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Jürgen Wertheimer sichtet die europäischen Kulturen Einheit und Vielfalt

Europa – was ist das? Ein geopolitisches Gebilde? Ein Wirtschaftsraum? Eine Wertegemeinschaft? Jürgen Wertheimer plädiert dafür, Europa zunächst ganz nüchtern als ein Geflecht aus Regionen und Peripherien zu sehen, »ein kulturelles Treibsandgebiet ohne Leitkultur«. Ein facettenreiches Geflecht aus Möglichkeiten und Ambivalenzen. Nicht »Werte« an sich beglaubigten das europäische System, sondern ein sehr spezieller Stil, mit Werten umzugehen.

Es ist ein großer Wurf, den der Autor da wagt. Auf über 500 Seiten durchmisst er die Geschichte der europäischen Kulturen. Schon die Gründungsmythen! Wertheimer erinnert daran, dass Europas Geschichte in Phönizien, irgendwo zwischen Syrien und Jordanien, begann. Dort entführte Zeus die schöne Europa, floh mit ihr nach Kreta und begründete die minoische Kultur. Eine elegante, unheroische und weibliche Kultur. Die Minoer schützten ihre Paläste nicht mit Umfassungsmauern, vermutlich, weil sie keine Kriege führten. Das minoische Experiment, schreibt Wertheimer, war eine ernsthafte Antwort auf die phönikischen Kriegsflotten.

Faszinierend, wie der Literaturwissenschaftler die antiken Epen (Ilias, Odyssee) und Dramen (Orestie, Antigone) neu liest und interpretiert: als mediale Verständigungsmaschinen, um Verhaltensnormen und Gefühle tauglich zu machen für die Polis. Die griechische Tragödie ist für Wertheimer der leidenschaftliche Versuch, sich aus den Zwängen archaischer Rituale und Rachemechanismen zu befreien. So riskiert das Theater den Blick in die menschlichen Abgründe. Wer das attische Theater mit den Kategorien des Edlen und Schönen verbinde, sei »bildungsblind«, spottet der Autor, stattdessen gelte es, ihr Subversions- und Provokationspotenzial zu erkennen.

Der Trojanische Krieg war noch nicht ideologiegeleitet. Griechen und Trojaner kämpften zwar verbissen gegeneinander, doch unter weitgehend gleichen Regeln. Anders bei den Kreuzzügen, zwei Jahrtausende später: Nun wird jeder Konflikt zum Kampf der Kulturen umgedeutet. Die eigene wird als die Kultur des Guten definiert, die es gegen die Un-Kulturen des Bösen zu verteidigen gilt: »Freilich verband sich diese Kanalisation der Kräfte und Emotionen gegen den ›äußeren Feind‹ auf das Trefflichste mit dem Versuch, die innere Zerrissenheit innerhalb der Kirche zu überwinden.«

Von wegen »christliches Abendland«! Allenfalls ein frommer Wunsch. Tatsächlich war diese Zeit von Feindbildern besessen. Kein Zufall, dass mit Hagen von Tronje im Nibelungenlied erstmals eine Figur auftaucht, die das verräterische Böse im eigenen Lager, den Zwiespalt zwischen Verrat und Treue, Loyalität und Skrupellosigkeit verkörpert. Unter der Leitidee des christlichen Glaubens koexistierten und belauerten sich unterschiedliche Systeme und Machtkonglomerate. Ihre Rivalitäten mündeten in den ersten größeren Dschihad der europäischen Geschichte. Auf keinem anderen Kontinent treffen fanatischer Glaube, tiefe Frömmigkeit und Spiritualität auf der einen, Säkularismus, Agnostizismus und Atheismus auf der anderen Seite so unmittelbar aufeinander. Am Ende des zweiten Jahrtausends wird das Gespenst des religiösen Fanatismus wiederauferstehen: »Ganz gleich, was man von religiösen Systemen denken mag, es ist nicht davon auszugehen, dass sie (…) zu größerer Humanität geführt hätten. Nicht zu leugnen ist jedoch die Tatsache, dass sie zu beachtlichen Evolutionsschüben beigetragen haben.«

