Die meisten der ab 1955 als Arbeitsmigranten eingewanderten Menschen kehrten zurück in ihre Herkunftsländer. Etwa 3,5 Millionen aus Italien, Griechenland, Spanien und der Türkei blieben, nicht zuletzt, weil die ökonomische und politische Situation in diesen Ländern instabil war.
»Wenn die Arbeit endet, endet das Leben«
Etwa 638.000 aus dieser Generation leben heute in Deutschland. Viele sterben beim Erreichen des Rentenalters, manche deutlich früher. »Wenn die Arbeit endet, endet das Leben« sagte mir mal ein junger Mann traurig nach einer Lesung. Auch sein Vater verstarb kurz nach dem Ende seines Erwerbslebens. »Danke, dass sie mir meine Geschichte zurückgegeben haben. Ich wusste nichts über sein Leben als Gastarbeiter, weil ich erst in den 90er Jahren geboren wurde« sagte er. Denn über ihre Erlebnisse schwiegen sie meist. Und wir Kinder konnten mit ihnen nicht über Rassismus sprechen, den sie und wir erlebten.
Den Begriff Gastarbeiter verwende ich hier historisch. Er machte die Menschen gleich. Eine Verallgemeinerung ihrer Lebensgeschichten und Erfahrungen würde dies reproduzieren. Dennoch erlaube ich mir an manchen Stellen genau dies zu tun, da bestimmte Erfahrungen in der Arbeitsmigration typisch und offenbar universell geteilt werden, wie mir der Austausch mit anderen Nachfahren in Europa, den USA und Kanada sowie Australien deutlich zeigt. Und zwar unabhängig von der geografischen Herkunft.
Ihre Geschichten und Anekdoten, die die Gastarbeiter selbst und ihre Nachfahren mir übermittelten, die ich in Interviews, bei Lesungen, in der Lehre und bei meiner Tätigkeit als Gerichtsdolmetscherin und Übersetzerin erfuhr, unterstützen diesen Eindruck ebenfalls.
Eines hatten alle Gastarbeiter gemein: harte Arbeit, schlechte Löhne, schwierige Arbeits- und Wohnverhältnisse, Rassismus, Sehnsucht, Einsamkeit, das Gefühl der Verunsicherung, Entwurzelung und Zerrissenheit. Dennoch lebten sie eine Vielfalt an Lebensmodellen. Und tun es jetzt im Alter ebenfalls. Der Begriff Pendelmigration bezieht sich auf jene, die in beiden Ländern leben und hin und herfahren. Das tun sie meist, um sowohl bei den Kindern und Enkelkindern hier in Deutschland sein zu können, als auch die familiären Beziehungen im Herkunftsland zu pflegen. Manche kehren ganz zurück.
Zu den Gastarbeitern gehörten auch 700.000 sogenannte Kofferkinder, deren erschütterndes Schicksal erst die Betroffenen selbst seit wenigen Jahren sichtbar machen. Dies waren Kinder, die von den in Deutschland arbeitenden Eltern getrennt in den Herkunftsländern bei der Familie aufwuchsen. Sie wurden später nach Deutschland geholt. Mit fatalen traumatisierenden Folgen. Meine Eltern ersparten uns dies, weil meine Mutter sich um uns kümmerte und mein Vater in drei Schichten in einer Chemiefabrik arbeitete.
»Bloß nicht auffallen. Unsichtbar im Leben, unsichtbar im Tod.«
Die erste Generation verfügt über niedrigere Renten und ist damit einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt, gleichzeitig kann sie auf intergenerationale Unterstützung zurückgreifen. Gesundheitsleistungen sind nicht auf die Diversität der BRD angepasst. Angehörige der ersten Generation nutzen diese Dienstleistung zudem nur unzureichend. Mein Vater stürzte einmal im Treppenhaus. Statt aber den Krankenwagen zu rufen, schleppte er sich hoch in die Wohnung und erst Tage später rückte er mit der Sprache heraus. Warum der Aufwand? Weil wir seit 40 Jahren in die Kassen einzahlen, wollte ich brüllen, und du wahrscheinlich nichts davon haben wirst. Bloß nicht auffallen. Unsichtbar im Leben, unsichtbar im Tod, dachte ich bitter. Über diese Unsichtbarkeit und über die mangelnde Anerkennung und Erinnerungskultur habe ich ausführlich geschrieben, sowie über unsere verschiedenen Erfahrungswelten und Biografien.
