Wenn sich Konflikte verschärfen und das politische Klima rauer wird, schlägt die Stunde der Rechtspopulisten. Sie verachten nicht nur die Eliten in Staat und Parteien, sondern – wie es in deren Jargon heißt – das ganze »marode System« samt »Lügenpresse«. Das geballte Ressentiment, das daraus spricht, der militante Knechtssinn, auf den diese Leute so stolz sind, die ganze Mischung aus Wut und Unterwürfigkeit stellt unsere »Schönwetterdemokratie« auf eine erste harte Bewährungsprobe: Was hält eine Gesellschaft, die in verschiedene Interessen und Lebenswelten auseinanderdriftet, überhaupt noch zusammen? Eine Gesellschaft, die tief gespalten ist: in Arme und Reiche, in Einheimische und Fremde, in Rechte und Linke. Gibt es einen Stoff, der all diese Risse kitten könnte?
Das Programm der grundgesetzlichen Freiheitsordnung lässt sich, auf eine kurze Formel gebracht, als individuelle Selbstentwicklung und kollektive Selbstbestimmung charakterisieren. Die persönliche Entfaltung des Einzelnen entwickelt sich im Schutz bürgerlicher Freiheitsrechte; die kollektive Selbstbestimmung der ganzen politischen Einheit vollzieht sich als Prozess der Demokratie. Der demokratische Verfassungsstaat kennt keinen falschen Gebrauch der verbrieften Freiheit. Es gibt zwar verschiedene Schranken, doch prinzipiell ist jeder und jede Einzelne so frei, den Grundrechten einen individuellen Sinn zu geben. Der eigene Lebensentwurf steht unter keinem Gemeinschaftsvorbehalt; und ein weltanschaulich wie religiös neutraler Staat ist kein Tugendwächter
Entsprechendes gilt für die kollektive Ebene. Das Mehrheitsprinzip gehorcht dem Gesetz der Zahl, es kennt keine falschen oder richtigen Ergebnisse. Demokratie ist Herrschaft auf Zeit, und die Gesetzgebung des Parlaments folgt den Konjunkturen wechselnder Mehrheiten. Weil nun aber Minderheiten in diesem System nicht nur toleriert, sondern ausdrücklich geschützt werden, können sie vielleicht schon morgen die Mehrheit stellen. Damit löst die Ordnung der Freiheit eine paradoxe Aufgabe: Sie konstituiert eine feste Struktur, die aber zugleich den gesellschaftlichen Wandel ermöglicht. Der Verfassungsrechtler Horst Dreier hat in diesem Zusammenhang die Demokratie als »riskante Ordnung« bezeichnet.* [* Vgl. Horst Dreier: Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung. In: Ders.: Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates. Mohr Siebeck, Tübingen 2014; außerdem: Cass R. Sunstein: Why Societies Need Dissent. Harvard University Press, Cambridge 2003 und Norbert Lammert (Hg.): Verfassung-Patriotismus-Leitkultur. Hoffmann und Campe, Hamburg 2006.]
Das Grundgesetz riskiert eine Freiheit, die auf Identifikationspflichten verzichtet. Niemand muss sich zu den vermeintlichen oder tatsächlichen Werten der Verfassung bekennen. Aber, so lautet ein naheliegender Einwand, müssen wir nicht alle auf dem Boden des Grundgesetzes stehen? Wer so fragt, glaubt, ein gesinnungsfrohes »Ja« verstünde sich von selbst – vergisst aber, dass dieses Grundgesetz auch die Freiheit umfasst, über seine Änderung zu streiten. In den Worten des Verfassungsgerichts: »Die Bürger sind (…) frei, grundlegende Wertungen der Verfassung in Frage zu stellen, solange sie dadurch Rechtsgüter anderer nicht gefährden.«
Natürlich kommen im Grundgesetz von 1949 bestimmte »Werte« zum Ausdruck; niemand aber muss diese zu seinem persönlichen Katechismus machen. Der Verfassungsrechtler Dreier hat es so auf den Punkt gebracht: »Grundrechtliche Freiheit ist Freiheit schlechthin, Freiheit subjektiven Beliebens.« Und er folgert daraus: »Grundrechte sind Stützpfeiler der Individualität und somit ihrem Wesen nach Faktoren und Garanten (einer) gesamtgesellschaftliche(n) Pluralität«
Damit aber wird Pluralismus zur Signatur einer offenen und toleranten Gesellschaft. Ihre öffentliche Sphäre ist durch große Vielfalt und permanente Konflikte geprägt. Die Konkurrenz der politischen Parteien, der Meinungskampf um das bessere Argument, der Streit über Gott und die Welt – all das findet niemals ein Ende. Und soll es auch gar nicht! »Die freie Diskussion«, sagt das Verfassungsgericht, »ist das eigentliche Fundament der freiheitlichen demokratischen Gesellschaft«. Kurz und gut: Offene Gesellschaften brauchen Widerspruch und Kritik, sie sind auf neue Ideen angewiesen. Und deshalb kommt es auf einen wertebezogenen »Grundkonsens«, den man hierzulande einander abverlangt, gar nicht an; nüchtern betrachtet bleibt nur eins: die Pflicht zum formalen Rechtsgehorsam
