In den leidenschaftlichen Debatten über Religion und Politik, die seit mehr als 20 Jahren, besonders aber seit den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001, in der Öffentlichkeit vieler westlicher Länder geführt werden, lässt sich eine leichte Ermüdung einerseits, eine spannende Verschiebung der Problematik andererseits feststellen. Die Ermüdung ergibt sich daraus, dass die Argumente für und wider die sogenannte Säkularisierungsthese nun oft genug ausgetauscht wurden.
Vor allem aus historischen Untersuchungen hat sich immer deutlicher herausgeschält, dass wir uns Säkularisierung nicht einfach als Folge von wissenschaftlichem Fortschritt oder größerem Wohlstand erklären können. Um die beträchtlichen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern oder sogar Regionen ein und desselben Staates zu begreifen, müssen wir historisch auf die Haltungen von Kirchen und anderen religiösen Gemeinschaften zu den zentralen Fragen der jeweiligen Zeit blicken: die nationale Frage etwa, wo und wann es um die politische Unabhängigkeit bestimmter Gebiete oder Ethnien ging; die soziale Frage besonders in Zeiten großer neuer Klassenbildungen und Umschichtungen; die demokratische Frage, die Rechte der Individuen und die Fragen des religiösen Pluralismus etwa unter den Bedingungen starker Individualisierung oder neuer Migration. Weiterhin sind die in den großen religionspolitischen Konflikten entstandenen institutionellen Arrangements von Staat, Wirtschaft und Religionsgemeinschaften für Gegenwart und Zukunft von Religion zentral.
All die Wirkungen ökonomischer Prozesse, wissenschaftlicher oder kultureller Veränderungen auf Religion, die gerne zum Verständnis von Säkularisierung herangezogen werden, wirken nicht – so diese alternative Erklärung – ohne Vermittlung durch solche politischen Spannungsfelder auf die Menschen ein. Menschen gehen in der Regel nicht die Details der Glaubenslehren durch, um sich für oder gegen eine Religion zu entscheiden, sondern werden von ganzheitlichen Eindrücken geleitet, die für ihre Entscheidungen ausschlaggebend sind. Natürlich heißt das nicht, dass in Wirklichkeit alles nur Politik und deshalb Religion bloß die Verhüllung »materieller« Interessen sei. Aber Menschen können ihre spirituellen und religiösen Antriebe und Suchimpulse auf sehr verschiedenen Wegen verfolgen, und für eine Entscheidung pro oder contra sind meist auch politische Motive ausschlaggebend.
Hier liegt nun die spannende Verschiebung der Fragestellung in letzter Zeit. Wenn die Vorstellung, die Welt gehe insgesamt einer Zukunft ohne Religion entgegen, nicht länger glaubhaft erscheint, mögen manche Gläubige dies als tröstliche Botschaft empfinden. Anderen dagegen, vor allem Nichtgläubigen, wird dieselbe Aussicht Sorge bereiten. Beide Seiten aber werden fragen, was die Zukunft der Religion für die Zukunft der Demokratie bedeutet.
Auch unter den Gläubigen wird niemand der Religion als solcher ein demokratieförderndes Potenzial zusprechen – einzelnen Glaubensrichtungen vielleicht sehr wohl, aber gewiss nicht allen. Einer solchen pauschalen Behauptung von der Rolle der Religion in der Demokratie stünden in der Tat zu viele historische Beispiele entgegen.
Bedeutung der Religionen für die Zukunft der Freiheit
Und bei den Nichtgläubigen wird erst recht gefragt werden, ob es überhaupt unter den Religionen Ausnahmen gibt oder ob sie alle nur durch strikte institutionelle Einhegung an der Tendenz zur undemokratischen Dominanz über alle Staatsbürger gehindert werden können. Die drängende Frage ist dann nicht mehr, ob Religion noch Zukunft hat, sondern was die Religionen für die Zukunft der politischen Freiheit bedeuten.
Auch dafür gibt es eine einflussreiche Geschichtsdeutung, die wesentlich von Hegels Philosophie geprägt ist und eine entscheidende Rolle des Christentums beim Aufstieg moderner politischer Freiheit behauptet. Weder bei ihr und dem gesamten Kulturprotestantismus noch bei Marx und seinen Anhängern mit ihren Forderungen nach einer radikalen Diskontinuität zwischen der zu erreichenden utopischen politischen Freiheit und dem Christentum – bei keinem von diesen wird an die Gefahr einer Rücknahme der schon erreichten Freiheit, an die Möglichkeit eines Zusammenbruchs der erreichten politischen Freiheitsordnung gedacht.
