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In Zeiten von Krisen und strukturellem Wandel benötigen wir einen finanzpolitischen Neustart Einen Gang höher schalten

Die deutsche Wirtschaft steht an einem Wendepunkt, der ihre ökonomische, gesellschaftliche und politische Zukunft maßgeblich mitbeeinflussen wird. In den letzten Jahren hat eine Reihe von Krisen, darunter die Coronakrise, der Ukrainekrieg und die anhaltenden Herausforderungen des Klimawandels die Grenzen der aktuellen finanzpolitischen Strukturen aufgezeigt. Der vorherrschende Konsens, dass strikte fiskalische Regeln wie die Schuldenbremse unabdingbar für die finanzielle Stabilität sind, wird zunehmend hinterfragt.

»Mit jedem Jahr wird deutlicher, dass die Investitionsrückstände ein Risiko für den Standort Deutschland darstellen.«

Einer der Hauptkritikpunkte an der Schuldenbremse ist, dass sie notwendige Investitionen in wichtige Bereiche wie Bildung, Infrastruktur und Klimaschutz behindert. Angesichts einer Anreizstruktur, bei der Investitionen erst mit der Zeit wirksam werden, die Politik jedoch relativ kurzfristigen Wahlzyklen unterliegt, ist es politökonomisch nicht überraschend, dass Deutschland sich in Europa am Tabellenende der öffentlichen Investitionen wiederfindet. Mit jedem Jahr wird allerdings zunehmend deutlicher, dass die Investitionsrückstände ein Risiko für den Standort darstellen.

Investitionen sind nicht nur dringend erforderlich, um aktuelle Bedarfe zu decken, sondern auch, um das Land auf zukünftige Herausforderungen vorzube­reiten. Eine Anpassung der Schuldenbremse oder sogar eine partielle Aufhebung für bestimmte Investitionen, wie es die Goldene Regel vorschlägt, könnte hier Abhilfe schaffen. Damit wird die Idee bezeichnet, dass Investitionen, die auch künftigen Generationen zugutekommen, nicht unter die strikten Vorgaben der Schuldenbremse fallen sollen und über Kreditfinanzierung abgewickelt werden könnten. Konsumtive Ausgaben hingegen bleiben auf die laufenden Einnahmen beschränkt.

Die jüngsten wirtschaftlichen Daten sprechen eine klare Sprache. Trotz eines stabilen Arbeitsmarktes und einer robusten Exportwirtschaft stagniert das Bruttoinlandsprodukt. Zusätzlich fordern demografische Veränderungen und eine alternde Bevölkerung das soziale Sicherungssystem und die öffentlichen Finanzen heraus. Die geschätzte Investitionslücke, die sich über Jahrzehnte aufgebaut hat, beträgt allein auf kommunaler Ebene 166 Milliarden Euro. Wir sehen marode Schulen, eine bröckelnde Infrastruktur und eine unzureichende Ausstattung des Gesundheitssystems. Der Mangel an moderner digitaler Infrastruktur behindert zudem die wirtschaftliche Entwicklung und Innovation. Allein bis 2030 schätzt man konservativ einen Mehrbedarf bei öffentlichen Investitionen von rund 600 Milliarden Euro.

Neue Gegebenheiten brauchen neue Instrumente

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, benötigt Deutschland eine finanzpolitische Strategie, die nicht nur kurzfristige, sondern auch langfristige Ziele verfolgt. Die Implementierung einer Goldenen Regel könnte eine solche sein. Durch die Entkopplung notwendiger Investitionen von der Begrenzung durch die Schuldenbremse könnten langfristige und nachhaltige Projekte finanziert werden, die das Land dringend benötigt.

»Eine Frage der sozialen und der Generationengerechtigkeit.«

Diese Diskussion ist nicht nur eine Frage der Wirtschaftspolitik, sondern auch eine der sozialen und der Generationengerechtigkeit. Ein Wechsel zu einer investitionsorientierten Finanzpolitik würde nicht nur die kurzfristigen wirtschaftlichen Aussichten verbessern, sondern auch sicherstellen, dass künftige Generationen in einem modernen, resilienten und gerechten Deutschland leben können. Und genau das hat uns auch das Bundesverfassungsgericht mit seinem Klimabeschluss vom April 2021 ins Stammbuch geschrieben, wenn es feststellt, dass der politische Prozess »zugunsten ökologischer Belange (...) mit Blick auf die künftigen Generationen« gebunden ist. Es ist an der Zeit, dass Deutschland seine finanzpolitischen Weichen neu stellt, um den Herausforderungen von morgen gewachsen zu sein.

Die Spielräume für einen solchen Kurswechsel müssen noch geschaffen werden. Allerdings stehen die letzten Verfechter des derzeitigen Modells der Schuldenbremse zunehmend isoliert da.

Die Mehrheit der deutschen Ökonominnen und Ökonomen spricht sich für Reformen aus, ebenso wie sämtliche internationale Institutionen, vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bis zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die derzeitigen politischen Widerstände scheinen daher wahltaktischer Natur zu sein; aus ökonomischer Sicht jedenfalls sind sie unverantwortlich.

Aus alten Fehlern lernen

Auf unserem Weg in die Zukunft sollten wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir haben uns 2009 eine Regel gesetzt, die schlicht falsche Anreize gesetzt hat. Was gut gemeint und vom Prinzip her richtig war – nämlich auf nachhaltig tragfähige Staatsfinanzen zu setzen – darf nicht zulasten der wirtschaftlichen Entwicklung gehen. Genau dies aber ist in Deutschland geschehen.