Die Renaissance, schlägt Wertheimer vor, sollten wir uns eher als Kontinuum vorstellen denn als Bruch. Der Einzug der Moderne weckte die Monster der Vergangenheit. Inquisition, Hexenverbrennung, Schismen, Folter, Autodafés seien eben keine mittelalterlichen Relikte gewesen, sondern Erscheinungen der Neuzeit. Utopie und Schafott waren die beiden Seiten einer Realität. Thomas Morus, Diplomat im Dienst Heinrichs VIII. und Verfasser der Schrift Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia wurde 1535 wegen angeblichen Hochverrats mit dem Schwert hingerichtet.

René Descartes Maxime »Ich denke, also bin ich« versteht Jürgen Wertheimer als »Ich denke, also bin ich« und damit als Kampfansage an Aristokraten und überhaupt an Herrschaft. Denn fortan besteht zumindest die Möglichkeit, Probleme mit Mitteln der menschlichen Vernunft zu lösen. Ohne Anleitung durch Autoritäten.

In vielen Debatten sind Entweder-oder-Fragen beliebt. Also beispielsweise: Ist Europa ein gewaltiger Gedächtnisspeicher oder ein Erinnerungsvakuum? Doch meistens lassen sich Anhaltspunkte finden für ein Sowohl-als-auch. Erinnern und Vergessen gehören zusammen. Die sichtbare Spitze und der Abgrund des Unsichtbaren. So verstanden könnten wir uns Europa als einen »gewaltigen Klang- und Resonanzraum« vorstellen, meint Wertheimer: »Das häufig beklagte Fehlen einer europäischen Narration ist ein Irrtum. Man sucht nur an der falschen Stelle, wenn man immer auf einen großen Mythos wartet. Dabei liegt die eigentliche ›Narration‹ Europas auf der Hand: Es ist dieses Palimpsest, das Geheimnis eines sich überlappenden, Impulse weiterleitenden vibrierenden Netzwerkes aus Ungleichzeitigkeiten, trügerischen Ähnlichkeiten und Vernetzungen, das diesen Kontinent ebenso verletzlich wie einzigartig macht.« Keineswegs nur im positiven Sinn. Nicht die Ächtung der Gewalt, sondern die Gewaltverherrlichung ist es, die uns Europäer prägt, meint der Autor. 2.000 Jahre Opferkult im Zeichen der antiken Heldenmythen oder des Kreuzes gingen nicht spurlos vorüber. Und immer siegten die Täter im Gedächtnis der Kultur. Vielleicht mit Ausnahme des blutigen 20. Jahrhunderts.

Nur Europa mutet sich den paradoxen Weg zu, autonome und höchst unterschiedliche Staaten auf der Basis eines Wirtschafts- und Wertesystems zusammenzufassen, schreibt Wertheimer. Ohne ein tragendes Zusammengehörigkeitsgefühl, ohne Doktrin und Gewaltmonopol. Ob das gut gehen kann? Die Chance, die wir als Europäer haben, liege in der Anerkennung der Tatsache, dass wir ein Territorium eigenwilliger Stämme und Nationen sind. Europa brauche keinen Leidens- und Opfermythos, keine großen Eroberungs- und Erfolgsgeschichten mehr. Was jedoch fehlt, bilanziert der Autor, ist ein Reflexionsraum, in dem länderübergreifend historische Erfahrungen – Siege und Niederlagen, Torheiten und Errungenschaften, die sich hier im Lauf der Jahrhunderte abspielten und immer noch abspielen – zusammengefasst werden könnten. Wertheimers neues Werk ist glänzend geschrieben, regt zum Nachdenken an und – noch viel mehr – zum Diskutieren.

Jürgen Wertheimer: Europa – eine Geschichte seiner Kulturen. Penguin, München 2020, 576 S., 26 €.

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