Anders war die Lage in Frankreich, vielleicht wegen seiner häufigen radikalen politischen Umbrüche. Ich sehe sowohl das politische Denken Alexis de Tocquevilles wie das von Émile Durkheim als höchst sensibel für die Frage, ob aus freiheitlich-demokratischen Ordnungen heraus eigene Formen der Bedrohung dieser Ordnung und ihres Übergangs in neue Tyranneien denkbar seien. Dies ist eine Frage, die gerade in Deutschland nicht verdrängt werden sollte – in einem Land, in dem 1933 nicht nur die Demokratie der Weimarer Republik zusammenbrach, sondern sogar noch all das unterschritten wurde, was bereits vor 1918 an Rechtsstaatlichkeit errungen worden war. Wir sind in Deutschland daran gewöhnt, diesen katastrophalen Niedergang auf die Schwäche einer Demokratie ohne Demokraten, einer Republik ohne Republikaner zurückzuführen, aber das tut vielen Demokraten und Republikanern unrecht und reicht als Erklärung nicht aus.
Das ist der Punkt, an dem hier die Religionen oder säkulare Formen eines Wertekonsenses ins Spiel kommen. Tocqueville sprach von der Gläubigkeit, die nötig sei, um eine Ordnung politischer Freiheit auf Dauer zu gewährleisten, und der militante Laizist Émile Durkheim fragte nach den Möglichkeiten, die universale Menschenwürde – die »Sakralität« des Individuums oder der Person – nicht nur gedanklich zu durchdringen, sondern sie in den Institutionen des Staates sowie in kollektiven Praktiken umfassend als eine neue »religion de l’humanité« zu verankern. In den USA wurde diese Frage in den langen Jahren der Weltwirtschaftskrise verstärkt erörtert, und in der Bundesrepublik Deutschland haben seit den 60er Jahren einige Sätze des bedeutenden Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde den Charakter eines Leitmotivs in den entsprechenden öffentlichen Debatten angenommen.
Sie geben eigentlich keine Antwort auf die sich hier stellende Frage – und eine definitive Antwort auf sie kann es auch nicht geben. Für mich folgt hieraus, dass es entscheidend ist, das Problem zu erkennen: Die Institutionen des freiheitlich-demokratischen Staates sind nach Böckenförde nicht als solche und aus sich heraus stabil, sondern nur dann, wenn sich die Freiheit, die dieser Staat »seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz der einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert«. Das heißt aber, dass für die Bildung der Motive, die zur Stabilisierung staatlicher Institutionen nötig sind, größtmögliche Freiheit gegeben werden muss. »Rechtszwang« und »autoritatives Gebot« können, so Böckenförde weiter, dieses Ziel nicht erreichen. Damit wird aber nicht behauptet, dass diese keinerlei Rolle zu spielen hätten.
Wo sie aber, etwa aus Sicherheitsgründen, unvermeidlich sind, wird in Prozesse eingegriffen, aus denen dann auch andere als die beabsichtigten Wirkungen entstehen. Der Versuchung, mit staatlichen Mitteln Werte durchzusetzen, ist deshalb in der Regel zu widerstehen. Gefordert ist vielmehr der Einsatz in den intellektuellen, kulturellen, religiösen Foren und Gemeinschaften selbst – der Einsatz nicht »des Staates«, sondern der Vielzahl von Akteuren, die den Schutz der gemeinsamen Freiheit für wichtig erachten.
Das ist der Sinn von Regelungen, die in den Hochschulen die Freiheit von Forschung und Lehre garantieren, im Schulwesen autonome Träger wie die Kirchen zulassen oder den Religionsunterricht in deren Verantwortung, in kulturellen Institutionen oder in Rundfunk und Fernsehen öffentliche Finanzierung mit hoher gesellschaftlich regulierter Autonomie verbinden. Daraus folgen allerdings Verpflichtungen des Staates und der Bürger, den freien Austausch und den Meinungspluralismus auch gegen immer wieder aufkommende interne Homogenisierungsbestrebungen zu schützen. Ein Problem kann auch dort vorliegen, wo im politischen Meinungskampf bestimmte Gegner sogar dann, wenn es ihrem Selbstverständnis widerspricht, zu Nichtdemokraten erklärt und ausgegrenzt werden. Das haben in Deutschland in der Vergangenheit Linke und Grüne erfahren; heute betrifft es eher Konservative.