Aus Sorge vor einer finanziellen Überbelastung künftiger Generationen durch zu hohe Schulden haben wir viele andere, mindestens genauso relevante Parameter außer Acht gelassen. Wir haben ignoriert, dass entstehenden Schulden Vermögenswerte in gleicher Höhe gegenüberstehen und späteres Nachholen im Zweifel teurer wird. Wir bildeten nicht ab, dass bei Investitionen, von denen künftige Generationen profitieren, auch deren finanzielle Beteiligung daran in der Gegenwart ökonomisch sinnvoll (und gerecht) ist.

Und schließlich waren diejenigen Fehlanreize nicht einkalkuliert, die mit einer harten Schuldenbremse gesetzt werden, wenn die kurzfristigen Wahlperioden im Kontrast zu den verzögerten Vorteilen von Investitionen stehen. Im Sparzwang ist es das Einfachste, bei Investitionen zu kürzen, deren Nutzen im Gegensatz zu konsumtiven Ausgaben typischerweise erst später spürbar wird. Da Investitionen zudem zu direkt spürbaren Unannehmlichkeiten führen können (denken wir nur an Baustellen auf der Autobahn), kann das Streichen von Projekten durchaus verlockend sein, um der Wählerschaft kurzfristige Unannehmlichkeiten zu ersparen.

»Investitionen können leichter zurückgestellt, ganz gestrichen oder gar nicht erst in der Planung aufgestellt werden.«

Eine ähnliche Logik, wenn auch mit anderen Vorzeichen, kann sich bei konsumtiven Ausgaben zeigen, die ihre Wirkung sofort oder mit minimaler Verzögerung entfalten. Die Debatte um Kürzungen des Elterngeldes oder der Steuerbegünstigung beim Agrardiesel lieferten der Öffentlichkeit den eindrucksvollen Beleg, wie direkt und welch wuchtiger Widerstand sich gegen ein Regierungshandeln in der Wählerschaft regen kann. Daneben gibt es einen praktischen Grund zum Erhalt konsumtiver Ausgaben: Viele nicht-investive Ausgaben, wie Renten oder bestimmte umweltrelevante Subventionen (wie die Befreiung internationaler Flüge von der Kerosinsteuer), sind rechtlich festgeschrieben und schwer zu kürzen. Investitionen hingegen sind in der Regel nicht derart geschützt oder rechtlich bindend gefordert. Sie können daher leichter zurückgestellt, ganz gestrichen oder gar nicht erst in der Planung aufgestellt werden.

Nach alledem ist es nicht verwunderlich, dass in Deutschland die Investitionsrate, insbesondere in öffentliche Infrastruktur und Bildung, unzureichend war, um den modernen Anforderungen einer fortschrittlichen Volkswirtschaft gerecht zu werden. Dies hat direkte Auswirkungen auf die tägliche Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger und die Attraktivität Deutschlands als Investitionsstandort.

Weichenstellung für die Zukunft

Das beschriebene Denken in kurzen Zyklen gilt auch in Rezessionen, weshalb wir mit dem gegenwärtigen Rahmen riskieren, durch kurzfristige Krisen langfristige Schäden an unserer Wirtschaft zu hinterlassen. Diese Anreizstruktur muss gebrochen werden, um die gebotenen Investitionen für eine zukunftsfähige und im Jahr 2045 eine klimaneutrale Wirtschaft stemmen zu können.

Die beste Lösung dafür ist die Goldene Regel, also öffentliche Nettoinvestitionen, die die Zukunftsfähigkeit des Landes stärken, von den Restriktionen der Schuldenbremse auszunehmen. Durch diese Anpassung könnten Bundes- und Landesregierungen die nötigen Spielräume erhalten, um in langfristige Projekte zu investieren, ohne dabei die finanzielle Stabilität des Landes zu gefährden.

Naturgemäß werden sich über einen solchen Weg Abgrenzungsprobleme ergeben, denn der Investitionsbegriff ist durchaus fluide. Die derzeitige Definition beschränkt sich zumeist auf Bruttoanlageinvestitionen, die in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung »den Wert der Anlagen [umfassen], die von inländischen Wirtschaftseinheiten erworben werden, um sie länger als ein Jahr im Produktionsprozess einzusetzen«. Doch es ist klar, dass dies zu kurz greift. Bildungsausgaben etwa würden nicht als Investition verbucht, sondern nach weit überwiegender Auffassung dem konsumtiven Bereich zugeordnet. Auch Investitionen in die Sicherheit würden nur begrenzt erfasst.

Die Abgrenzungsprobleme sind allerdings nichts, was uns daran hindern sollte, diesen richtigen Weg zu gehen. Gleiches gilt in Bezug auf den vorgetragenen Einwand der Befürchtung einer Vernachlässigung von Instandhaltung und nicht-investiven Bereichen gegenüber dem Neubau. Oder für die Argumentation, dass Nettoinvestitionen schwer ermittelt werden können, Bruttoinvestitionen nicht immer den Kapitalstock erhöhen und daher Unklarheiten in der Abwicklung provoziert würden.

Nichts zwingt uns, von vornherein die perfekte Regel zu entwerfen. Im Gegenteil ist es (wie beim Setzen von Recht üblich) richtig, Grundsätze festzulegen und die Möglichkeit offenzuhalten, die Rahmenbedingungen nachträglich – auslegend oder klarstellend im Sinne der Zielerreichung – zu konkretisieren oder in der Ultima Ratio zu korrigieren, wenn es notwendig ist. Dass es den Neustart braucht, um in der Transformation einen Gang höher zu schalten, ist offensichtlich. Haben wir den Mut, diesen Schritt zu gehen. Und übersehen wir dabei gleichzeitig nicht, dass wir unseren Verstand komplett nutzen sollten, um für private Investitionen ein Anreizsystem zu schaffen und ein Klima des Aufbruchs, der Zuversicht und des Vertrauens in beständige Strukturen.

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