Dieses Demokratieverständnis hat weitreichende Folgen. Nehmen wir nur die beliebte Frage, ob der Islam »mit dem Grundgesetz vereinbar« sei. Ist er das oder ist er das nicht? Es kommt nicht darauf an, denn die Frage ist falsch gestellt. Oder muss sich etwa die Personalpolitik der katholischen Kirche, die vom Priesteramt aufwärts Frauen rigoros ausschließt, am Diskriminierungsverbot der Verfassung messen lassen? Die Religionsfreiheit, die das Grundgesetz garantiert, hört nicht da auf, wo gewisse Glaubensinhalte seinen Prinzipien widersprechen. Deshalb steht es jedem frommen Mann frei, die Bevormundung seiner Frau als Gottesdienst zu verbrämen. Sollte er aber in der ehelichen Wohnung gewalttätig werden, wird er zum Straftäter: Gläubige wie Ungläubige schulden dem geltenden Recht Respekt. Keine Religion und keine Weltanschauung dispensiert vom Rechtsgehorsam
Wir können nun die eingangs gestellte Frage präziser formulieren: Was hält Gesellschaften zusammen, die offen und pluralistisch sind, eben weil ihr Grundprinzip die individuelle Selbstentwicklung und kollektive Selbstbestimmung ist? So gefragt wird klar, dass das Problem des Zusammenhalts im Kern systembedingt ist. Man mag also eine »pluralistische Zerrissenheit« beklagen, sollte aber nicht der Versuchung erliegen, gesellschaftliche Vielfalt auszutrocknen. Diese muss vielmehr kultiviert werden, denn sie macht Wesen und Wert der Demokratie aus
Wo aber soll dann bei so viel Eigensinn der Gemeinsinn herkommen und wo bei so viel Wandel das Kontinuitätsstiftende? Aus welchem Stoff könnte der magische Kitt sein, der das Disparate zusammenhält? Die üblichen Schlagworte dafür heißen Vaterland und Nation, Christentum und Abendland sowie Verfassungspatriotismus, der die Werte des Grundgesetzes stark macht
Die Einwände gegen alle drei Modelle wiegen mehr oder weniger schwer und lassen ein jedes fragwürdig erscheinen. Einige Stichworte mögen genügen. Nach der nationalsozialistischen Herrschaft ist jede Art von ungebrochenem Nationalstolz nachhaltig diskreditiert; Deutschland bleibt ein extrem schwieriges Vaterland. Ebenso wenig kann das einst dominante Christentum Stabilität und Sinn stiften; die Kirchen sind bis heute einflussreich, lernen aber bereits, mit anderen Religionen wie dem Islam zu koexistieren. Bliebe also in puncto Zusammenhalt der Verfassungspatriotismus. Dieses von Jürgen Habermas vertretene Konzept ist zwar aufgeklärt und weltoffen, teilt aber die Schwäche aller anderen Modelle: Der Verfassungspatriotismus verpflichtet, wenn auch sanft und werbend, auf die Identifikation mit bestimmten Werten – und ist deswegen mit einem liberalen Freiheitsverständnis kaum vereinbar
Produktive Streitkultur
Was aber bliebe dann überhaupt noch als das Einheitsstiftende? Die skizzierten Modelle, so unterschiedlich sie auch sind, haben eines gemeinsam: die Fixierung auf substanzielle Übereinstimmungen. Aber kann man heute auf der Suche nach unverrückbaren Wahrheiten wirklich noch fündig werden? Im endlosen Streit um ewige Werte wird eine Alternative meist übersehen: das Konfliktmodell der robusten Diskussion. »Daher sollte man vielleicht«, erklärt der Verfassungsrechtler Dreier, »weniger (…) nach Einheit und Konsens suchen, sondern Uneinigkeit und Dissens selbst zum Ausgangspunkt (seiner) Überlegungen machen. Dahinter steckt die Vermutung«, so Dreier, »dass der (…) nach bestimmten Regeln und in bestimmten Formen ausgetragene Konflikt einen starken Integrationsfaktor bilden kann«
Wer nun einwendet, Dissens sei ein ziemlich brüchiger Kitt, dem sei zugestanden, dass die Demokratie nicht voraussetzungslos funktioniert, dass sie keine freitragende Konstruktion ist. Demokratische Rechtstheoretiker wie Hans Kelsen haben ein Mindestmaß an Homogenität wie selbstverständlich vorausgesetzt. Allerdings nicht die Einheitlichkeit von Gesinnung oder Herkunft, nicht die fraglose Tradition eines »Abendlandes« oder einer »Leitkultur«, sondern die einer gemeinsamen Sprache. Die freilich ist unabdingbar. Wer die Forderung, Sprachkenntnis müsse Bedingung von Integration und Einbürgerung sein, als Deutschtümelei abtut, hat von den faktischen Voraussetzungen funktionierender Demokratie nichts verstanden. Erst eine gemeinsame Sprache nämlich befähigt dazu, sich über Unterschiede verständigen zu können – und sich auf einen respektvollen Streit darüber einzulassen
In Deutschland wird »Streitkultur« gern mit Kaminplauderei verwechselt, dabei kann sie ziemlich ungemütlich werden. Höchste Zeit, ein robustes Konfliktverständnis zu entwickeln. Der friedliche Streit, offen für alle, verbindet miteinander. Er setzt nicht nur ungeahnte Integrationskräfte frei, sondern stimuliert zugleich weitreichende Reformen. Kontinuität und Wandel – eben das ist die paradoxe Aufgabe einer »Ordnung der Freiheit«. Sie allein ist imstande, die politische Einheit der Demokratie auf Vielfalt und Dissens zu gründen
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