Die Demokratie kann eben von vielen Seiten gefährdet sein, von der staatlichen Macht, aber auch von den Bürgern selbst, von tatsächlichen Gegnern der Demokratie, aber auch von denen, die sich anmaßen, das zulässige Meinungsspektrum zu definieren. Sie ist nie garantiert und sollte deshalb auch nicht als unvermeidliches Ziel der Geschichte aufgefasst werden. Mit dieser These wird nicht einem geringeren Engagement für die Demokratie das Wort geredet, wohl aber einer skeptischen Distanz »zu missionarischem Eifer und einer Werteseligkeit, die die Wirklichkeit allzu leicht ausblendet und so das politisch Mögliche verfehlen lässt« (Heinrich Meier).
Heute wird der Zusammenhang christlicher Traditionen mit dem »Geist« des Grundgesetzes oft nicht »einladend«, sondern »ausgrenzend« vorgetragen; dies geschieht vor allem in der Islamfeindlichkeit der politischen Rechten. Wer diesen Zusammenhang einseitig behauptet, muss sich ohnehin fragen lassen, warum dann so viele nichtfreiheitliche politische Ordnungen ebenfalls eine christliche Rechtfertigung finden konnten – das reicht von der Anfälligkeit vieler Christen für Faschismus und Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert bis hin zu dem, was wohl allen Zeitgenossen als krassester Verstoß gegen die universale Menschenwürde erscheint, nämlich die Sklaverei, den Handel mit Menschen, ihren Einsatz ohne jede Selbstbestimmung über ihren Körper, das Zerreißen ihrer Familien, die Grausamkeit ihrer Bestrafung.
An dieser Stelle ist mir aber noch wichtiger als die schönfärberische Tendenz hinsichtlich der Geschichte des Christentums die in diesem Gedankengang steckende Ignoranz gegenüber nichtchristlichen Formen eines Menschheitsethos, religiösen und nichtreligiösen. Von einer ernsthaften Bereitschaft zur Öffnung gegenüber konfuzianischen, buddhistischen oder islamischen Traditionen kann dann meist keine Rede sein. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 erklärte die Menschenrechte gerade nicht zum Produkt einer bestimmten Kultur oder zur Ableitung aus einer bestimmten Religion. Hätte sie das getan, hätte sie deren Ablehnung durch andere erleichtert.
In der polnischen Verfassung werden in besonders geglückten Formulierungen Werte als leitend hervorgehoben, denen verschiedene Menschen aus verschiedenen religiösen oder nichtreligiösen Gründen zustimmen können. Für Deutschland ist und bleibt zudem eine Art negativer Sakralität konstitutiv: die emotional tief verankerte Einsicht, dass mit dem Holocaust ein schlechthin Böses verübt wurde und alles getan werden muss, um nie wieder solches in Deutschland oder von Deutschland aus geschehen zu lassen. Grundsätzlich also ist in dieser Ordnung willkommen, wer diese Grundorientierung teilt.
Weder Stütze noch Gefahr
Jede einfache Vorstellung vom Zusammenhang von Religion und Politik ist damit unmöglich. Es hilft weder, die Religion als Stütze der Demokratie noch sie als Gefahr für diese anzusehen. Noch nicht einmal für eine bestimmte Religion, das Christentum oder den Islam, sind solche pauschalen Aussagen möglich. In der Religion wie in der Politik haben wir es mit Menschen zu tun, Individuen und Kollektiven, Bewegungen und Institutionen. Diese sind nie nur religiös oder nur politisch. Sie sind häufig beides und vieles mehr, und sie müssen in ihrer Lebensführung selbsttätig integrieren, was immer wieder auseinanderzulaufen droht. Dabei kommt es unvermeidlich zu Konflikten und gefährlichen Eskalationen, aber ebenso zu beeindruckenden Versöhnungen und Lernprozessen.
Es gibt hier keinen archimedischen Punkt, von dem aus sich das Verhältnis definitiv bestimmen ließe, sondern nur die Beteiligung an Debatte und Kampf um das Selbstverständnis der Religionen und das Selbstverständnis der Demokratie. Demokratie erfordert dabei den Einsatz nicht nur für die eigenen politischen und religiösen (oder nichtreligiösen) Überzeugungen, sondern für die Freiheit der Andersdenkenden und Andersgläubigen.
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