie sie von Heidegger einfach nicht loskam und 1950 die erste Begegnung nach dem Krieg fast zwanghaft suchte – kein Voyeur am Schlüsselloch, sondern einfühlsames Verstehen eines sich selbst unsicheren Menschen.
Heinrich Blücher, ihr Mann seit 1940, geboren 1899 in Berlin, gestorben fünf Jahre vor ihr am 31. Oktober 1970, »ein Frauentyp, heute hier, morgen dort«, kommt bei Meyer nicht allzu gut weg. Zwar konzediert Meyer, dass er (seine kommunistische Vergangenheit zwang ihn 1933 zur Flucht aus Deutschland) für Hannah Arendt letztlich unersetzlich war, was übrigens auch Jaspers und andere Freude bemerkten, aber insgesamt gibt er ihm nur ein kurzes und distanziertes Kapitel.
Von Liebe und Freundschaft
Ein sehr viel freundlicheres Bild auf beide wirft die Literaturwissenschaftlerin Barbara von Bechtolsheim in ihrer Biografie eines Paares. Sie spricht von einer »philosophischen Werkstatt«, immer im intensiven Gespräch, in Diskussionen und Streit, aber zugleich im tiefen Gefühl liebenden Vertrautseins.
Intensive Gespräche, Diskussionen, Streit und liebendes Vertrautsein.
Es muss von Anfang an eine große Liebe gewesen sein, die sich in Alltagsnöten in Paris, in Lagerhaft und Flucht und dann fast drei Jahrzehnte in New York bewährte. Die Autorin bringt Zeugnisse dieser Liebe, zeigt, was beide zu wissenschaftlichem und politischen Handeln antrieb, ferner, wie sehr sich Hannahs virtuose Sprache und Heinrichs pädagogisches Talent ergänzten. Wie intensiv beider Freundschaften zu anderen sein konnte, zeigt die Autorin an Beispielen wie Karl Jaspers, Walter Benjamin und Hermann Broch. Sehr viel subtiler als bei Meyer wird das Eichmannbuch analysiert. Anders als bei ihm sind hier Empathie und Nüchternheit überzeugend verbunden.
Es ist von glücklicher Symbolik, dass in Jaspers’ Geburtshaus in Oldenburg gegenwärtig ein Hannah-Ahrendt-Archiv untergebracht wird (es sind Kopien, die Originale bewahrt die Library of Congress in Washington). Der dort lehrende Historiker Matthias Bormuth hat in einem kleinen Bändchen die geistige Situation nach 1945 geschildert, als Arendt und Jaspers wieder in Kontakt kamen und sofort publizistische Pläne hatten. Gertrud und Karl Jaspers, sie war Jüdin, waren 1945 um Haaresbreite einer Deportation entronnen, jetzt stürzte er sich trotz Krankheit und Alter geradezu mit Feuereifer in die Reorganisation der Heidelberger Universität.
Beide wie auch Hannah Arendt sind skeptisch über Schuldbewusstsein und Reformwillen der Deutschen. Wie Bormuth zeigt, ist es ein Dauerthema zwischen ihnen. Die Übereinstimmung im Denken hält die Jahrzehnte bis zu Jaspers Tod 1969, ja intensiviert sich noch, als nach Eichmann in Jerusalem selbst engste Freunde die streitbare Denkerin in New York verlassen. Bormuths Buch zeigt eine berührende menschliche und geistige Freundschaft zwischen Jaspers und seiner einstigen Schülerin, die nach 1945 nicht wieder nach Deutschland zurückgekehrt ist und doch geistig bis an ihr Lebensende hier beheimatet war.
Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biografie. Piper, München 2023 522 S., 28 €.
Barbara von Bechtolsheim: Hannah Arendt und Heinrich Blücher. Biografie eines Paares. Insel, Berlin 2023, 280 S., 25 €.
Matthias Bormuth: Die geistige Situation nach 1945 – Karl Jaspers und Hannah Arendt. Wallstein, Göttingen 2023, 144 S., 20 € .
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