Mangelnde Anerkennung
Ich bewundere sie für ihren Mut und ihre Stärke. Disziplin, Leistungswille und ihre Leidensfähigkeit, all das ist sicher auf uns in der nächsten Generation übergangen. Ich sah meine Eltern selten beim Ausruhen. Manchmal kam ich in das Wohnzimmer, wo ich meinen Vater nach einer langen Schicht wiedersah, eingeschlafen in seinen Sachen auf dem Sofa. Schichtarbeit verträgt sich nicht mit Freizeit und Familienleben. Oder mit Gesundheit.
Immer weiterarbeiten. Bis zum Umfallen. So ist mein Vater gestorben und so ist nun auch mein Onkel gestorben. Mit 62 Jahren. Dieses Arbeiten, dieser Arbeiterstolz, der gegen die geistlose Behauptung vom faulen Ausländer wie ein Schild gehalten wurde, er hat niemanden von uns vor Rassismus geschützt und auch nicht diese Gesellschaft vor dem Abdriften nach rechts. Die versprochene Anerkennung brachte sie ebenfalls nicht. Nicht ihnen, nicht uns.
Ihr müsst euch doch nicht als Opfer sehen, sagte mir jemand. Was wäre denn so schlimm daran, dass man ein Opfer als solches anerkannte? Viele haben es nicht nur zu Wohlstand, sondern zu Reichtum gebracht. Doch diese Erfolgsgeschichten sind ohne die Schatten nicht denkbar. Hätten unsere Eltern nicht Mühsal, Rassismus, Entbehrung und Heimatverlust in Kauf genommen und alles ihrem Ziel für ein besseres Leben untergeordnet, wäre das möglicherweise nicht eingetroffen. Ich säße nicht hier als Frau, Schriftstellerin, Künstlerin, als Wissenschaftlerin. Ein Opfer anzuerkennen hätte Konsequenzen.
»Verlusterfahrungen wollen geteilt, müssen gehört und sichtbar gemacht werden.«
Lästig, diese Heulerei und Klage. Verlusterfahrungen wollen aber geteilt werden und müssen gehört und sichtbar gemacht werden. Vielleicht ist es wie bei den Ostdeutschen, deren Verlusterfahrung die westdeutsche Gesellschaft und Politik ebenso nicht sehen will. Mit gefährlichen Folgen, denn sowohl unter Migranten als auch unter der ostdeutschen Bevölkerung erreicht die AfD überwältigend viele, weil sie genau auf diese Verlusterfahrung setzt. Dieses Gefühl des Verlustes, diese Klage, sie zu hören, sie anzuerkennen, sie zuzulassen, ist Teil von Erinnerungsarbeit, ist Voraussetzung für so Vieles, das die Gesellschaft vom Auseinanderdriften abhält, wie etwa Teilhabe und Sichtbarkeit marginalisierter Gruppen.
Auf der Suche nach einem Platz im Leben jagt ein Erfolg den anderen, eine Aufgabe folgt der nächsten. Die Eltern kamen nie zur Ruhe. Und wir auch nicht. Droht uns, droht mir dieses Schicksal? Arbeiten bis zum Umfallen, Anerkennung gegen Leistung? Ich beendete im vergangenen Jahr meine akademische Karriere, die immer mehr von mir abverlangte. Kurz vor dem Ziel habe ich zum ersten Mal in meinem Leben aufgegeben, Leistung verweigert. Breaking the cycle. Überleben, das kann ich gut, das habe ich von meinen Eltern gelernt. So wie arbeiten. Aber ich weiß immer noch nicht so genau, wie man sich ausruht, wie man das Leben genießt. Ruhe, das trat in ihren Leben erst mit dem Tod ein. Dieses intergenerationelle Trauma habe ich durchbrochen. Ich hoffe, für unsere Nachfahren, endgültig.
»Begleiterscheinungen«
Doch ich sehe mit welcher Strebsamkeit Kinder und Enkelkinder von Arbeitsmigranten immer noch bis an den Rand ihrer Kräfte, und darüber hinaus, Leistung erbringen. Ohne gesehen zu werden. Burnout, Depressionen, Angststörungen und ein geringes Selbstwertgefühl sind die »Begleiterscheinungen«, über die wir Nachfahren nun endlich offen sprechen.
Unsere Eltern und Großeltern hatten den Mut, mit wenig Ressourcen in ein fremdes Land zu gehen und dort, wie man in Türkisch sagt, ihr Brot dem nackten Fels abzuringen. Ihre Spuren finden sich überall in unserem Leben. Sie hatten Witz, verhunzten so viele deutsche Wörter, dass sie jetzt zum Familienwortschatz gehören, wie etwa Schwagen für Schwein oder Aschelocke für Arschloch. Nahmen Wörter mit in die Türkei, die sie da unbefangen verwendeten und wo nun in der Familie gleich verstanden wird, wenn vom Kella gesprochen wird. Sätze, die nicht nur mein Vater, in dem ihm eigenen Satzbau sagte, wie Warum diese? Hinter alle Fragen und Sätzen ein diese hinterherzuschieben, eine Eigenart des Türkischen, verwende ich immer noch aus Jux. Jedem dürfte ein Interview von TV Total bekannt sein, welches durch eine türkische Teyze mit den legendären Worten: Was machen Sachen? gesprengt wurde und jetzt zum Slang gehört. Eine direkte Übersetzung aus dem Türkischen. Selbst ein Wissenschaftspodcast benannte sich danach.
»Sie hatten nicht nur Mut, sondern Wagemut. Sie haben sich nicht niederringen lassen.«
Sie hatten nicht nur Mut, sondern, wie ich finde, Wagemut. In unserem Alter hatten sie bereits erwachsene Kinder, gearbeitet seit sie stehen konnten, sich selbständig gemacht, geschäftliche Pleiten und Neuanfänge durchlebt. Sie haben sich nicht niederringen lassen. Vor ihnen verneigen ich mich.
Zeuge des Lebens der Gastarbeitereltern
Trotz unserer verschiedenen Lebenswelten waren wir eine Zeit lang Zeuge des Lebens unserer Gastarbeitereltern. Obwohl unsere Lebenserfahrungen in jeder Hinsicht anders als die ihre ist, ist unsere Forderung nach Erinnerung und Anerkennung dieser Generation immer auch eine Forderung für uns und unseren Platz in dieser Gesellschaft. Ein ehemaliger Gastarbeiter, Herr Örlü, sagte mir im Interview einmal, er sei heute wunschlos glücklich, aber »Wir wollen nichts geschenkt haben. Wir wünschen uns Respekt. Das ist alles.«
Diesen Text zu schreiben hat mich viel gekostet. Wieder ging es nicht ohne Tränen, nicht ohne Trauer, denn der Tod ließ noch ein Störfeuer ab und stellte sich meinem Schreibvorhaben quer. Während ich nachdachte über das Leben, die Arbeit, und den Platz der Gastarbeiter und ihrer Nachfahren in dieser Gesellschaft, starb mein Onkel.
Ich danke an dieser Stelle der Redaktion für ihre Geduld und meinem westdeutschen Mann, dem Germanisten, der zu meinen ersten Entwürfen bemängelte, es sei doch recht viel Klage darin. Die, wie ich meine, ich den Deutschen zumuten möchte.
Kommentare (1)
Eylem
01.07.2025 - 08:40 Uhrwieder einmal hat du uns mit deinen Worten und deinem Schreibstil emotional mitfühlen lassen. Ich bin stolz darauf, ein Gastarbeiterkind zu sein. Und stolz drauf, dass du mit deiner Leidenschaft zum Schreiben, mich daran erinnert hast, wie dankbar ich für die wertvolle Arbeit meiner Eltern bin. Und dass sie uns, trotz viel Arbeit und der Herausforderung, in einem nicht „gewöhnlichen“ rassistischen Umfelds zu Menschen erzogen haben, die mit Werten und Ethik in einer „fremden“ Gesellschaft etwas großartiges Bewegen dürfen.
Vielen Dank. Du bist einfach toll und großartig!